Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es war ein langer, leidvoller Weg nach unten, aber inzwischen ist der einstige industrielle Gigant Boeing, der es fast zu einem Monopol in der Flugzeugherstellung geschafft hätte, weit unten angekommen. Im Internet kann man sehen, wie Räder und Türen von seinen Flugzeugen fallen.

Es ist lange her, da war die Boeing 747 die Verkörperung westlicher Modernität; zur Hochzeit des Kalten Kriegs war es ein Symbol für den Anbruch einer Zeit, in der Reisen per Flugzeug zum Alltag werden sollte. Und vielleicht, im Rückblick, der Gipfelpunkt in der Geschichte ihres Herstellers, kurz vor dem endgültigen Sieg über die US-Konkurrenz und noch vor dem Auftauchen des Erzrivalen Airbus.

Inzwischen beherrscht Boeing die Schlagzeilen eher mit Fehlleistungen, und das mit einer deutlich steigenden Tendenz – zuletzt fielen insbesondere ein beim Start verlorenes Rad und eine auf dem Flug verlorene Tür ins Auge. Beides übrigens im Zeitraum weniger Wochen. Beides auf Videos gebannt und im Internet verbreitet.

Das ist sozusagen die Dreingabe auf die Probleme, die Boeing seit der Einführung seines neuen Flugzeugs, der 737 MAX, im Jahr 2014 hat, das als Konkurrent des Airbus 320 gescheitert ist; unter anderem, weil mehrfach in Folge von Unglücken sämtliche Exemplare der Reihe nicht fliegen durften.

Die jüngsten Vorfälle schafften es sogar bis in die deutsche Tagesschau. Und es ist ein erstaunlicher Einblick in industrielle Schlamperei:

„Die Unfallermittlungsbehörde NTSB geht nach ersten Untersuchungen davon aus, dass vier Befestigungsbolzen an dem Rumpfteil gänzlich fehlten. Es gebe Hinweise darauf, dass das Fragment immer weiter hochgerutscht sei, bis es dann beim 154. Flug herausbrach, sagte NTSB-Chefin Jennifer Homendy vor wenigen Tagen in einer Anhörung im US-Senat.“

Nun ist die Niederlage von Boeing gegen Airbus gewissermaßen der Schlussakt eines industriellen Konzentrationsprozesses, der im Verlauf der Jahrzehnte gewissermaßen im jeweiligen Einzugsbereich beider Konzerne sämtliche andere Konkurrenten auslöschte oder auffraß. Airbus, das Produkt eines politischen Projekts mit einem deutsch-französischen Kern, vertilgte schon in der alten Gestalt als DASA Dornier, Fokker, MBB, MTU und Teile der AEG. Immer mal wieder gab es auch britische Beteiligung, und nach der Gründung von EADS gehörten auch die Spanier fest dazu; der anfänglich stark beteiligte Daimler-Konzern ist inzwischen draußen, aber die drei beteiligten europäischen Staaten halten zusammen nach wie vor eine Sperrminorität an dem Konzern, der neben ziviler Luftfahrt auch an den Ariane-Raketen beteiligt war, und – wie US-Konkurrent Boeing – außerdem als Rüstungsproduzent unterwegs ist.

Während im Bereich der Rüstung sich niemand darüber wundert, wenn der Absatz der Produkte politisch gefördert wird, entgeht es vielfach der Aufmerksamkeit, dass sich auch die Märkte in der zivilen Luftfahrt nicht unbeeinflusst entwickeln. Viele Fluggesellschaften weltweit sind nach wie vor staatlich, sodass im Verlauf der jahrzehntelangen Auseinandersetzung zwischen Airbus und Boeing, die mit dem Jungfernflug des A 300 im Oktober 1972 begann, sich auch die Entwicklung politischer Machtverhältnisse widerspiegelte. Und als 2003 das erste Mal mehr Flugzeuge bei Airbus als bei Boeing in Auftrag gegeben wurden, war das mit Sicherheit ein Moment, der Auswirkungen auf die politische Strategie der Vereinigten Staaten hatte, vielleicht sogar der auslösende Moment für das augenblicklich zu beobachtende Streben, die europäische Industrie zu ruinieren.

