Landwirtschaft macht arm – Serie: Kasino-Kapitalismus – Über verräterische Bemerkungen des Hans-Werner Sinn (Teil 2/5)

Wenn noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Arbeitskraft in der Landwirtschaft vier weitere Leute ernährte, so kommen heutzutage hierzulande auf einen Landmann vielleicht 140 andere Personen. Wovon aber nähren sich diese von der Landarbeit ausgeschlossenen Figuren? Jedenfalls nicht allein vom gesetzwidrigen Raub und vom christlichen Glauben. Sie müssen sich nützlich machen für die, die dafür bezahlen können und wollen oder müssen. Soweit sie nicht mit der Erzeugung der materiellen Bedingungen der produktiven Arbeit in der Agrikultur beschäftigt werden und auch sonst keine industriellen Arbeiten verrichten dürfen, dienen sie daher meist in der zivilen oder der bewaffneten Garde der Bourgeoisie. Sie sind z.B. ausgebildet als Germanisten, Juristen, Betriebs- und Volkswirte, Psychologen, Politologen, Soziologen, Journalisten oder Theologen, Soldaten usw. und arbeiten als Handlanger in den Verwaltungen, betreiben private Sicherheitsdienste oder verrichten ihre nützlichen Aufgaben bei der Polizei und in der Armee, verdingen sich als Gefängniswärter, vermarkten sich als Trainer, Lehrer und Berater aller Art, schaffen an als Medienfachleute oder Finanzdienstleister, machen allerhand Spaß und unterhalten und belehren aufdringlich das lädierte Volk oder bieten ihm ihre psychologischen oder sozialen Hilfsleistungen an – oder haben überhaupt keinen Job, keinen nützlichen und keinen schädlichen, sondern gar keinen. Sie sind dann vielleicht hauptsächlich Fußballfans. Die moderne Sicherheitsarchitektur der kapitalistischen Gesellschaft ist hochkomplex.

Man muss schon ein bemerkenswert bizarrer Charakter sein, um es für ein besonders gelungenes Leben zu halten, wenn ausgewachsene Menschen ihre Tage nicht mit der Aussaat, der Pflege und der Ernte von Kraut und Knollen auf dem Lande verbringen, sondern sie in irgendeiner Kanzlei mit der Abwehr von Lebensansprüchen fremder Menschen verballern, oder wenn sie sie als Finanzberichterstatter Zeichen deutend in einem Beratungsunternehmen verplempern, womöglich auch als sprechende Werkzeuge in den Wirtschaftsforschungsinstituten oder den Versicherungs- oder Bankunternehmen. Oder gar mit der Besprechung der zwangsläufigen Neurosen aller dieser Leute. Wenn den unermüdlichen Bauern vergangener Jahrhunderte viele unserer heutigen Annehmlichkeiten auch unbekannt waren, so kannten sie auch viele unserer Leiden nicht. Beinahe sinnfällig ausgedrückt sind diese Leiden in immer neuen oder in dem Wachstum bestimmter überlieferter Berufsgruppen. Eine wachsende Meute von einander ergänzenden Helfern versaut einander und anderen die Tage oder macht die versauten irgendwie erträglich. Immer lauter rufen uns so immer größere Bevölkerungsgruppen zu, dass wir in nur schwer erträglichen Verhältnissen leben, und sie zwingen uns zu der Annahme, dass unter der bürgerlichen Oberfläche Bewegungsgesetze wirken, die dem materiellen Reichtum entsprechend auch das Elend wachsen lassen. Weil dieses Elend zuweilen nur auf einem Umwege erkannt werden kann, existiert es nicht für einen bürgerlichen Wohlstandswissenschaftler, der sich ja notwendig eine widerspruchsfreie Sicht der Dinge verordnet hat. Wo sich ihm das Elend unabweisbar aufdrängt, dort sieht er erst gar nicht hin. Es ist daher nicht zufällig, wenn Sinn nicht wirklich die so genannte Marktwirtschaft betrachtet, wenn er deren angeblich Wohlstand stiftende Fähigkeiten preist.

