Brücken abgebrochen – Die Berliner Symphoniker müssen einige schmerzliche Rückschläge hinnehmen, doch sie geben nicht auf

Berliner Symphoniker © Berolina-Orchester e.V.

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Noch im Oktober vergangenen Jahres konnte ich berichten, dass im April das Schlagzeugkonzert von Ruth Zechlin endlich uraufgeführt werden wird. So stand es im Programm der Berliner Symphoniker für die Spielzeit 2018/2019. Sie hatten eine Reihe »Brückenschläge Ost-West», dirigiert von Lior Shambadal, geplant. In denen sollte ein Bogen geschlagen werden von Werken verfemter Komponisten zu Kompositionen aus der DDR und aus der Altbundesrepublik. Das Orchester war stolz darauf, dass darunter Kompositionen waren, die nur in ihren Konzerten gespielt werden. Aufsehen erregte im Oktober die Vertonung des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels durch den jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff. Oder »Variationen über ein niederländisches Volkslied» von Kurt Schwaen. Wahre Begeisterung weckten die Lieder aus dem DEFA-Film »Die Legende von Paul und Paula» von Peter Gotthardt – für viele Hörer ein Stück ihrer Identität.

Ein guter Anfang. Er hatte nur einen Haken. Der Intendant Peter P. Pachl hatte mit einer Finanzierung aus dem Haushaltstitel »Spartenoffene Förderung» gerechnet. Er hatte jedoch ein eisernes Gesetz der Haushaltswirtschaft missachtet, nämlich, dass nur Geld ausgereicht wird, das vorher im Plan genehmigt worden war. Die Ablehnung durch die Jury war unvermeidlich. Aber als Orchester, das nicht aus dem Landeshaushalt finanziert wird, eine Konzertreihe ohne Zusage der Mittel zu beginnen, ist ein Abenteuer, das dem Orchester und der Sache nur schaden kann. Die Folge ist, dass das zweite Konzert der Reihe am 14. April abgesagt werden musste – ein einmaliger Vorgang. Und gerade da standen neben Ruth Zechlins Schlagzeugkonzert die »Studie für Streichorchester» des in Auschwitz ermordeten Pavel Haas, der »Bruckner Dialog» von Gottfried von Einem sowie die »Variationen für Klavier und Orchester» von Günter Kochan auf dem Programm. Ob weitere Konzerte dieser Reihe zustande kommen werden, ist völlig offen.

Der Ausfall ist desto fataler, als Pachl als »grandiosen Abschluss» der Abonnementskonzerte am 2. Juni in der Philharmonie ein Konzert zum 150. Geburtstag Siegfried Wagners angesetzt hat. Warum das Orchester den Geburtstag eines Duzfreundes von Adolf Hitler feiern muss, darf zumindest als instinktlos empfunden werden. Da hilft zur Erklärung auch die besondere Beziehung Peter Pachls zum Werk Siegfried Wagners nicht, dessen Biographie Pachl verfasst hat. Der Chefdirigent Lior Shambadal hat es abgelehnt, dieses Konzert zu dirigieren, das Pachl zudem ohne seine Zustimmung auf das Programm gesetzt hat. Das Programm ist so gebaut, dass Siegfried Wagner und Hans Pfitzner sicher platziert sind, aber der Jude Pavel Haas gestrichen werden konnte.

Beide Beispiele offenbaren grundlegende Differenzen zwischen dem Chefdirigenten, dem Intendanten und dem Vorstand des Trägervereins Berolina Orchester e.V. Der Weg des Orchesters seit der Streichung der Zuschüsse durch den Senat unter Klaus Wowereit und Thomas Flierl war steinig genug. Shambadal hatte keine Illusionen, sagt er, doch hatte er einige Hoffnung in den rot-rot-grünen Senat und seinen Kultursenator Klaus Lederer gesetzt. Nach einem aufgeschlossenen Gespräch über Shambadals Pläne zum Wiederaufbau der Orchesterstruktur mit Finanzierung durch den Haushalt hatte er den Vorsitzenden der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Udo Wolf, so weit überzeugt, dass dieser riet: »Machen Sie eine Ideenskizze». Shambadal entwickelte seinen Plan, den er schließlich mit dem Kultursenator Klaus Lederer diskutieren konnte. Lederer befand ihn in großen Zügen gut, sah auch Möglichkeiten einer Projektförderung aus diesem oder jenem Fonds, sagte aber keine institutionelle Förderung, also Haushaltsfinanzierung, zu. Das behob die Sorgen nicht, aber gab eine gewisse Sicherheit, dass wenigstens der kulturpolitische Gehalt von Shambadals Konzept die Anerkennung des Senators fand. Das künstlerische Profil des Orchesters könnte dem Berliner Musikleben eine eigene Note geben, die die Musikfreunde neugierig machen könnte: Unvollendete Werke von Mozart, unbekannte Werke bekannter Komponisten und Werke unbekannter Komponisten, insbesondere Kompositionen vertriebener jüdischer Musiker, die in Deutschland noch nie gespielt wurden, Musik aus der DDR und aus der Sowjetunion. Shambadals Versprechen: »Diese Werke können Sie nirgendwo sonst hören».

