Soll es ein anderer Mensch sein oder eine andere Welt? – „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht im Theatersommer Netzeband

"Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht im Theatersommer Netzeband 2017. © 2017, Theatersommer Netzeband

Netzeband, Brandenburg, Deutschland (Weltexpress). Theatersommer Netzeband mit „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht. „Ein guter Mensch sein! Ja, wer wärs nicht gerne, / sein Gut den Armen geben, warum nicht?… / Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Das Gutsein

hat Bertolt Brecht schon in der Dreigroschenoper (1928) beschäftigt. Kann der Mensch im Kapitalismus gut sein? Womit gemeint ist – der kleine Mann, das gewöhnliche Volk. Ihre verzweifelten Versuche, ein gutes Leben zu haben und gut zu sein, macht Brecht zu einer Parabel, „Der gute Mensch von Sezuan“. Geschrieben im dänischen Exil von 1938 bis 1940 unter Mitarbeit von Ruth Berlau und Margarete Steffin, uraufgeführt 1943 im Züricher Schauspielhaus mit der Musik von Paul Dessau. Es ist angelegt in China – nach seiner Methode der Verfremdung –, aber Brecht legte in der Edition von Suhrkamp, nach der Gründung der Volksrepublik China 1949, Wert auf die Feststellung: „Die Provinz Sezuan der Fabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.“

Die Fabel

Auf Beschluss der Götter werden drei der höchsten Götter auf die Erde, konkret nach Sezuan, entsandt, um zu prüfen, ob ihre Gebote, gut zu sein und Gutes zu tun, eingehalten werden. Wahrscheinlich besteht Grund zu zweifeln, aber natürlich wollen sie ihre Dogmen in der Praxis bestätigt sehen. Der erste Rückschlag ist die Suche nach einem Nachtquartier, das ihnen der Wasserverkäufer Wang verschaffen will. Alle reichen Bürger lassen ihn abblitzen, doch die Prostituierte Shen Te nimmt sie auf – ein willkommener Beweis, dass es gute Menschen gibt. Aber Shen Te muss sie enttäuschen. Ihre gute Tat kostet sie vielleicht ihr Zimmer, weil sie heute nichts verdient hat und ihre Miete nicht bezahlen kann. Die Erleuchteten finden eine Lücke im Ratsbeschluss und bezahlen ihr Nachtlager großzügig. Damit kauft Shen Te einen kleinen Tabakladen, dessen Existenz sie selbst ständig in Frage stellt, weil sie alle Armen ihres Viertels verpflegt und beherbergt, was natürlich keine Käufer anzieht. Auch die Armen werden in ihrer Not unersättlich. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Shen Te verliebt sich in einen arbeitslosen Flieger, dem sie alles Geld gibt, damit er in Peking eine Stelle antreten kann. Der, in typischem Machogehabe, denkt nur an sich und opfert die kleine Existenz Shen Tes. Die Frau ist nur Werkzeug. Als Notbremse erfindet Shen Te den Vetter Shui Ta, der mit den üblichen Grausamkeiten eines kleinen Geschäftsmannes alle Zusagen widerruft, die Armen vertreibt und die Hochzeit mit dem Flieger platzen lässt – in Wahrheit lässt Shen Te sie platzen. Weil Shen Te nichts Gutes mehr tut, wird Shui Ta verdächtigt, sie ermordet zu haben. Er kommt vor den Gerichtshof, den just die drei Götter darstellen. Er outet sich als Shen Te und diese sich wiederum als Urheberin des falschen Vetters. Sie offenbart ihren Konflikt: „Für eure großen Pläne war ich armer Mensch zu klein.“ Die Götter sehen ihre Theorie gefährdet, scheuen ein Urteil und lassen Shen Te in ihrer Not mit dem Rat zurück, sie solle nur gut sein und alles werde gut. (Woran erinnert uns das? Jeder habe die Chance, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, er müsse nur wollen). Das Stück: Pech auf der ganzen Linie. Brecht, der Didaktiker, erzieht sein Publikum: „Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: / Sie selber dächten auf der Stelle nach / Auf welche Weis dem guten Menschen man / Zu einem guten Ende helfen kann. / Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß: / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“ Das schreien die Schauspieler.

Der Theatersommer Netzeband

besteht seit 21 Jahren. Er hatte mit Erfolg Shakespeare, Goethe, Grillparzer, die Nibelungen, aber auch Schmarren wie Peer Gynt gespielt. Den meisten Stücken hat Frank Matthus eine antikapitalistische Note verpasst, zum Beispiel in »Kriemhilds Rache« die Machtpolitik der Supermacht gegenüber den Satrapenstaaten angeprangert. Seit Jahren wird hier kritisiert, dass das Ensemble keine Stücke aus der DDR spielt – Peter Hacks, Heiner Müller, Volker Braun, Erwin Strittmacher, Helmut Baierl oder Rudi Strahl. Nun endlich haben Matthus und seine Leute Brecht aufgelegt. Bestens geeignet für das in Netzeband entwickelte Masken-Synchron-Theater und hochaktuell ist „Der gute Mensch von Sezuan“. Während Frank Matthus im Programmheft ausweicht: auf gut und böse sein gäbe es abschließend keine Antwort, ist sie bei Brecht klar: In der Ausbeutergesellschaft kann der Mensch nicht gut sein, sonst geht er unter. Regie und Schauspieler haben es verstanden und identifizieren sich mit Brechts Parabel. Da muss man nichts ausdeuten, die Fabel ist einfach und wird einfach erzählt, mit den Mitteln des Synchrontheaters, wonach die Dialoge eingespielt werden und die Schauspieler die Figuren vorführen – mit Gesten und Pantomime, vom Überhöhten bis zur Klamotte.

