Berlin, BRD (Weltexpress). Faszinierend war immer wieder die lebendige Atmosphäre in Hanoi. Das Gesicht der Stadt war vom Krieg gekennzeichnet. Davon zeugten Ruinen in allen Stadtteilen. Trotz des Bombenterrors gab es jedoch keine Anzeichen von Panik oder Angst. Von den 1,1 Millionen Einwohnern waren noch etwa 600.000 in der Stadt verblieben. Alle Ansässigen, die keine Produktions- oder Kampfaufgaben zu erfüllen hatten und nicht in öffentlichen Dienststellen arbeiteten, waren in die Bergregionen evakuiert worden, darunter auch 200.000 Schulkinder mit ihren Lehrern. Trotzdem pulsierte in den Hauptstraßen ein beträchtlicher Verkehr. In den Stunden vor und nach Schichtbeginn musste man sich mit dem PKW den Weg durch die Radfahrerkolonnen frei hupen. Angehörige der Kampfgruppen der Betriebe hatten Karabiner geschultert und Patronengurte umgehängt. LKW, mit grünem Laubwerk getarnt, fuhren vorüber. Nie gelang es den Aggressoren der Luft, den Strom für längere Zeit zu unterbrechen. Sicher war das ein Verdienst der Luftabwehr, die auch um das Hanoier Kraftwerk einen wirksamen Sperrgürtel formiert hatte.

Am 29. und 30. Januar 1968 erlebten wir unser erstes Mondjahr, das traditionelle Tetfest. Nach dem alten Kalender begann das 4.605. Mondjahr, das nach der Folge des Tierkreises im Zeichen des Affen stand. Das Tet ist das größte Fest des Jahres und übertrifft in seiner Bedeutung unser Weihnachts- und Neujahrsfest. In den tropischen Breiten ist es zugleich Frühlingsanfang, dazu das Fest der Ernte des zehnten Monats und nach altem Brauch auch Gedenktag für die Toten.

An diesen Tagen wurden einmal mehr Lebensmut, Würde und die Kraft sichtbar, welche die Vietnamesen aus ihrer Kultur und Geschichte schöpften. Hanoi, dem der Krieg so viele Wunden schlug, hatte ein, wenn auch bescheidenes, Festkleid angelegt. Auf dem traditionellen Blumenmarkt in der Duong-Than-Straße und auch an anderen Stellen wurden seit Tagen die bekannten Tet-Blumen verkauft: Mandelbäumchen mit zarten roten Blüten, Pfirsichblüten und Narzissen, aber auch Gladiolen, Astern, Stiefmütterchen, farbige Gerbera und dazwischen Orchideen. Am meisten gefragt waren die etwa einen Meter hohen Mandarinenbäumchen mit ihren kleinen gelbroten Früchten, die im Tetfest die Stelle unseres Weihnachtsbaumes einnehmen. Zwischen den Blumenständen wurden Früchte angeboten: Bananen, Apfelsinen, Mandarinen und Pampelmusen, große wie kleine Melonen. In einer Tombola gab es als Hauptgewinn ein Moped. Statt Glückwunschkarten wurden Spruchbänder aus rotem Papier bevorzugt, darauf Wünsche für das Neue Jahr, die Familie, den Frühlingsanfang.

Trotz Rationierung hatten die Handelsorgane vorgesorgt, dass die traditionellen Festspeisen nicht fehlen. Je Einwohner, ob groß oder klein, hatte es im ganzen Land zwei der etwa ein Kilo wiegenden Banh Chung, eine Art Kuchen aus Klebereis mit zerstampften Bohnen und Schweinefleischstücken, gegeben. Das ist für den Vietnamesen zum Tet das gleiche wie für uns die Weihnachtsstolle. Allerdings wird Ban Chung nicht gebacken, sondern, in große Dongblätter eingewickelt und gekocht. Als bevorzugte Festspeisen kommen dazu Fleisch und Fisch in Nuoc Mam, der würzigen Fischsoße, gesalzene Zwiebeln und Gemüse.

