Wohnungsneubau in Genossenschaften – Mit dem Bau von Wohnungen mit »gehobenem Standard« wandeln sich die Wohnungsgenossenschaften zu Preistreibern auf dem Wohnungsmarkt

1999 gab es in Berlin noch 43 000 Wohnungen mehr als Haushalte, 2009 aber gab es 97 000 Haushalte mehr als Wohnungen: statistisch ist also nicht für jeden, der eine Wohnung braucht, eine vorhanden, von Größe und Ausstattung mal abgesehen. Insbesondere bei Einpersonenhaushalten wird nach Berechnungen der Expertin Antje Böttcher eine Versorgungsquote von 27,1 Prozent erreicht, das heißt, in diesem Segment fehlen bei  einer Million Haushalten 767 000 Wohnungen. (Angespannter Wohnungsmarkt in Berlin? Auswertung von Wohnungsmarktstudien im Auftrag der Fraktion Die Linke im Abgeordnetenhaus, Oktober 2010)

Oellerich macht eine einfache Rechnung auf. Bei einem Schwund des Wohnungsbestands von einem Prozent jährlich müßten allein zur einfachen Reproduktion pro Jahr mindestens 18 000 Wohnungen neu gebaut werden. Tatsächlich wurden 2009 zirka 3 000 bis 3 500 Wohnungen gebaut, davon zwei Drittel Eigenheime.Steigende Mieten verschärfen die offenkundige Mangellage. Betrug die durchschnittliche Nettokaltmiete laut Berliner Mietspiegel 2007 noch 4,75 EUR und 2009 4,83 EUR je Quadratmeter, so wird für 2011 die Überschreitung der magischen Grenze von 5,00 EUR vorausgesagt – ein Anstieg von 5 bis 6 Prozent in vier Jahren. Die Wohnungspolitik ist im Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus im September bevorzugtes Thema. Die Linke fordert in ihrem Wahlprogramm, die Wohnungsbestände der städtischen Wohnungsbaugesellschaften deutlich zu vergrößern. Sie sollen neue Wohnungen bauen und zu sozialverträglichen Konditionen vermieten. Mit ihrem Einfluss auf den Wohnungsmarkt müssten sie verhindern, dass sowohl Hartz-IV-Empfänger als auch Normalverdiener durch Mietsteigerungen verdrängt werden. 

Die SPD hingegen sucht den Ausweg hauptsächlich bei den Genossenschaften, die in Berlin über 185 000 Wohnungen verfügen, das sind 10 Prozent des Bestands. Die sollen laut Beschluss ihres Landesparteitages im Juni 2010 ihre Bestände vergrößern; von städtischen Gesellschaften ist nicht die Rede. Der Weg soll der Erwerb bestehender Gebäude und die Gründung neuer kleiner Genossenschaften sein. Diskutiert wird  die  Ausgründung: Mieter gründen  Genossenschaften, um ihre städtischen Mietwohnungen zu kaufen. Die Verantwortung für eine sozial verträgliche Wohnungsversorgung wird so von den senatseigenen Wohnungsgesellschaften auf die Genossenschaften, genauer: auf die Mieter abgewälzt.

Wie stehen die Genossenschaften selbst dazu? Wir fragten nach.