Industrielle Moden und Produktionssicherheit

Als der Airbus-Vorläuferkonzern DASA entstand und so viel wie möglich in sich einverleibte, war das der Höhepunkt einer insbesondere in Deutschland lange verfolgten Politik, ganze Produktionsketten soweit irgend möglich innerhalb eines Konzerns zu bündeln, sozusagen vom Stahlwerk zur Schraube zum Automobil. Volle Kontrolle über den gesamten Herstellungsprozess, was etwa Skalengewinne durch Vereinheitlichung ermöglichte. Dann kehrte sich diese Mode um, und es wurde alles ausgelagert, was ausgelagert werden konnte; nicht nur, um durch Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer die Kosten zu senken, sondern auch, um durch ein Durcheinander unterschiedlichster Firmen Besteuerung und Haftung zu erschweren. Diese Mode kam in Europa mit Verspätung an und ist erst mit der Auflösung der Deutschland-AG unter Gerhard Schröder voll zur Blüte gelangt; sie hat aber, langfristig gesehen, fatale Auswirkungen in Bereichen, in denen die Sicherheit eine gewichtige Rolle spielt.

Sicher, selbst die Geschäftsbeziehungen eines heutigen Großkonzerns zu einem Zulieferer können mit dem gleichen Verhältnis etwa vor hundert Jahren nicht mehr verglichen werden. Auch wenn die mögliche Konkurrenz seitens des Auftraggebers genutzt wird, um die Preise zu drücken, sind die Vorgaben bezüglich des Produkts sehr genau und sehr einseitig. Bei den meisten Zulieferfirmen ist es eben nicht so, dass da ein Unternehmen ein Produkt anbietet, das genommen wird oder eben nicht, sondern de facto handelt es sich längst um exakt beschriebene Fertigungsvorgaben.

Allerdings – während die, nennen wir sie mal, zentralistische Variante der Konzernstruktur den Vorteil hat, dass sich aus der Kooperation ein Gesamtertrag ergibt, und ebendieser Gesamtertrag die Produktion lenkt, ändern auch die genauen Vorgaben für das Zulieferunternehmen oder selbst für den formal ausgegliederten früheren Konzernteil nichts daran, dass sämtliche Entscheidungen innerhalb dieses Zweigs durch den maximalen Ertrag für ebendiesen Zweig fallen, wobei es letztlich egal ist, ob am Ende noch etwas abfällt oder überhaupt ein funktionsfähiges Produkt entsteht, solange das Vorprodukt gekauft wird.

Das bedeutet schlicht: Jeder Übergabepunkt zwischen den Unternehmen A, B und C entlang einer Produktionskette ist eine mögliche Fehlerquelle, die zusätzliche Qualitätskontrollen erforderlich macht. Wobei natürlich die erforderlichen Kontrollen nach Möglichkeit die Einsparungen durch die Fremdproduktion nicht auffressen sollen. Was allerdings eine völlig andere Fragestellung ist, ob es um Waschmaschinen geht oder um Flugzeuge.

Im letzteren Fall gibt es sogar öffentliche Aufsichtsbehörden, die die Produkte genehmigen müssen, weil die Folgen eines Fehlers so groß sind. Ähnlich wie bei der Zulassung von Medikamenten. Aber so wie inzwischen feststeht, dass man in der EU die Substanzen, die Pfizer injizieren ließ, gar nicht selbst geprüft, sondern sich auf die Herstellerangaben verlassen hat, soll das auch bei Boeing bei der 737 MAX geschehen sein – die US-Luftfahrtbehörde überließ die Überprüfung des Produkts dem Hersteller.