Für die Jüngsten fehlten natürlich nicht die Süßigkeiten, die aber auch die Erwachsenen nicht verschmähten. In den Früchtepackungen, die in der Zuckerstraße, der Pho Hang Duong, angeboten wurden, gab es vor allem kandierte Erdnüsse und Lotoskerne, Backpflaumen, gezuckerte Mandarinen und dazwischen Ingwerstäbchen, deren aromatischen Geschmack die Früchte und Zuckerwaren in sich aufnehmen.

Der Frühlingsanfang war wörtlich zu nehmen. Nach den vergangenen Winterwochen, bei denen die Temperaturen bis auf zehn Grad plus sanken, und den kühlen Regentagen, zeigt das Thermometer am letzten Tag des Mondjahres 22 Grad im Schatten und über der Stadt lag strahlender Sonnenschein. Zehn Grad plus waren für das tropische Nordvietnam außergewöhnlich niedrige Temperaturen gewesen. So hatten wir unsere „Kriegsberichterstattung“ etwas aufgelockert und unter der Headline „Kältewelle“ in Hanoi eine Nachricht über die zehn Grad plus nach Hause gekabelt. In Berlin, wo tatsächlich Minusgrade herrschten, war das plus hinter der zehn vergessen worden. Der nordvietnamesische Botschafter in Berlin war entsetzt, er rief bei der Generaldirektorin Deba Wieland an, um näheres zu erfahren. Zehn Grad Minus, das sei eine Naturkatastrophe, da drohe vielen Menschen der Erfrierungstod. Er wurde beruhigt, dass es sich um einen Irrtum handelte und wir erhielten eine Eilnachricht, sofort nochmals einen „Wetterbericht“ aus Hanoi zu senden.

Der Beginn des Mondjahres 1968 wurde zu einem herausragenden Ereignis des Krieges. In Südvietnam gingen die Befreiungskämpfer in der Nacht zum 31. Januar zu einer den Gegner völlig überraschenden und die strategische Wende des Krieges einleitenden Offensive über. Sie ging in die Geschichte als die Tet-Offensive, von den Vietnamesen „Offensive des Affen“ genannt, ein. Von der am 17. Breitengrad gelegenen Kreisstadt Dong Ha bis hinunter zur südlichsten Provinz Bac Lieu griffen die Truppen der FNL das über 500.000 Mann starke amerikanische Expeditionskorps und die 700.000 Bajonette zählende Saigoner Armee in zahlreichen Stellungen und Stützpunkten an und drangen sogar in Hue und Saigon ein. Eine Offensive dieses Ausmaßes schien zunächst kaum glaubhaft, aber bald bestätigten sogar die amerikanischen Nachrichtenagenturen die Vorgänge und sprachen von einer Katastrophe für das Pentagon und seine Saigoner „Hilfstruppen“. Da die südvietnamesischen Einheiten in der Regel die US-Stützpunkte im Vorfeld zu verteidigen hatten, wurde ihnen zunächst die Schuld für dieses unglaubliche Desaster in die Schuhe geschoben. Aber die These ließ sich nicht lange aufrecht erhalten, denn ein Kommando der Befreiungskämpfer hatte sogar die US-Marines vor dem „Weißen Haus“ von Saigon, wie die USA-Botschaft genannt wurde, überrumpelt, war in das schwerbewachte Gebäude eingedrungen und hatte sich dort verschanzt. Nach einem mehrstündigem Feuergefecht, gelang es ihnen, wie es in einem „VNA“-Bericht hieß, „sich vom Gegner zu lösen“, und zu ihrer Einheit zurück zu kehren. Die Offensive war ein wesentlicher Faktor, der Washington zwei Monate später nicht nur zwang, in Paris Friedensgesprächen zuzustimmen, sondern später auch die FNL als Verhandlungspartner zu akzeptieren.

Anmerkung:

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