Maren Kern, Vorstand des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen BBU, hält es für die Aufgabe sowohl der städtischen Gesellschaften als auch der Genossenschaften, breite Schichten mit Wohnungen zu bezahlbaren Mieten zu versorgen.  Den erforderlichen Neubau von 10 000 bis 12 000 Wohnungen pro Jahr müssten vor allem die städtischen Gesellschaften leisten. Der Wohnungsneubau der Genossenschaften hänge davon ab, ob man den Bestand erhalten oder einen qualitativen Wandel hin zu Wohnungen mit höherem Wohnkomfort wolle. Der folge sowohl den Wünschen älterer Menschen nach besseren Wohnbedingungen als auch dem Bedarf junger Familien nach ausreichendem Wohnraum.Bei der Entscheidung für eine neue Wohnung spielt auch das Umfeld eine große Rolle. Für junge Familien sind Kindergärten und Schulen in der Nähe wichtig, für Senioren Ärzte und guter Personennahverkehr, erläutert der Vorstandsvorsitzende der Wohnungsbaugenossenschaft »Berolina«, Frank Schrecker. »Und alle wollen mehr Grün.« Wie der BBU ermittelt hat, wurden in Berlin von 1994 bis 2009 von den Genossenschaften 3864 Wohnungen gebaut. Die Ziffern der letzten Jahre: 2007: 180 Wohnungen (0,09%), 2008: 29, 2009: 81 und 2010  231 Wohnungen (0,12%). Bei 185 000 Wohnungen ist das ein Zuwachs von 2,2 Prozent. In Hamburg wurden seit 2006 3 691 Genossenschaftswohnungen neu gebaut. Das sind bei 130 000 Wohnungen 2,8 Prozent Zuwachs. Tendenz steigend. Ihre Neubauinvestitionen haben die 31 Hamburger Genossenschaften 2010 um 5 Prozent aufgestockt.

"Man saniert nicht gleich die Mitglieder weg"

Was bewegt Genossenschaften dazu, neue Wohnungen zu bauen? Entschließen sie sich spontan dazu?

Der einfachste Grund ist die einfache Reproduktion. In den Altbundesländern wurden nach dem Kriege Wohnhäuser aus Materialien erbaut, die dem Zahn der Zeit und auch dem neuen energetischen Anspruch nicht mehr standhalten. Die Baugenossenschaft Freier Gewerkschafter in Hamburg besteht seit 88 Jahren, ihre 7 600 Wohnungen sind in dieser Zeit »gewachsen«, wie Vorstand Ingo Theel es nennt. Ein großer Teil ist nach 1945 entstanden. Modernisierung ist geboten, aber bestimmte Gebäude sind nicht mehr erneuerbar. Die werden abgerissen, zur Zeit 100 Wohnungen. Dafür entstehen 100 neue. Die Mieter werden behutsam »umgezogen«. Die Genossenschaft bietet Ersatzwohnungen im sanierten Bestand an. Etwa die Hälfte zieht dann in das neue Haus, andere bleiben in der Austauschwohnung. In die andere Hälfte der neuen Wohnungen ziehen Mitglieder, die einen besseren Standard wollen. Oder neue Mitglieder (etwa 30 Prozent), die hauptsächlich durch Mundpropaganda angezogen werden. »Werbung machen wir nie«, sagt Theel. Die Neuen sind meist junge Leute aus dem Umland, aus Mecklenburg-Vorpommern und aus dem Ausland. In Hamburg finden sie noch Arbeit. 

Die Freien Gewerkschafter bauen darüber hinaus auch 33 Wohnungen auf einem von der Stadt gekauften Grundstück. Das aber hat Grenzen, denn baureifes Land ist knapp. Die Mieten kosten 7,50 Euro nettokalt plus 1,28 Euro Betriebskosten je Quadratmeter mit einer Steigerung der Miete von weiteren 10 Cent pro Jahr. Nach Theels Meinung besteht der Vorteil darin, dass dank einer Wohnungsbauförderung der Stadt nicht gleich 9 Euro gezahlt werden müssen. Theel geht es nicht um Gewinn, doch er weiß, vom Wohnungsmarkt aus betrachtet ist Hamburg noch die Insel der Seligen. Aber hart trifft es die Mieter der Abrißhäuser. Die Genossenschaft findet einen Ausgleich. Die Genossen zahlen einen Mischpreis zwischen alter und neuer Miete, freiwillig vereinbart. »Wir würden sie sonst überfordern. Man saniert nicht gleich die Mitglieder weg. Mit 7,50 Euro sind wir nicht billig, sondern preiswert,« sagt Theel. »In Hamburg bekommt man keine Mietwohnung unter 10 Euro pro Quadratmeter. Unter 10 Euro kann man auch nicht mehr bauen, weil es keine Vorratsgrundstücke mehr gibt. Natürlich sind die Anschauungen von alten und neuen Mitgliedern relativ. Die Jungen akzeptieren 10 Euro, weil sie das mit dem Preis von Eigentumswohnungen vergleichen.« Und weiter? »Wir werden noch weitere Häuser abbrechen. Wir erstellen gerade eine Liste. Wir müssen den Mitgliedern reinen Wein einschenken, was das kostet. Und fragen: >Bist du bereit, das zu akzeptieren?<«