Die Bourgeoisie, die sonst immerzu ihre Weltoffenheit lobt, ist bemüht, das weltweit zu besichtigende industrielle Massenelend als ein organisches Ergebnis ihrer Produktionsweise zu vertuschen. Gerade Herr Sinn lebt als Beweis dieser Behauptung. Hat nicht er in seinem berühmten Buch zur Rettung Deutschlands den hiesigen Lohnarbeitern geraten, durch gehörigen Lohnverzicht die Lohnarbeiter in anderen Regionen brotlos zu machen? Hat er! (4) Und jetzt kommt er uns so:

 „Die geradezu astronomische Erhöhung des Lebensstandards der breiten Massen seit dem 19.Jahrhundert und der Sieg über den Kommunismus belegen die Vorteile des Wettbewerbsprinzips in aller Deutlichkeit“ (S.175).

Auch ohne in eine Debatte über das „Wettbewerbsprinzip“ zu kommen, von dem Sinn eh nichts weiter verstehen will als seine „Erfolgsgeschichte“: Welchen „Lebensstandard“ sieht er – und welche „Massen“? Die stets überfüllten Gefängnisse im reichsten Land der Erde sprechen eigentlich nicht für tolle Lebensbedingungen dort. Und nicht erst seit der Lehman-Pleite bewegt sich die Zahl der Empfänger staatlicher Essensmarken in den USA im deutlich zweistelligen Millionenbereich. Lebensstandard? Menschen taumeln massenweise heute in diese und morgen in jene Lebenssituation; standardmäßig finden wir beides: mäßigen Wohlstand und maßloses Elend. Verheerend ist die Bilanz des Kapitalismus mit seinem „Wettbewerbsprinzip“, wenn wir von den „breiten Massen“ reden. Und es kann auch gar nicht anders sein!

Um die Objekte des Professors ins richtige Licht zu setzen, reicht ein grober Blick auf die weltweiten Strukturen, die der Strukturwandel infolge der Produktivkraftsteigerung in den letzten Jahrhunderten hervorgebracht hat – und täglich neu hervorbringt: Hunger, Elend, Krieg und verwüstete Landschaften sind in der Tat nicht zufällig, sondern strukturell (5). Die ungeheuren Fortschritte der kapitalistisch entwickelten Produktionskräfte wirken zerstörend in allen Weltgegenden, und der organische Zusammenhang dieser Form der Reichtumsproduktion mit dem Elend ist trotz der bedeutenden Anstrengungen einer gewaltigen ideologischen Streitmacht nicht leicht zu übersehen. Was in den Metropolen des Kapitals in manchen Zeiten noch einigermaßen zivilisiert sich darstellen mag, ist durchgängig barbarisch in anderen Weltgegenden. Seit ihren Anfängen ist das Elend ein schattenhafter Begleiter der kapitalistischen Produktion des Reichtums (6). Seit jener Zeit kann man beobachten, dass jede gute Ernte unzählige Bauern ebenso ruiniert wie eine Missernte. Seit jener Zeit raubt jede Verbesserung in der Produktion irgendeines Gutes zahllosen Produzenten ihre Existenzbedingungen. Aus der Perspektive des Professors „verschwinden die schwächeren Firmen und machen Platz für neue“. Man muss dieser niedlichen Beschreibung nur die Tatsachen gegenüberstellen, um zu verstehen, warum Jean Ziegler von einer „kannibalischen Weltordnung“ reden will. Wenn in unseren Breiten nur neue, effizientere Ausbeutungsmethoden die Plätze der alten einnehmen mögen und manch ein Lohnarbeiter künftig Almosen statt Lohn beziehen mag, dann muss dagegen jeder Milchproduzent irgendwo in Afrika den Hungertod fürchten, wenigstens den seiner Kinder, wenn in Europa ein weiterer Fortschritt in der Milchproduktion stattfindet.