Anstatt dieses Konzept zu realisieren, stellte Pachl mit Zustimmung des Vorstands des Trägervereins, des Berolina Orchester e.V., ein Programm auf, das sehr wohl auch die Aufführung von Werken verfemter Meister enthielt, aber weitgehend Liebhabereien des Intendanten bediente. Vor allem war das Programm nicht mit dem Chefdirigenten abgestimmt, was unvermeidlich zu Differenzen führen musste. Shambadal hält die Pläne auch finanziell für nicht durchführbar, weil sie die nötigen Proben und damit die künstlerische Qualität nicht gewährleisten. Vor allem hapert es am Konzertbesuch. Die Reihe »Konzerte für die ganze Familie» im Konzertsaal der Universität der Künste bietet viele schöne Möglichkeiten, Kinder aller in Berlin lebender Nationen für die Musik zu begeistern, doch muss man zu der unvermeidlichen Kleinarbeit fähig sein, sie in den Konzertsaal zu bringen. Über die Besucherzahlen schweigt des Berichterstatters Höflichkeit. Pachl fühlt sich als Künstler, doch muss der Intendant der Organisator der Konzerte sein, und die kommen ohne die Konzertbesucher genau so wenig aus wie ohne die Orchestermusiker. Mangelnde Beherrschung der finanziellen Deckung führte sogar zu empfindlichen Rückständen bei der Zahlung der Gagen – für ausschließlich freiberufliche Musiker ein Schock, wenn nicht eine Katastrophe. Ohnehin kommen viele mit ihrer Arbeit nicht einmal auf den Mindestlohn.

Dies wäre die Zeit für eine Kursänderung des Trägervereins und des Intendanten gewesen – zu einem realistischen, gut organisierten und finanzierbaren Spielplan. Die blieb aus. Eine weitere Brücke brach. Shambadal lehnte eine Saison 2019/2020 unter dem Intendanten Pachl ab. Jener und der Vorsitzende des Trägervereins, Alfred Christmann, drängten Shambadal aus seiner Position. Er wurde von seinen Dirigaten »freigestellt». Man schuf vollendete Tatsachen: die Abonnenten erfuhren in einem Brief vor Weihnachten vom »scheidenden Chefdirigenten». Shambadals Konzert am 5. Mai wird als »Abschiedskonzert» plakatiert – beide öffentlichen Verlautbarungen ergingen ohne sein Einverständnis. Für Shambadal ist die Lage unerträglich geworden, so dass er seine Arbeit als Chefdirigent im Mai beenden wird – nach 22 Jahren.

Doch auch für Christmann geht es so nicht weiter. Er hat Pachl nahegelegt, aus »gesundheitlichen Gründen» im April auszuscheiden. Ein Neuanfang mit neuer Intendanz ab 1. Mai soll am 30. April besiegelt werden. Ein Scherbenhaufen ist aufzuräumen. Vor allem braucht es Professionalität. Die Musiker, alte wie neue Berliner Symphoniker, können nicht aufgeben. Sie wollen spielen, und der Broterwerb lässt ihnen keine Wahl, auch bei schlechter Bezahlung zu arbeiten. Wird irgendwoher Hilfe kommen? Auch da ist etwas eingestürzt – die Solidarität. Die gab es, als der Senat die Zuschüsse streichen wollte. Die anderen Orchester wollten sogar auf einen Teil ihres Gehalts verzichten, doch der Senator Thomas Flierl verweigerte seinen Anteil. Heute? Vergessen. Auch die Gewerkschaft, die Deutsche Orchestervereinigung, fühlt sich nicht verantwortlich.

Am 24. März fand im Konzerthaus ein Konzert für eine offene Gesellschaft, für Respekt und Toleranz, statt. Rund 120 Musiker hatten sich auf der Bühne versammelt. Auf Initiative des Orchesters der Komischen Oper wollten sie den faschistoiden Angriffen auf Migranten in Chemnitz etwas entgegensetzen. »Erstmals in ihrer Geschichte schließen sich die sieben großen Berliner Orchester zusammen – um ein Konzert für eine offene und diverse Gesellschaft zu geben. Die Orchester plädieren auf diese Weise für Respekt und Toleranz, für Vielfalt nicht nur in den eigenen Reihen, sondern in der bundesdeutschen Gesellschaft», heißt es im Programm. Das »allgemeinkonkrete» Ziel sei dahingestellt, aber warum wurden die Berliner Symphoniker nicht eingeladen? Sie brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit. »Wir hätten zehn Orchester einladen können, aber wir mussten eine Grenze ziehen», sagen unisono mehrere Orchestervorstände, die das Konzert demokratisch organisierten. Allmächtiger! Diese »Grenze» verläuft genau zwischen jenen Orchestern, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden, und den »Freien». Hier die Eliten, da die Heloten. Braucht ein Bündnis gegen Faschismus, Rassismus und Gewalt nicht jeden? Klaus Lederer hat am Mittwoch auf seiner »Couch» im ND-Gebäude genau das thematisiert: Wie schaffen wir gegen den Kulturkampf von rechts – vorgetragen gerade jetzt von der AfD gegen die Theater und ihre Künstler – das Gegengewicht von links? Teure Musiker: An Ihrem guten Willen ist nicht zu zweifeln, doch da muss noch roter Pfeffer ran!

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