Ähnlich macht es die Wohnungsbaugenossenschaft Burgstädt in Sachsen. Hier werden alle Mieterhöhungen nach Paragraph 557 BGB freiwillig vereinbart – in diesem Falle nicht für Neubau, sondern für die Modernisierung. Das Prinzip ist das gleiche. Genossenschaftliche Demokratie ist also bei wichtigen Entscheidungen möglich – in vielen Genossenschaften aber bereits vergessen. 

Wirtschaftswachstum und Mehrbedarf

Mehrbedarf gibt es vor allem in Regionen mit wirtschaftlichem Wachstum, neben Hamburg auch in Bayern. Die Genossenschaft Siedlungswerk Werkvolk  mit Sitz in Amberg verfügt über 2400 Wohnungen, davon 1100 in Regensburg. In der Stadt sind große Industriebetriebe von BMW, Osram, Siemens und Continental ansässig, ferner die Universität mit einem großen Klinikum. Es gibt Arbeitsplätze für hochqualifizierte Leute. Wohnungen sind gefragt. Die Genossenschaft baute im Stadtteil Burgweinting vor drei Jahren 52 Wohnungen, 2010 bis 2011 folgen 154 Wohnungen – Drei- und Viergeschosser mit Aufzug, Fernwärme, Balkonen mit 6 bis 7 Quadratmetern, durchweg barrierefrei. Die Bewohner sind zum Teil ältere Mitglieder, die es barrierefrei brauchen, zu 80 Prozent aber zuziehende junge Arbeitskräfte. Die Kaltmieten betragen in Amberg 4,50 Euro/m2 und in Regensburg 5,20 Euro. In den neuen Wohnungen liegen sie bei 6,86 Euro plus 2,03 Euro Betriebskosten. Die Geschäftsführerin Andrea Hüttl stellt zufrieden fest, dass die Genossenschaft damit unter dem Regensburger Mietspiegelwert von 6,95 bleibt. 

Eine Zweizimmerwohnung von 82 Quadratmetern kostet monatlich 564 Euro kalt und 730 Euro warm. Bis zu 80 Quadratmetern sind 5 Geschäftsanteile je 325 Euro zu zeichnen, für mehr als 80 Quadratmeter 6 Anteile, mithin 1625 beziehungsweise 1950 Euro. Für die Kinderkrankenschwester Isa sind 560 Euro für ihre Zweizimmerwohnung und 35 Euro in der Tiefgarage kein Pappenstiel, aber sie nimmt sie in Kauf, denn in Leipzig verdiente sie 1300 Euro brutto, in Regensburg aber sind es 2400 Euro. Deutsche Einheit!

In Berlin gibt es kein industrielles Wachstum. Nachfrage entsteht jedoch durch den Zuzug junger, gutbezahlter Angestellter und Freiberufler sowie durch die Veränderung der Altersstruktur. Der Anteil von Einwohnern über 65 Jahre stieg von 13,7 Prozent im Jahre 1995 auf 19,1 Prozent 2009. Das spiegelt sich auch in den Genossenschaften wieder, indem Wohnungen mit höherem Komfort und insbesondere altersgerechtem Zuschnitt gefragt sind, begrenzt allerdings durch bescheidene und stagnierende Renten. 

