Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein … ist gar wohlgemut … aber Mutter weinet sehr … läuft nach Haus geschwind – Serie: Über die Psychotraumatisierung in der kindlichen Entwicklung (Teil 3/5)

"Opferlamm" (Illustration: Detlev Eilhardt)

Dieses Lied hatte ich als typische Veranschaulichung des Ablösungsvorganges schon oft im Kopf. Es tauchte ebenfalls bei einem Patienten in seinem Kopf auf, als wir die Hintergründe seiner Konflikte besprachen. Die Ablösungsproblematik und in dieser die Selbstbestimmung kann sich in vielen Alttagssituationen widerspiegeln, wo es vordergründig um ganz andere Dinge geht. Aber in dieser steckt die Brisanz. Wie das?

Ihm als Angestelltem einer Versicherungsgesellschaft und der Belegschaft wurde mitgeteilt, dass zur Hochhaltung der Rendite und der Topgehälter der oberen Manager Arbeitsplätze abgebaut werden sollten. Infolge der vermeintlichen Fremdbestimmung reagierte er erst wütend, dann infolge der vermeintlichen Ohnmacht resignativ und depressiv. Er meinte, es stecke der Zwang drin, die Vorgaben zu erfüllen, gute Leistung zu zeigen und zu funktionieren, er lebe wie unter einer Glocke. Sonst drohe Liebesentzug, und er fühle sich allein gelassen. Er möchte geliebt und gelobt werden. Die Versicherung sei wie die Mutter, die in Tränen ausbreche und die er nicht im Stich lassen dürfe. Sonst sei er ein böser, schlechter Junge. Im Blick der Anderen finde er den Blick der Mutter. In dieser Form sei seine innere Mutter immer noch vorhanden.

Dieser Patient hatte sich zwar äußerlich von seiner Mutter gelöst, aber in der Übertragung findet sich diese Problematik vielfältig wieder. Die Ablösung kann durch verschieden Faktoren erschwert oder unmöglich gemacht werden, wie negative Selbstzuschreibung, als Folge schlechtes Selbstbewusstsein und mangelndes Selbstvertrauen, Ängste vor einer bedrohlichen Umwelt, Loslösungsschuld, etwa für die Mutter ein und alles zu sein und sie im Stich zu lassen, dadurch Größenbilder, die sich im weiteren Leben nicht bestätigen und zu Versagensbildern führen, Anspruch auf Dankbarkeit, Wiedergutmachung und Vergeltung.

Bisher wurden im Zustand der Psychotraumatisierung des frühen Umfeldes des Heranwachsenden und der Prägung seines Geistes und der Seele in Teil 1 eine allgemeine Einführung, Aspekte der Bindungstheorie und der strukturellen Persönlichkeitsstörungen, in Teil 2 die Bedrohungen im Kind und durch das Kind, Projektion und projektive Identifizierung, dadurch die Wahrnehmung des Kindes als Selbstobjekt oder erweitertes Selbst, der fehlenden und falschen Empathie und dessen Folgen und die Rollenumkehr, die Paternalisierung, beschrieben. Im Folgenden sollen weitere Aspekte angesprochen werden. Ein Anspruch der Vollständigkeit kann naturgemäß in der Vielfältigkeit nicht erfüllt werden. Außerdem sind die Wahrnehmungen und Erklärungsmodelle zu vielfältig.

Um eine eigene, autonome Persönlichkeit bzw. Identität zu entwickeln, ist das Kind auf Bestätigung der eigenen Position, Bedürfnisse und Interessen, eigenen Wahrnehmung und positive Spiegelung, dem berühmten Glanz im Auge der Mutter, der Freude der Eltern am Kind, angewiesen. In der frühen Kindheit sind dies mehr Aufmerksamkeit, gelassene Zuwendung, man spricht auch von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit, später mehr Bestätigung der Selbstentfaltung, eigener Positionen, Ziele und Interessen im abnehmenden Wechsel zur Nähe, den nahen Bezugspersonen und der Familie.

Mit der Akzeptanz der Autonomie durch das Umfeld ist gleichzeitig einen innere Nähe und Gemeinsamkeit geschaffen. Also braucht auch der Heranwachsende für seine Autonomie Bestätigung, sozusagen den Segen seiner Eltern. Die Freude am Kind geht natürlich durch Ängste und Sorgen verloren. Ist die Autonomie des Kindes und Heranwachsenden von Ängsten seitens der Eltern massiv besetzt, können sie diese nicht vermitteln.