Die Probleme, die 2014 aufgetaucht waren, führten dazu, dass sich Boeing gegenüber der Flugaufsichtsbehörde zu einer sorgfältigeren Fehlerkontrolle verpflichten musste. John Barnett, ein ehemaliger Qualitätsmanager bei Boeing, erklärte noch 2019, dass nach wie vor einzelne Teile in der Produktion nicht nachverfolgt und dass sogar als fehlerhaft aussortierte Teile eingebaut würden, um die Produktion nicht zu verzögern. Boeing stand da längst nicht mehr nur unter Kosten-, sondern auch unter Zeitdruck, um mit Airbus noch mithalten zu können. John Barnett jedenfalls soll, während seine Klage gegen Boeing verhandelt wurde, an einer „selbst beigebrachten“ Verletzung verstorben sein. Eine Aussage, der selbst die BBC, die zuerst über diesen Todesfall berichtete, nicht zu vertrauen scheint.

Es gibt sicher längst mathematische Modelle, die berechnen, unter welchen Bedingungen die Fehlerwahrscheinlichkeit nahe 100 Prozent liegt. Das Problem ist, dass sich die politische Macht, die es einem Konzern ermöglicht, öffentliche Kontrollen zu unterlaufen, und eine Produktionsstruktur, in der Kostendruck und Ausgliederungen viele zusätzliche Fehlerquellen erzeugen, die wieder aus Kostengründen nicht überwacht werden (auch im Fall Pfizer kursieren immer wieder Informationen über verunreinigte Vorprodukte), sich miteinander vermählen und – das ist die Krux bei Fehlerwahrscheinlichkeiten – miteinander multiplizieren. Airbus konnte in diesem Fall womöglich die Tatsache, dass die drei beteiligten Staaten sich wechselseitig mit Argusaugen beobachten und jeder genug Anteil an der Produktion haben will, dazu geführt haben, eine stärkere Binnenkontrolle gegen die industrielle Mode zu bewahren.

Eine Spitze auf Stelzen

Derzeit kursiert ein kurzer Schnipsel über Boeing im Internet, der eigentlich schon neun Jahre alt ist und aus einer damaligen Dokumentation auf Al Jazeera stammt. Kein sehr schmeichelhafter Bericht, aber es ist anzunehmen, dass sich seitdem die Verhältnisse nicht gebessert haben – die Ereignisse der letzten Woche belegen das zur Genüge.

Dabei spielt sicher auch das Wissen um die Niederlage eine große Rolle. Die Boeing 737 MAX war gewissermaßen der letzte Versuch, die Nase nach vorn zu bekommen, das letzte Aufgebot, und es scheiterte katastrophal. Das hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf Verhalten und Leistung der Mitarbeiter. Menschliche Großorganisationen folgen den gleichen Verhaltensmustern, und ein geschlagener Konzern ist kein wesentlich hübscherer Anblick als eine geschlagene Armee. Eine der Ausdrucksformen wird eine größere Nachlässigkeit sein.

Aber es gibt noch weit gravierendere Veränderungen, die letztlich auch den Sieg von Airbus in einen Pyrrhus-Sieg verwandeln dürften, auch wenn diese Entwicklungen in den Vereinigten Staaten schon weiter fortgeschritten sind.

Die gesamte Industriepolitik der westlichen Länder beruht auf der Annahme, man könne große Teile der „einfachen“ Herstellung irgendwohin verbringen, und sich selbst nur noch auf die „komplizierten“, möglichst hochtechnologischen Produkte konzentrieren. Boeing produziert Flugzeuge in einem weitgehend bereits deindustrialisierten Umfeld; Airbus dürfte, dank der US-Politik, in Zukunft das Gleiche blühen.

Es ist allerdings eine Illusion, man könne einen hoch qualifizierten Bruchteil einer industriellen Landschaft aufrechterhalten, wenn man auf den ganzen Rest verzichtet. Wie will man Flugzeuge bauen, wenn die ganz gewöhnliche Produktion von Gegenständen aus Metall weitgehend verschwunden ist? Es sind noch nicht einmal die Ingenieure, die zu finden schwierig wird, es sind die Facharbeiter. Flugzeugbau und Schiffbau teilen einige der handwerklichen Techniken. Früher konnte der Flugzeugbau aus den Besten wählen. Wenn die ganze übrige Industrie rundherum wegfällt, ist das nicht mehr möglich. Das Personal kann gar nicht mehr die Qualität haben, die es einmal hatte.