Die Wohnungsgenossenschaft Humboldt-Universität in Berlin-Hohenschönhausen, gegründet 1956, baute 2006 bis 2008 197 Wohnungen bei einem Bestand von 3641 Wohnungen und 4500 Mitgliedern. Sie reagierte damit auf Anfragen nach Wohnungen ohne Treppensteigen, nach Barrierefreiheit und nach einem großen Balkon. Begünstigt wurde die Entscheidung durch das Angebot für den Kauf eines Grundstücks. Auch der ständig sinkende Leerstand ließ einen Zuwachs sinnvoll erscheinen. Den Bedarf ermittelte der Vorstand  durch Befragung der eigenen Mitglieder, er warb aber auch Interessenten von außen. Eine sichere Bank konnte er sich schaffen, indem er für zehn Jahre 40 Wohnungen dem Verein Spastikerhilfe vermietete, der behinderten Menschen Lebenshilfe gibt. In der Schöneicher und in der Großen Leegestraße wurden siebengeschossige Häuser mit großzügig geschnittenen Wohnungen, großen Balkonen, Fußbodenheizung und Laminatfußboden errichtet. Die Nettokaltmiete beträgt bis zum 6. Obergeschoss 7 Euro/m2 und steigt im 7. Geschoss auf 7,50 Euro/m2, hinzu kommen Betriebskosten von 1,35 Euro und Heizkosten von 0,65 Euro/m2. Der Durchschnitt der Bestandsmieten ohne Neubau beträgt 4,65 Euro. Im Neubau zu bezahlen sind Bruttomieten von 430,87 Euro für eine Zweizimmerwohnung von 49 m2, 723,39 Euro für eine Dreizimmerwohnung von 82 m ² und 1023,84 Euro für eine Dachgeschosswohnung von 99 m2. Die Genossenschaft staffelt die Einlagen nach Wohnungsgröße. Zusätzlich zu 6 Pflichtanteilen in Höhe von 186 Euro ist je Quadratmeter Wohnfläche ein Geschäftsanteil von 31 Euro zu erwerben – bei 56 m ² 1736 Euro und bei 103 m ² 3193 Euro, den Bedürfnissen angepaßt. Vermietet ist der Neubau zu 100 Prozent. 

Eine breite Mittelschicht etabliert sich

Die Wohnungsbaugenossenschaft »Berolina« verfügt über 4000 Wohnungen, konzentriert in Berlin-Mitte und Adlershof. Das wachsende Durchschnittsalter der Mitglieder (aktuell 58 Jahre) regte den Vorstand zur Planung von Neubauten für ältere Menschen an. Die Genossenschaft nutzte sowohl ihren Standortvorteil als auch freie Flächen auf eigenem Grund und Boden zur sogenannten Nachverdichtung. Seit dem Jahre 2000 wurden 150 Wohnungen gebaut, davon 14 in Adlershof. Bevorzugt für ältere Mitglieder wurden zwei Häuser mit Zwei- bis Dreizimmerwohnungen von 45 bis 80 Quadratmetern errichtet. Die beiden Fünfgeschosser verfügen neben höherem Komfort über eine Bibliothek und Freizeiträume sowie eine Concierge. Dem Bedarf junger Familien mit Kindern angepaßt, sind weitere zwei Fünfgeschosser mit 23 Wohnungen im Bau. 10 Wohnungen werden 4 Räume und eine Wohnfläche von 100 bis 120 Quadratmetern haben. »Nicht für den Chefarzt oder den Bankdirektor, aber für eine breite Mittelschicht«, sagt der Vorstandsvorsitzende Frank Schrecker. Die breite Mittelschicht, zumeist neue Mitglieder, kann sich Nettokaltmieten von 7,50 Euro und 13 Euro im Dachgeschoss leisten. Der Durchschnitt der Bestandsmieten liegt bei 5,50 Euro einschließlich der bereits bezogenen Neubauwohnungen. Der Neubau, sagt Schrecker, muss sich in sich selbst rechnen. Die Bestandsmieter werden damit nicht belastet. Ein Zehnjahresplan sieht alle zwei Jahre einen Neubau von etwa 50 Wohnungen vor. Das Angebot richtet sich zunächst an Mitglieder, wird aber auch veröffentlicht. Genügend Nachfrage wird bei der guten Wohnlage erwartet – aber eben von gutverdienenden neuen Interessenten. Die nach Wohnungsgröße gestaffelten Geschäftsanteile dürften mit 2500 Euro bei den größten Wohnungen die Mitglieder nicht überfordern. 