Definitionsmacht der Eltern

Da das Kind noch keine eigenen Bilder, Werturteile und Bedeutungen bei seiner Geburt besitzt – biologisch ist es im Verhältnis zu Tieren eine Frühgeburt – es also nichts anderes kennt, nimmt es die der Mutter in sich auf bzw. verinnerlicht sie, so daß die Bilder und Realitäten der Mutter zu eigenen Bildern und Bedeutungen werden, an die sie und die Mutter glauben. Es behält die Mutter als innere Mutter lebenslang in sich. Es ist das Schicksal eines jeden Kindes, die Bewertungen und Bedeutungen des Umfeldes sowohl der eigenen Person als auch der Umwelt zu übernehmen.

Wahrgenommene Bedrohungen des Umfeldes werden zu eigenen Bedrohungen. Im Prägeprozeß der Erfahrungen und Wahrnehmungen scheint es mir so zu sein, dass das Kind mehr den Überzeugungen und Definitionen der primären Bezugspersonen glaubt als den eigenen Wahrnehmungen. Sie haben einen stärkeren Realitätsgehalt und gehen sozusagen in Fleisch und Blut über. Die meist wichtigste Primärperson, die Mutter, hat die Definitions- und Prägungsmacht, in abnehmenden Maße das übrige Umfeld wie der Vater.

Anders ausgedrückt, die Fremdwahrnehmung kann an die Stelle der eigenen Wahrnehmung eingeprägt werden und bestimmt das eigene Selbstbild und somit das Sein. – Im Vergleichsbild ist allein schon durch die Größenverhältnisse leicht zu veranschaulichen, dass das kleine Kind der großen, voll überzeugten Mutter mehr glaubt als sich selbst. – Anders ausgedrückt, das Kind sieht sich und die Welt mit den Augen der Mutter. Zu den nicht so nahen Personen wie dem Vater besteht mehr Distanz, also Wahrnehmung, so dass ein böser Vater eher wahrgenommen wird als eine böse Mutter. Obwohl das Unsichtbare häufig eine wesentlich höhere Bedeutung einnimmt, scheint das Wahrgenommene eine größere Bedeutung zu besitzen, wie überhaupt sich viele Menschen nach dem Sichtbaren orientieren. Als Folge wird oft mehr von der Bedeutung des Vaters gesprochen als von der der Mutter.

Falsches Selbst

Wenn diese Wahrnehmung verinnerlicht ist, den Anderen mehr zu glauben als der eigenen Wahrnehmung, wird das Kind und der spätere Erwachsene sein Selbst verlieren bzw. sich ein falsches Selbst aneignen, nämlich das der Anderen. Oder es wird ständig zum Zwecke Bestätigung für die eigene Wahrnehmung an anderen haften und auf diese angewiesen sein. Da aber Menschen nie identische Wahrnehmungen haben können, verschärft dieser Umstand noch sein falsches Selbst. Dann übernimmt etwa der Depressive immer den Standpunkt des Anderen, versucht diesen zu rechtfertigen und entschuldigen, hat kein Recht auf eigene Aggressionen, nimmt sie nicht einmal wahr, und muß diese unterdrücken, so dass sie sich gegen das eigen Selbst wenden, wofür er wiederum normalerweise keine Wahrnehmung hat. Er ist einfach depressiv, statt aggressiv. Verstärkend wirkt, die eigenen Wahrnehmungen nicht anzuerkennen, schafft massive Aggressionen, und da diese Selbstnichtanerkennung in der eigenen Person liegt, schafft sie Aggressionen gegen die eigene Person, Autoaggressionen, von denen die Depression eine Form ist. Die Wahrnehmungen haben als Wahrheit einen absoluten Charakter, so daß die Subjektivität der Wahrnehmung verloren geht.