Die Regisseure

Christine Hofer und Sascha Mey geben Im bewährten Stil noch mehr Gas (warum sie sich „Regiewerkstatt“ nennen, könnte der Mode entspringen, einfache Dinge mit aufgeblasenen Unworten zu „veredeln“. Wo eine neue Form ist, nennt es sich heute „Format“). Es wird noch mehr gerannt, geflitzt und getanzt als in den Vorjahren. Dabei gibt es schöne Regieeinfälle wie das Vorfahren des Barbiers Shu Fu (des Magnaten des Viertels) mit einem Motorroller, dem ein Sklave vorauseilt, um einen roten Teppich auszubreiten. Die Brechtsche Gardine wird dramaturgisch genutzt, um Höhe- oder Schlusspunkte aufzumachen oder zu setzen. Ob das überreiche Pantomimenspiel dem Sinne Brechts entspricht, welcher Haltungen durch knappe, präzise Gesten „ausstellte“ oder „vorführte“, sei dahingestellt. Das Synchrontheater als Genre hat seine eigenen Formen, aber die pantomimische „Sprache“ verschiedener Rollen wie Shen Te oder Wang gleicht einander auffallend und verwischt eine Charakterisierung der Figuren. Der Wasserverkäufer spielt eine Art Moderator oder Zeremonienmeister, eine Rolle, die von Brecht abgeleitet ist, der bei ihm mehr der Erzähler der Fabel ist und mitunter das Spiel anhält, um eine Situation zur Diskussion zu stellen. Der Polizist ist als preußischer Gendarm mit schnoddrigem Amtsjargon angelegt: erheiternd, aber völlig harmlos. Wie würde ein chinesischer Polizist agieren, höflich, verbindlich, doch mit raubtierhafter Grausamkeit; keine Ulkfigur. Die Inszenierung hat dennoch eine schöne Spannung. Wo manchmal Klamauk vorherrschte, wird das Spiel plötzlich todernst, wenn alles schief geht, die Heirat scheitert und Shen Te ausgeplündert und mit leeren Händen dasteht.

Die Musik

Paul Dessaus wurde mit Genehmigung des Suhrkamp-Verlags weggelassen (zum Beispiel das berühmte Elefantenlied) und durch populäre Songs ersetzt, zu denen tolle Tänze vorgeführt werden. Interessant wäre schon gewesen, wie Dessaus Musik in dieser Umgebung geklungen hätte. Betrübt sieht der Kritiker, dass die Götter nicht wie bei Brecht „oben, lächelnd und winkend verschwinden – in ihr Nichts“. Das geht schlecht unter freiem Himmel, aber die Techniker des Theatersommers haben schon manches erfunden.

Bei aller Kritik

eine gelungene Inszenierung, angepasst an den Gutspark am Fuße der Temnitzkirche. Von 18 Darstellern sind vier Profis. Einen Unterschied merkt man nur, wenn man es weiß. Große Mimen sind Daria Monciu (Shen Te / Shui Ta mit der Stimme von Esther Klein), Cornelia Jahr (Frau Yang / Denise Matthey) und Stefan Schreiber (Shu Fu / Paul Steinbeck), wobei sich die „Mimik“ in den Stimmen und Gesten äußert. Die Masken von Jana Fahrbach sind Kunstwerke. Eine erfahrene, routinierte Kultur des Spiels und der Spieler besticht. Der Theatersommer hat einen Stamm von Laienschauspielern aus Netzeband und Umgebung, aus der Jugendkunstschule Neuruppin und dem evangelischen Gymnasium Neuruppin aufgebaut, die jedes Jahr mit Begeisterung auf ihre erneute Besetzung warten. Brecht wäre glücklich gewesen. Aus Laientheatern hat er Top-Schauspieler und Regisseure ausgewählt, wie Erich Franz und Manfred Wekwerth.

Christian Baron hat Brecht im „Neuen Deutschland“ einen Großdichter genannt. Das hat Brecht nicht nötig. Doch sein Genie fesselt die Zuschauer und entlässt sie nicht ratlos, sondern aufgeklärt.

Nächste Vorstellungen

am 5., 11., 12., 18., 19., 25. und 26. August 2017 beim Theatersommer Netzeband. Von Berlin aus ist Netzeband mit der Regionalbahn erreichbar.

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