Eine Mittelschicht will offenbar auch die Erste Wohnungsgenossenschaft Berlin-Pankow bedienen. Mit 4185 Mitgliedern und 3500 Wohnungen rangiert sie im Mittelfeld der Genossenschaften. Auch hier bewirkt das wachsende Durchschnittsalter der Mieter, dass die Genossenschaft den Bedarf an barrierefreien Wohnungen nicht decken kann. Interessenten für neue Wohnungen sind ältere Mitglieder, die »noch etwas für ihren Körper tun wollen«, wie das Vorstandsmitglied Markus Luft es ausdrückt, sowie Vorruheständler, die für ihr Alter eine bequeme Wohnung suchen. 

Im Bau ist der erste Dreigeschosser mit 21 Wohnungen, im Herbst 2011 folgt ein zweites Haus mit 23 Wohnungen. Die Häuser auf eigenem Grund und Boden in Niederschönhausen bieten zusätzlich zum gehobenen Standard Tiefgaragen. Die ersten 21 Wohnungen sind  vermietet – 8 an alte Mitglieder, 13 an neue. Die Mieten liegen nettokalt zwischen 9,00 und 9,70 Euro, erwartete Betriebskosten bei 2 Euro. Die Preise sind kostendeckend. Der Mietpreis war in den Gesprächen kein Thema, sagt Luft, Nachfrage ist genügend da. 

Der Anspruch an den Neubau läßt sich steigern. Die Wohnungsgenossenschaft Lipsia in Leipzig, gegründet 1954, erbaute 2008 bis 2010 die Rosental-Terrassen in Gohlis mit 127 Wohnungen. »Wem’s in Leipzig wohl ist, der zieht nach Gohlis« zitiert der Vorsitzende Wilhelm Grewatsch eine Leipziger Redensart. Gohlis ist die neue Villenstadt für Betuchte. Die »Lipsia« investierte für 2 Hektar Grund und Boden und für den Bau fast 21 Millionen Euro. Wie kam sie auf den Neubau? »Weil wir reich sind,« sagt Grewatsch, »wir haben vor sechs Jahren eine Spareinrichtung geschaffen und haben 36 Millionen Spareinlagen. Wenn 91 Prozent der Wohnungen schon saniert sind, fragt man, was man damit macht. Wir wollen uns als Genossenschaft erneuern, um ein neues Profil anbieten zu können. Wir haben eine Klientel, die sich hochwertige Wohnungen wünschen kann. Die Terrassen sind fast ein Luxusprojekt.« In Leipzig, im Osten? Woher kommen die Mieter? »Deutschlandweit. Wir haben sie im Bestand angeboten, ansonsten im einheitlichen Deutschland. Die Wohnungen waren sofort vergeben, an Manager, auch an Leute im Rentenalter, an junge Familien, aus München, aus Hamburg, weil die Mieten hier billiger sind. Viele wollten auch Eigentumswohnungen, weil 1300 Euro Miete viel ist, aber wir vermieten nur. Diese Wohnungen kosten zwischen 7,20 und 8,84 Euro/m2 kalt plus 1,80 Euro Betriebskosten. Wir haben auch eine Kindereinrichtung mit Fördermitteln der Stadt gebaut.« Karl Marx ist weg, aber es gibt Leute, die schon im Kommunismus leben. 