Ein weiters Konfliktfeld ist, typisch für die traumatisierte Mutter, ist, sie weiß, was in ihrem Kind vor sich geht, was es denkt, fühlt und wie es ihm geht. In diesem Zustand kann sie nicht zwischen ihrer eigenen und der Realität des Kindes unterscheiden. Diese Wahrnehmung braucht jedoch nicht der Befindlichkeit des Kindes entsprechen. Das Kind gerät dadurch in eine innere Verwirrung zwischen der von der Mutter übernommenen Wahrnehmung und der eigenen, wobei die der Mutter immer Priorität hat, also die höhere und richtigere Wahrheit definiert und besitzt. Es fühlt etwas in sich, was jedoch von außen ganz anders thematisiert wird. Es weiß nicht, was mit ihm los ist, weil es sich nicht um eigene, sondern um innere Vorgänge in der Mutter handelt, die diese in ihr Kind hinein sieht. Oft genug genügt für manche Mütter schon ihr Blick, um innere Vorgänge des Kindes erfassen, etwa wie es ihm geht, ohne daß diese jedoch ursprünglich im Kind vorhanden sind, aber sekundär übernommen werden. Diese Erfahrungen mit der Mutter werden im späteren Umfeld wiederum wahrgenommen, auf diese übertragen, so dass wie im obigen Beispiel des Versicherungsangestellten und Hänschenklein die Standpunkte, Wahrnehmungen und Interessen anderer Oberhand gewinnen.

Ein derartig geprägter Erwachsener kann später überzeugt sein, das Innere anderer Menschen zu erfassen. So sagte mir ein Patient „Ein Blick und ich weiß, was der andere über mich denkt!“ – natürlich immer etwas schlechtes, so dass er sich wegen seines Übergewichtes, seiner Versagensbilder und seiner Schweißausbrüche, die er gerade infolge seiner Ängste bekommt, kaum aus dem Haus traut.

Beispielsweise machte sich eine Mutter, die ein schwer hirnorganisch geschädigtes Kind hatte, größte Sorgen um die Zukunft ihres Kindes. Sie stellte sich vor, wie sehr das Kind darunter leide, dass es mit anderen Kindern nicht spielen und mithalten könne, unter deren Spott und Ausgrenzung leide, obwohl das Kind auf Grund seiner hirnorganischen Schädigung zu einem derartigen Vergleich nie in der Lage sein wird. Sie sah in dem Kind sich selbst, so wie es ihr ergangen war und wäre. Die Spannungen der Mutter jedoch wird das Kind spüren, darunter leiden und als zukünftige innere Spannungen verinnerlichen.

Geben gleich Nehmen

In nahen Beziehungen wie der Mutter-Eltern-Kind-Beziehung ist es notwendig, dass das Geben selbst ein Nehmen darstellt. Wenn etwa die Mutter etwas für ihr Kind tut, es umsorgt und pflegt, bekommt sie gleichzeitig Freude und Stolz am Kind zurück. Ist dieses Nehmen bzw. die Freude, also der innere Ausgleich oder das Einvernehmen, jedoch durch Bedrohungen auf Grund früherer Traumatisierung der Mutter unmöglich gemacht, erlebt sie sich nur als Gebende und bekommt nichts dafür zurück.

Dieser fehlende Ausgleich von Geben und Nehmen kann sich schon beim Stillen, wenn sich die Mutter ausschließlich als Gebende erlebt oder sogar ausgesaugt fühlt. Beispielsweise kann sie nicht die erotische Lust an der Brust und am Saugen erleben oder sich nicht daran erfreuen, einen werdenden Menschen zu ernähren. Ähnliche Beziehungssysteme spielen sich häufig beim weiteren Heranwachsen des Kindes ab. Eine Patientin berichtete, daß bei der Vorstellung eines erwünschten Kindes sie nur die zukünftige Realität der ewigen Fürsorge und Aufopferung sah und sich deswegen von ihrem Partner trennte und einen anderen heiratete, der sterilisiert war. Zur Sprache kam die Geschichte, als sie ihre Periodenschmerzen und damit verbundenen Krebsängste schilderte. Ihre Krebsangst sah ich als Ausdruck der Symbolik, dass das Kind sie sozusagen von innen auffrisst.

Dankbarkeit

Für ihr unaufhörliches Geben und ihre Aufopferung wird sie die Rückzahlung, wie in einer Kontenabrechnung, zu einem späteren Zeitpunkt erwarten und beanspruchen. Dabei wird meist von Dankbarkeit gesprochen. Da in dem Kind noch ihre Ansprüche stecken, kann sie als Folge ihr Kind nicht freigeben, und dieses glaubt auch noch als Erwachsener, seinen Eltern etwas schuldig zu sein. Eine Loslösung wäre von schweren Schuldgefühlen begleitet, und um diese zu vermeiden, wird es weiterhin an den Eltern haften. .