Schlimmer noch. In einer deindustrialisierten Gesellschaft, in der die guten Einkommen an die Leute mit den Schreibtischjobs gehen, bleiben nur noch zwei Personengruppen übrig, um die echte materielle Produktion zu stemmen: die wenigen, denen ein Ergebnis, das sie anfassen können, so wichtig ist, dass sie dafür auf Einkommen verzichten, und jene, die es eben nicht an die begehrten Schreibtische geschafft haben.

Es gibt ein berühmtes Foto aus New York, das Bauarbeiter, die einen der Wolkenkratzer errichten, in ihrer Arbeitspause auf einem Stahlträger sitzend zeigt. Hinter ihnen in der Tiefe die Gebäude der Stadt. Es stammt aus dem Jahr 1932, also aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, und es drückt einen Respekt vor diesen Bauarbeitern aus, der heute undenkbar wäre. Aber es ist dieser Respekt, der das Fundament großer industrieller Leistungen liefert; ein Respekt, der mit Sicherheit zumindest in Spuren noch vorhanden war, als die Boeing 747 ihre große Zeit begann, der aber heute nur noch als vage Erinnerung weiterlebt.

So sehr man sich mit der Frage befasst hat, wie das für Investitionen verfügbare Geld am schnellsten dorthin geraten kann, wo es den höchsten Ertrag bringt, so sehr hat man die kulturellen und sozialen Grundlagen industrieller Kultur nicht nur ignoriert, sondern als unnütz beseitigt. Es ist ironisch, aber wahr, dass die Organisierung der Arbeiterschaft, die es einmal in den Großbetrieben gab, zwar einerseits einen starken Gegner bezüglich der Löhne und der Arbeitsbedingungen erstehen ließ, andererseits aber auch eine ausgeprägte Identifikation. Kein Bemühen um Corporate Identity kann dem auch nur nahekommen. Und je mehr der Wert dieser Arbeit herabgesetzt wird (in Deutschland muss man da nur die Stichworte Leiharbeit und Werkvertrag in die Runde werfen), desto kleiner wird der Spielraum für jene Fortschritte, die nur kollektiv zu erzielen sind. Was bei Verbesserungsvorschlägen aus der Belegschaft anfängt und damit endet, jede reale Erfahrung wieder in den Entwicklungsprozess rückzukoppeln.

Eine deindustrialisierte Gesellschaft, deren Ideal der extrem individualisierte Konsument mit einer gut bezahlten, weitgehend unnützen Schreibtischtätigkeit ist, während lebenswichtige Tätigkeiten wie die einer Putzfrau auf der Intensivstation weder gut bezahlt noch beachtet werden und die biologische Reproduktion der Bevölkerung auf klassischem, biologischem Weg eher unerwünscht ist, weil der Import von Fertigmenschen so viel günstiger scheint, liefert schlicht nicht mehr die Menschen, die es braucht, um verlässlich funktionierende Flugzeuge zu bauen. Das passiert nicht von heute auf morgen, aber es passiert. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch hier in Europa; die USA sind da nur der fleischgewordene Blick in die eigene Zukunft.

Es ist nicht Boeing, das keine Flugzeuge mehr bauen kann, es ist die Gesellschaft der Vereinigten Staaten. Der Flugzeugbau ist eine der komplexen Produktionen, die die Folgen dieser Fehlsteuerung recht früh erkennen lassen. Aber man täusche sich nicht – wie lange wird wohl eine Gesellschaft, die einen Flughafen Berlin-Brandenburg und Stuttgart 21 hervorbringt, noch weiter Flugzeuge bauen können, die verlässlich fliegen? Die Akkumulation von Fehlerquellen ist das eine; die Zerstörung der gesellschaftlichen Grundlage der Industrie hat noch einmal eine ganz andere Qualität. Der Fall von Boeing ist nur das Vorspiel.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 12.3.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

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von Ulf Peter im WELTEXPRESS.

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