Diese Beispiele stellen Maren Kerns Auffassung in Frage, der Wohnungsneubau der Genossenschaften diene überwiegend der Versorgung der eigenen Mitglieder. 

Wer sind die Genossenschaften? Für wen bauen sie?

Hinter dem Stolz der Vorstände auf ihre neuen, schmucken Häuser verschwimmt völlig die Frage, für wen die Genossenschaften eigentlich bauen oder, anders gefragt, wer sind die Genossenschaften und was wollen sie sein? Sie entstanden im 19. Jahrhundert aus der Not der Arbeiter, in schlechten, engen, ungesunden Behausungen leben und hungern zu müssen, weil der Lohn ihnen nicht genug zum Leben ließ. Um der Not zu begegnen, gründeten sie mit ihren Spargroschen Wohnungs- und Konsumgenossenschaften. Nach 1945 waren die Genossenschaften ein wichtiger Faktor, um nach den Kriegszerstörungen die Wohnungsnot zu lindern. Insbesondere in der DDR förderten die Volkseigenen Betriebe, Verwaltungen und Gewerkschaften die Gründung von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG), um ihre Arbeiter mit Wohnungen versorgen zu können. Der Staat gab Kredite und plante die Bauleistungen, die Trägerbetriebe halfen mit Zuschüssen und betrieblichen Kapazitäten. Kein Zufall, dass in Sachsen zum Beispiel von 4 Millionen Einwohnern 800 000 Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft sind. Die Genossenschaftswohnungen machen im Freistaat 13 Prozent des Wohnungsbestands aus, in Dresden sogar 23 Prozent (67 000 Wohnungen), in Berlin elf (185 000 Wohnungen). Die Wohnungsbaugenossenschaft Lichtenberg verfügt über 10 000 Wohnungen, Die »Lipsia« über 9400, die Vereinigte Leipziger Wohnungsgenossenschaft über 8 000, die Baugenossenschaft Freier Gewerkschafter in Hamburg und die Genossenschaft Dresden-Johannstadt über je 7 600, die Braunschweiger Baugenossenschaft über 6 000 Wohnungen. Die Wohnungsbaugenossenschaft Burgstädt hält 1 150 Wohnungen in 6 Gemeinden. Ob groß oder klein, die Genossenschaften sind einerseits, was sie gern betonen, ein Marktfaktor, aber andererseits ein sicheres Zuhause für ihre Mitglieder. 

Für wen bauen sie ihre Wohnungen? Für betagte Mitglieder, für wohnungssuchende Arbeiter und Angestellte oder für eine »breite Mittelschicht« und gutsituierte Zuwanderer aus Hochmietzentren wie München oder Hamburg?

Überalterung und Verjüngung

Die Überalterung spielt eine zunehmende Rolle. Aus der Logik der Entstehung der AWG in der DDR in den 50er, 60er und 70er Jahren folgt, dass die Masse der damals jungen Mitglieder inzwischen das Rentenalter erreicht hat. Die Vorstände haben es mit einer Rentnergeneration zu tun. Sie reagieren mit der Modernisierung der Wohnungen oder mit Neubau. Für diese Generation hängt jedoch der Bezug einer Neubauwohnung von einer ausreichenden Rente oder von Ersparnissen ab. Nur ein kleiner Teil kann es sich leisten. Die meisten müssen verzichten. 

Die Überalterung  bringt eine Häufung von Todesfällen oder Umzügen in Pflegeheime mit sich. Die »Berolina« zum Beispiel hat einen »Umschlag« von 250 Mitgliedern im Jahr.