Harmlos ist der Strukturwandel nur in der gedankenlosen Zeichenwelt der so genannten Wirtschaftswissenschaft, die seit Jahrzehnten nicht mehr als ein paar alberne, äußerliche Reflexionszusammenhänge hinbekommen hat. Zum Strukturwandel der vergangenen 200 Jahre gehört die gegenwärtige Verzweiflung des indischen Kleinbauern, den seine Verschuldung zum Selbstmord treibt, ganz ebenso wie das elende Dasein des brasilianischen Köhlers, der mit seiner unablässigen, anstrengenden Schufterei sein bloßes Dasein nur dann und solange hinbekommen kann, solange irgendwelche Angeber in den besseren Weltgegenden Luxuskarossen nachfragen und auf diesem Wege auch die Nachfrage nach billigen Erzen aus dem Amazonasgebiet hochhalten. Mit dazu gehören auch die Millionen Kriegs- und „Wirtschaftsflüchtlinge“, die fortwährend weltweit unterwegs sind auf der Suche nach irgendeiner Überlebensmöglichkeit. Jean Ziegler hat die von der Produktivkraftsteigerung z.B. in der europäischen Landwirtschaft bewirkte Idylle in anderen Landstrichen ohne viel Trara anschaulich beschrieben:

In den Elendsvierteln Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die von den Vereinten Nationen schamhaft als ´ungesunde Behausungen ´ bezeichnet werden, dort, wo 40% der Weltbevölkerung leben, machen Ratten den Hausfrauen die magere Kost der Familie streitig (7)“.

So sieht der Strukturwandel aus einer anderen Perspektive aus und so der fabelhafte „Lebensstandard“, den er mit sich führt. Aber die Zwangsläufigkeit dieses Elends unter der Regie der kapitalistischen Form der Reichtumsproduktion ist natürlich kein Gedanke, der das Eigentum eines bürgerlichen Ideologen werden könnte. Der spult borniert sein Weltbeglückungsprogramm ab, predigt unverdrossen das „Land der Verheißung (8)“ und ahnt womöglich gar nichts von seiner Ähnlichkeit mit jenem „scheußlichen heidnischen Götzen”¦, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“ (9).

Anmerkungen:

(3) „Man stelle sich einmal vor, die Politik und nicht der Markt hätte seit dem 19. Jahrhundert die Wirtschaftsstruktur bestimmt und den regelmäßig in den konjunkturellen Krisen stattfindenden Strukturwandel verhindert. Dann wären immer noch zwei Drittel aller Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt – und wir wären genauso arm wie damals. Die Dynamik der Marktwirtschaft resultiert aus der fortwährenden schöpferischen Zerstörung einzelner Unternehmen, die nicht mehr gebraucht (!) werden. Die dort gebundenen Produktionsfaktoren werden für neue Dinge freigesetzt, die es sonst nicht gäbe. Also: Allgemeine Konjunkturpakete ja, aber Finger weg von den Firmen!“ (Sinn, seine Version in der Wirtschaftswoche vom 2.3.09).

(4) Z.B. hat er die „Verlängerung der jährlichen Arbeitszeit“ vorgeschlagen als einen „Weg, die Stundenlohnkosten zu senken und die deutschen (!) Arbeitsplätze wieder wettbewerbsfähig zu machen“ (Sinn, Ist Deutschland noch zu retten, Berlin 2005, S. 129). Die Verschärfung der internationalen Lohnarbeiterkonkurrenz ist Ökonomen vom Kaliber Sinn ein ganz selbstverständliches Heilmittel gegen Arbeitsplatzabbau! In anderen Situationen nennt man es, milde ausgedrückt, ein Verbrechen, wenn Menschen dem Hunger ausgeliefert werden.