Dankbarkeit fordern die Mütter beziehungsweise die Eltern für ihre Bemühungen, auch wenn diese nicht der Befindlichkeit und den Interessen des Kindes entsprechen. Dann hat das Kind für das Falsche das Richtige zurück zu geben. Diese Rückforderung kann die Bindung und mangelnde Loslösung des Kindes beinhalten. Ebenso wird das gebundene und verstrickte Kind ebenso Gratifikation und Dankbarkeit beanspruchen. Dies verstärkt die Bindung.

Negative Bewertungen werden für das Kind je nach Intensität und Stärke zu einem mehr oder weniger großen Problem bis zum existentiellen Überlebenskampf. Im Falle intensiver Entwertung ist es auch später als Erwachsener ausschließlich mit der Aufrechterhaltung seines Selbstbildnisses beschäftigt, wie später im digitalen Dialog ausgeführt. Die Mutter und das frühe Umfeld gehen sozusagen in Fleisch und Blut über, werden körperlich eingefleischt und nach ihnen wird automatisch gelebt.

Dazu das Beispiel einer früheren Patientin: Sie war bei ihrer Oma aufgewachsen und diese habe ihr immer gesagt „sie sei froh und glücklich, dass sie bei ihrer Oma aufwachsen dürfe“. Und sie war laut ihrer Aussage froh und glücklich, bei einer Frau, von der die Nachbarschaft von einer Hexe sprach – sie hob den Zusammenhang selbst hervor -. So sehr waren die Aussagen der Oma in ihre innere Realität und Gefühlslage eingegangen. Erst in der Pubertät hatte die massive Bevormundung zu gravierenden Spannungen geführt, weswegen sie später eine Therapie aufsuchte. Allerdings führte die Definitionsmacht der Oma und ihre eigene Loslösungsangst und -schuld dazu, ihrer Oma aus Dankbarkeit die Zuwendung zurückzahlen zu müssen, dass sie die Therapie bald wieder abbrach. Psychoanalytisch spricht man von einem Falschen Selbst und/oder einer Identifikation mit dem Aggressor.

Das Kind als Last

Durch die Sorgen, den Kummer und den Ärger wird das Kind der Mutter lästig und zur Last, und je mehr sie eine gute Mutter zu sein und auf das Kind einzugehen versucht, oft in einer falschen Fürsorge und Empathie, wird es umso mehr zur Last. Das ist die Tragik für Mutter und Kind. Sie entwickelt Aggressionen auf das Kind, straft es mit vermehrter Abwendung und Liebesentzug, manchmal sogar mit körperlichen Schlägen und Misshandlungen. Eine Mutter sagte kategorisch militant „Das Kind ist bei uns herein geboren und hat sich nach uns zu richten und nicht wir nach dem Kind!“ Sie mag die Wünsche des Kindes oder besser ihre eigenen Ansprüche im Kind als Diktat für sich empfinden und das Kind als Diktator.

Manche Mütter erleben ihr Kind als Monster, das in ihren Augen zu- und aufdringlich wird, und gerät mit dem Kind in einen Kampf. Sie alle kennen die in dieser Last überforderten Mütter. Mit ihrem Gute-Mutter-Bild geraten sie umso mehr in Clinch, je mehr sie auf das Kind einzugehen versuchen, und müssen ihre Aggressionen auf das Kind projizieren, das dann in ihren Augen das Böse ist.

Die basale Sicherheit, den Boden zur Mutter, braucht das Kind, um sich entfalten, eigenem Spiel und fremden Personen zuwenden zu können. Erhält es sie nicht, braucht es sie noch dringender und klebt an der Mutter, wird noch mehr zur Last. Es entsteht eine verstrickte Bindung. Auch ist es vermehrt krankheitsanfällig, und die Sorgen der Mutter werden bestätigt. Oft erlangt das Kind gerade durch die Krankheit die fürsorgliche Zuwendung der Mutter und ist aller Aggressionen und Strafen enthoben, vor allem, wenn die Mutter in der fürsorglichen Pflege ihres Kindes geradezu aufgeht und ihre Lebensaufgabe findet. Vor allem im psychiatrischen Umfeld kann eine Mutter ihre Aufgabe darin finden, ihr krankes Kind zu versorgen, manchmal auch umgekehrt. Durch diese Aufopferung und Fürsorge wird es geradezu zur Krankheit verführt. In derartig verstrickten Beziehungen können Aggressionen und aufopferungsvolle Fürsorge sich vermischen, wechselweise auftreten und zu einer totalen Verwirrung von Mutter und Kind führen.

