Berlin, Kienbaum, Deutschland (Weltexpress). Johannes Vetter, Thomas Röhler und Andreas Hoffmann sind die Hoffnungen der Deutschen für die Leichtathletik-WM in London.
Das Ende von Wladimir Klitschko und Usain Bolt
Box-Weltmeister Wladimir Klitschko (41, Ukraine) hat die Fäustlinge an den berühmten Nagel gehängt und aufgehört. Verabschieden will sich nach den heute beginnenden Weltmeisterschaften der Leichtathleten in London mit dem elfmaligen Sprint-Weltmeister und achtfachen Olympiasieger Usain Bolt (30, Jamaika) eine weitere Lichtgestalt des Weltsports!
Was bedeutet das Ende der Ära Bolt für die Leichtathletik?
Darauf antwortete Thomas Röhler, Olympiasieger 2016 im Speerwerfen: „Bolt hat zweifellos sehr viel für die Popularisierung der Leichtathletik getan“, sagte der Jenaer. „Aber nun ist auch die Chance, zu zeigen, dass die Leichtathletik eine größere Bewegungsvielfalt bietet als nur Sprinten und Laufen.“
Deutsche Medaillenhoffnungen
Wenn man so will, ein Plädoyer, künftig auch Leistungen im Werfen oder Springen zu würdigen. Aber natürlich war Bolt nur ein Nebenthema auf der Eröffnungs-Konferenz des Medientages, zu dem der Leichtathletik-Verband (DLV) in der Vorwoche nach Kienbaum, wichtigstes Trainingszentrum des deutschen Sports östlich von Berlin, eingeladen hatte.
Neben Röhler saßen außer der sportlichen Verbandsführung nicht ohne Grund zwei speerwerfende Kollegen, die gleichfalls Medaillenhoffnungen mit auf die Reise nehmen. Und zugleich Röhlers These von der Vielfältigkeit der olympischen Kernsportart bestätigten.
Ein Trio, drei Typen
Wie meisterlich und lehrbuchreif das deutsche Trio mit dem 800 Gramm schweren Sportgerät umgehen kann, verdeutlicht in der Zahlensportart Leichtathletik der Blick auf die Jahres-Weltbestenliste: 1. Johannes Vetter (24 Jahre/ Offenburg) 94,44 m (Deutscher Rekord), 2. Thomas Röhler (25/ Jena) 93,90 m, 3. Andreas Hoffmann (25/ Mannheim) 88,79 m. Alle Achtung! Doch vom Habitus und dem spezifischen athletischen Potenzial haben sie unterschiedliche Voraussetzungen: Der sportlich bislang Erfolgreichste, Röhler, Student Sportwissenschaften und Wirtschaft, bringt bei 1,90 m Größe lediglich 82 kg auf die Waage. Damit wirkt er gegen seine Mitstreiter fast wie ein Hänfling. Vom Äußeren könnte man ihn jederzeit für einen Sprinter oder kräftigen Weitspringer halten – aber nicht für einen Werfer der Weltklasse!
Einen gegensätzlichen Werfertyp verkörpert Andreas Hoffman, Student der Sportwissenschaften: Mit 1,95 m und 108 kg bringt er wahre Herkules-Maße mit. Würde so problemlos ins Lager der Diskuswerfer oder Kugelstoßer passen oder als Abräumer im American Football seinen Mann stehen!
Genau dazwischen passt der Jahresweltbeste, Johannes Vetter, zur Zeit Sportsoldat, mit 1,88 m und 105 kg Explosivkraft!
Die personifizierte Unterschiedlichkeit schlägt sich auch unterschiedlichen Technik-Bewegungsmustern nieder. „Andreas wirft mit kurzem Anlauf und drei Schritten dank seines enormen Armzuges sicherlich am Weitesten. Johannes hat eine sehr stabile und kompakte Wurftechnik aus Anlauf, Stemmschritt und Abwurf und kann so bei allen Bedingungen auf Weite kommen“, sagt Röhler, dessen Homepage einem Minilexikon über Speerwerfen nahe kommt.
Er selbst war einst als Jugendlicher vom Dreisprung ins Werferlager gewechselt. „Thomas hat die höchste Anlaufgeschwindigkeit in der Weltspitze und einen brutalen Stemmschritt, aus dem er eine perfekte Abwurftechnik mit dem geradlinigen Treffen des Speeres wie kaum ein anderer bei der Kraftübertragung machen kann“, meint Bundestrainer Boris Obergföll (43). Unter seinem Geburtsnamen Henry ist er einst WM-Dritter geworden, hat die 90-m-Grenze übertroffen und nach der Heirat der Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll deren Familiennamen angenommen.
Wie ist es zu diesem Novum in der Chronik des DLV gekommen, dass drei Deutsche die Weltrangliste anführen?