(5) Es ist ein Verdienst von Jean Ziegler, dem ehemaligen Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, auf den offenkundigen Zusammenhang von Hunger und herrschender Weltordnung immer wieder unmissverständlich hingewiesen zu haben. Aus der allgemein zugänglichen Statistik zieht er einen selbstverständlichen Schluss:„Der Hunger ist folglich die hauptsächliche Todesursache auf unserem Planeten. Und dieser Hunger ist von Menschenhand gemacht. Wer an Hunger stirbt, stirbt als Opfer eines Mordes“ (Jean Ziegler, Der Imperialismus der Schande, München 2005, S. 10). Hinzufügen sollte man noch, dass die Mörder nirgendwo zur Rechenschaft gezogen werden können, weil die Verantwortung ebenso fein geteilt ist wie die Arbeit der Herrschaft. Niemand ist es gewesen, kein Wähler, kein Politiker, kein Soldat und auch kein Bürokrat. Niemand ist verantwortlich, wo jeder nur ein elendes Rad im Getriebe einer unglaublichen Zerstörungsmaschinerie, die freilich den begünstigten Erdenbewohnern zweifellos manche Vorteile einbringt. Und nicht viele Funktionen der Maschinerie sind so widerlich wie die, die der Ideologe ausführt, der die Verhältnisse rechtfertigt als die beste aller möglichen Welten.

(6) Wenn hier aus einer alten Schrift zitiert wird, so nicht nur deshalb, weil bereits dort vollendet das mörderische kapitalistische Verhältnis formuliert worden ist, sondern weil sich daran zeigt, dass seit vielen Jahrzehnten keine Besserung eingetreten ist – trotz der ungeheuren Steigerung der produktiven Kräfte, die den Lebensgenuss der arbeitenden Menschen hätten entsprechend steigern können. Es gibt nicht den geringsten Grund zur Hoffnung, bevor nicht eine „große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche“ aneignet: „Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unseren Augen, sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen“ “ (Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, MEW9/225f). Wenn jetzt offiziell eine runde Milliarde Menschen weltweit hungert, nicht geredet vom inoffiziellen Elend, dann ist das nur ein lebendiger Beweis für die robuste Wirksamkeit der längst gefundenen Bewegungsgesetze des Kapitals.

(7) Ziegler, Jean, Der Imperialismus der Schande, München 2005, S. 11. So wenig Ziegler das Ereignis des weltweiten Elends begreifen kann, so klar und unverstellt sind seine Beobachtungen.

(8) Wenn mit dem Fortschritt der produktiven Kräfte bis heute auch die Armut Schritt hält, dann hat Henry George 1879 jedenfalls nicht schlecht hingesehen: „Das Land der Verheißung flieht vor uns gleich einer Fata Morgana“ (Einleitung von „Fortschritt und Armut“, Berlin 1880).  

(9) „Die verheerenden Wirkungen der englischen Industrie auf Indien S treten erschütternd zutage. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß sie nur das organische Ergebnis des gesamten Produktionssystems sind, so wie es heute besteht. Grundlage dieser Produktion ist die absolute Herrschaft des Kapitals. Wesentlich für die Existenz des Kapitals als einer unabhängigen Macht ist die Zentralisation des Kapitals. Der zerstörende Einfluss dieser Zentralisation auf die Märkte der Welt enthüllt nur in gigantischem Ausmaß die immanenten organischen Gesetze der politischen Ökonomie, die heute in jedem zivilisierten Gemeinwesen wirksam sind. Die bürgerliche Periode der Geschichte hat die materielle Grundlage einer neuen Welt zu schaffen: einerseits den auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker beruhenden Weltverkehr und die hierfür erforderlichen Verkehrsmittel, andererseits die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte und die Umwandlung der materiellen Produktion in wissenschaftliche Beherrschung der Naturkräfte. Bürgerliche Industrie und bürgerlicher Handel schaffen diese materiellen Bedingungen einer neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische Revolutionen die Oberfläche der Erde geschaffen haben. Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“ (Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, MEW9/225f).

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