Neue Wohnungen werden den Mitgliedern angeboten und nach einer Wartefrist Außenstehenden, die eine höhere Miete bezahlen können. In der »Lipsia« zum Beispiel liegen die Neumieten bereits jetzt um 65 Prozent über den Bestandsmieten, die Extreme liegen beim Zwei- bis Dreifachen. Die Zweiklassenmitgliedschaft ist so programmiert. Solidarische Beziehungen zwischen Bestands- und Neumietern dürften kaum aufkommen. Es läuft hinaus auf eine Genossenschaft in der Genossenschaft. Eine Oase für Betuchte. Für die Gutverdienenden wäre es kein Problem, die Wohnungen in bester Lage auch zu kaufen. Einige Neumieter in Gohlis hätten den Kauf vorgezogen. Wiederum ist es für andere ein Schnäppchen, sich statt mit einem Kaufpreis von 200 000 oder 250 000 Euro mit Geschäftsanteilen von insgesamt 1989 Euro oder 2500 Euro in die Genossenschaft einzukaufen. Die Vorstände sind überzeugt, dass auch die teuren Neubauwohnungen noch ein gutes Angebot sind. »Wir bauen zu dem Preis, den wir fertigkriegen. Der Preis deckt die Kosten. Die begüterten Familien zu subventionieren, wäre ausgeschlossen. Dennoch hat unser Preis den Charakter eines Sonderangebots,« befindet Ulrich Wacker, bis Dezember 2010 Vorstandsvorsitzender der Pankower Wohnungsgenossenschaft. Von den Leitern »großer« Unternehmen klingt das plausibel. Der Bedarf ist da, das Angebot stimmig. Allein – ist das der Weg der Genossenschaften, der »Solidargemeinschaften«?

"Wir bauen nicht als soziale Einrichtung."

Welche Motivation, um nicht zu sagen welche Ideologie rankt sich um den Neubau in den Genossenschaften? In Hamburg fehlen 40 000 Wohnungen, wie der Verein »Mieter helfen Mietern« erklärt. Auch in Berlin droht eine Wohnungsnot. Die Nachfrage konzentriert sich auf kleine und preiswerte Wohnungen. Ein Druck entsteht zudem durch erzwungene Umzüge von Hartz-IV-Empfängern. Für die gibt es jedoch nach übereinstimmender Auffassung der Vorstände kein Neubauangebot. »Für den klassischen Hartz-IV-Empfänger können sie es nicht bauen,« sagt Maren Kern. Und Ulrich Wacker meint: »Der Neubau geht für Arme nicht, denen bleibt er verschlossen. Wir bauen nicht als soziale Einrichtung.« Markus Luft: »Die Genossenschaften dürfen nicht die Armenhäuser der Stadt werden. Wir machen die Genossenschaft kaputt, wenn nur die Ärmsten der Gesellschaft hier wohnen.« »Wir wollen attraktive Vermieter sein und nicht der billige Jakob«, konzediert Frank Schrecker.

Folgt man diesen Meinungen, ist für (neue) Hartz-IV-Empfänger in den Genossenschaften kein Platz. Die Wohnungsgenossen besitzen nicht viel, aber damit bleiben sie unter sich. Zur solidarischen Aufnahme Schlechtergestellter gibt es keine Neigung. Die soziale Abgrenzung gibt es auch in anderer Form. Wo sich gut verdienende junge Wohnungsinteressenten zusammenfinden, bilden sie sogenannte Baugruppen in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder sie gründen Genossenschaften. Ein Beispiel ist die Genossenschaft Möckernkiez in Berlin, für die Geschäftsanteile von 24.000 bis 84.000 Euro einzuzahlen sind (600 Euro/m2). In Hamburg sind es in ähnlichen Fällen 20.000 bis 30.000 Euro – nichts für Leute, die erst ihre Ersparnisse aufgebraucht haben müssen, ehe sie Arbeitslosengeld II bekommen. 