„Alle drei sind überaus ehrgeizig und motiviert. Haben ihr vorhandenes Talent zielstrebig entwickelt. Mit guten Heimtrainern und gutem Umfeld zuhause und pushen sich gegenseitig. Tauschen sich aus und anerkennen neidlos des anderen Leistung“, sagt der 43-Jährige. Dass auch er seinen Anteil am Zustandekommen einer leistungsfördernden und im Umgang miteinander durchaus freundschaftlichen Atmosphäre hat, dürfte unbestritten sein. Ob sich der neue Rekordhalter Johannes Vetter so großartig verbessert hätte, wenn er nicht von Dresden zur Trainingsanleitung durch den Bundestrainer nach Offenburg umgezogen wäre, ist mehr als unwahrscheinlich.
Der Weltrekord des legendären Tschechen Jan Zelesny, der vor 21 Jahren in Jena (!) den Speer auf 98,48 m schleuderte, wurde in Kienbaum nur kurz thematisiert. Natürlich werde er eines Tages übertroffen, auch mit verbesserten Geräten und bei optimalen Bedingungen. Wobei Röhler wegen aerodynamischer Einflüsse glaubt: „In einem geschlossenen oder überdachten Stadion dürfte der Weltrekord aufgrund fehlender Thermik nicht möglich sein.“
WM-Erwartungen
Komplizierte Windverhältnisse im olympischen Stadion in London und deshalb eher geringere Weiten erwartet der Bundestrainer für seine Schützlinge am 10. (Qualifikation) bzw. 12. August (Finale). Da wäre dann wohl aus dem Trio Röhler im Vorteil, sagt Vetter: „Denn er hat die meiste Erfahrung und kann sich auf alle Verhältnisse einstellen.“
Riegenführer Röhler zu den WM-Erwartungen: „Ich denke, jeder von uns will und kann gewinnen. Wir werden versuchen unser Bestes zu geben und wenn das gelingt, muss man zufrieden sein. Auch wenn andere besser waren an diesem Tag. Es ist ein Kampf Mann gegen Mann, möglicherweise auch mit den Bedingungen. Unsere Favoritenrolle nehmen wir an. Aber ich weiß, da kommen auch starke Jungens, die heiß darauf sind, uns das Leben schwer zu machen. Und im Speerwerfen ist es ebenso, dass mitunter nicht der Beste gewinnt.“
Dass Speerwerfen mittlerweile globaler betrieben wird und nicht nur in Europa beliebt (Finnland, Rußland, Tschechien, Lettland), dokumentierte das olympische Siegertreppchen im Vorjahr in Rio de Janeiro. Da wurde Röhler von Athleten aus traditionell starken Laufregionen wie Kenia und Trinidad Tobago flankiert.
Kienbaum und die Medaillenhoffnungen der Deutschen
Das rund einwöchige WM-Trainingscamp in Kienbaum, dessen Status paar Tage zuvor durch die Bundeskanzlerin als „Trainingszentrum des olympischen und paralympischen Sports“ aufgewertet wurde, diente laut DLV-Sportdirektor Idriss Gonschinska vor allem dazu, den auch für die Einzelsportart Leichtathletik wichtigen „Teamspirit“ zu stärken. Dass Gefühl zu stärken, jede einzelne Leistung sei wichtig und wertvoll für den Gesamterfolg.
Die Erfolgsquote von 2015 mit acht Medaillen (ein „sehr, sehr gutes Ergebnis“) könne diesmal nicht der Maßstab sein. Am Beginn eines neuen Olympiazykluses und dem Abschied oder Ausfall von Leistungsträgern wie: Christina Obergföll, Linda Stahl (beide Speer) und Betty Heidler (Hammerwurf) oder Cindy Roleder (Hürden), Weltmeisterin Christina Schwanitz (Kugelstoßen), Christoph Harting, Olympiasieger) und Daniel Jasinski (beide Diskus; Olympia-Dritter).
Gonschinska rechnet mit der Medaillenvergabe an mehr als 40 Nationen und an 20 bis 25 bei den Goldmedaillengewinnern.
Neben den Speerwerfern Johannes Vetter, Thomas Röhler und Andreas Hoffmann dürften aus dem 71-köpfigen DLV-Aufgebot vor allem Kugelstoßer David Storl (Chemnitz), Zehnkämpfer Rico Freimuth (Halle), Siebenkämpferin Claudia Salan-Rath (Saarbrücken), Diskuswerfer Robert Harting (Berlin) und dessen Frau Julia, Nadine Müller (beide Diskus/Halle), 1500-m-Läuferin Konstanze Klosterhalven (Leverkusen), Weitspringerin Alexandra Wester (Köln), Stabhochspringer Raphael Holzdeppe (Zweibrücken) heimliche oder reale Medaillenhoffnungen hegen.