Genossenschaften als Preistreiber

Zur Lösung des Wohnungsmangels, besonders an preiswerten Wohnungen, tragen die Genossenschaften bisher nur unwesentlich bei. Im Gegenteil. In Berlin, Leipzig und Chemnitz mutieren die Genossenschaften zu Preistreibern, denn ihre Neubaumieten wirken unmittelbar auf den Mietspiegel. In Hamburg will man das Versorgungsproblem anders angehen. »Es gibt einen immer größeren Bedarf an hochwertigem und dabei preiswertem Wohnraum,« sagt Ulrich Stallmann, Vorsitzender des Arbeitskreises Hamburger Wohnungsgenossenschaften. »Unser Ziel ist es, die Nachfrage mit bezahlbarem Wohnraum zu bedienen.« Mit den 130 000 Genossenschaftswohnungen und (noch) 100 000 Sozialwohnungen könnte  nach Meinung des Wirtschaftswissenschaftlers Joachim Bischoff dämpfend auf die Mietpreise eingewirkt werden. Die Pläne des neuen, SPD-geführten Senats lassen jedoch befürchten, dass der frei finanzierte Wohnungsbau mit jährlich 4 000 Neubauwohnungen gegenüber 2 000 städtischen und mit Nettokaltmieten von 12 bis 14 Euro pro Quadratmeter die Mieten weiter in die Höhe treibt, wie  Bischoff warnt.

Spaltung der Mitglieder droht

Die gegenwärtige Neubaupolitik der Genossenschaften läuft auf eine Spaltung ihrer Mitglieder hinaus. Nicht betagte, behinderte oder kinderreiche Mitglieder werden mit bequemen neuen Wohnungen zu bezahlbaren Mieten versorgt, sondern vorwiegend Aussenstehende, die sich eine teure Wohnung leisten können, ohne den Kaufpreis von 200 000 bis 400 000 Euro aufbringen zu müssen. Mit der Mitgliedschaft erwerben sie zudem das Dauernutzungsrecht an der Wohnung.

In Berlin haben die Regierungsparteien SPD und Die Linke ein Polster für bezahlbare Mieten erkannt. Nach geltendem Mietrecht werden die Kosten der Modernisierung mit 11 Prozent jährlich umgelegt. Die haben die Mieter nach 9 bis 10 Jahren abgezahlt wie ein Darlehn. Von da an heimsen die Vermieter Mehreinnahmen ein. Das Berliner Abgeordnetenhaus hatte im Juni 2010  auf Vorschlag der Koalition beschlossen, »anzustreben, dass die Modernisierungsumlage von 11 Prozent zeitlich begrenzt werden kann.« In der groß angekündigten Bundesratsinitiative zur Sicherung bezahlbarer Mieten, erarbeitet von der Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), ist diese Forderung nicht mehr enthalten. Es soll lediglich die Umlage von 11 auf 9 Prozent gesenkt werden. Die Befristung der Umlage ist vorerst vom Tisch.

Aber was wäre wenn? Angenommen, die Genossenschaften erkennten ihre soziale Verantwortung und verzichteten freiwillig nach Ablauf der Amortisation auf die Modernisierungsumlage, dann hätten die Genossen niedrigere Mieten und die Genossenschaften massenhaften Zulauf. Die auf den Baukosten beruhenden Neubaumieten klafften mit den Bestandsmieten weit auseinander. Die Kluft zwischen »armen« und »reichen« Genossen wüchse. Müßte dann doch ein Weg für einen finanziellen Ausgleich zwischen Alt- und Neumietern gefunden werden? Hier könnten sich genossenschaftliche Solidarität und Verantwortungsbewusstsein bewähren, zum Beispiel durch dosierten Einsatz des Überschusses der Modernisierungsumlage. Genossenschaftlicher Grundsatz ist ohnehin, keinen Gewinn zu erwirtschaften. Mit maßvollen Preisen bei Neuvermietung würde auch der Druck auf den Mietspiegel gedämpft.

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