In Schwellensituationen sozialer Anforderungen der autonomen Entwicklung wie etwa Kindergarten, Schule, Geschlechtsreifung, sogar Berufs- oder Studienantritt neigt das Kind zu Regressionen wie vermehrten Erkrankungen, Ängsten wie Versagensängsten und als Folge Versagen. Manchmal kehrt es in den Schoß der Mutter zurück aus Ängsten, die ihr die Mutter gemacht hat, wie ich mehrfach an schwer depressiven Patienten erlebt habe.

Dann ist die Mutter wie eine Alma mater, die ihren schützenden Mantel über das Kind vor den Bedrohungen des Lebens ausbreitet. In einer gelungenen basalen Beziehung erlebt die Mutter Freude an den expansiven und autonomen Schritten ihres Kindes. Im Zustand der Traumatisierung und den damit verbundenen hohen und absoluten Ansprüchen erlebt sie Enttäuschung, Sorge und Wut, an der sie das Kind schuldig und sich das Kind schuldig und verantwortlich sieht. Dadurch setzt sich die Gemeinsamkeit beziehungsweise die Dyade bis ins Erwachsenenalter fort.

Selbstverständlichkeiten

Die Übernahme, Einprägung und Verinnerlichung verstärken sich umso mehr, da die Mutter, die Eltern und das Umfeld ihre Welt mit ihren Bewertungen und Bedeutungen durch ihr eigenes Handeln dem Kind vorleben. Da das Kind es nicht anderes kennt, wird dies Leben, ohne es zu merken, zur Selbstverständlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass es so ist. Das Leben wird zum Funktionieren nach den Bildern des frühen Umfeldes, und dies wird als Normalität erlebt.

Bei diesen Selbstverständlichkeiten fehlt die Fähigkeit der Außenbetrachtung, die Übernahme der dritten Position bzw. eine Triangulierung, das heißt, sich selbst als Erlebenden und Handelnden in einem Bezugsrahmen bzw. Kontext wahrzunehmen. Unter Kontext werden die Definitionen oder Zuschreibungen in Sünde, Schuld oder Blamage zu den Gedanken, Realitäten oder Handlungen  verstanden. Durch die Negativzuschreibungen, die in der Kindheit eingeschrieben und geprägt wurden, werden Handlungen erst zu Bedrohungen. Je nach Zuschreibung können dieselben Handlungen,  positiv, wertfrei oder vernichtend bedrohlich werden, etwa etwas falsch oder einen Fehler zu machen. Im Falle der Bedrohung von Entscheidungen werden diese zu einem bedrohlichen Kraftakt – im griechischen Mythos steht Herkules am Scheidewege – und oft genug zu einer Paniklähmung vor Entscheidungen. Typischerweise erfolgt bei Depressiven nach Entscheidungen ein inneres Gezerre von „richtig“ oder „falsch“, alles im absoluten Sinne, so daß die positiven und negativen Anteile nicht mehr gesehen werden können, und eine innere Verzweiflung vor und nach Entscheidungen. Oft genug besteht der Anspruch etwa „Hast Du Dir auch alles genau überlegt”¦?!“, es entsteht eine massive Überforderung in einer Situation, in der viele positive und negative Aspekte und Folgen nicht vorausgesehen werden können.

Sicherheitsstreben und Ausprobieren

Infolge der Bedrohungen muss Sicherheit geschaffen werden. Neues, Neugierde und Entfaltung des Kindes verschaffen Unsicherheit, so dass Bindungspersonen die Neugier ihres Kindes nicht tolerieren können, es bei Autonomiebestrebungen entmutigen und immer wieder in sein freies Spiel eingreifen. Dadurch geht die zum Sammeln eigener Erfahrungen wichtige Funktion des „Ausprobierens“ und Sammelns von Erfahrungen, positiven und negativen, verloren. Jegliches Ausprobieren würde den Eltern Ängste bereiten.

Missgunst der Eltern

Normalerweise wünschen Mütter und Eltern für ihre Kinder das Beste. Haben sie eine schlechte Kindheit erlebt, wünschen sie sich für ihre Kinder das Gegenteil ihrer eigenen Kindheit. Sie sollen es besser haben als sie. Sie versuchen dem Kind zu geben, was sie selbst nicht hatten, etwa mit Liebe, Geld oder Spielsachen zu verwöhnen. Sie suchen sozusagen aus einem leeren Sack aus dem Vollen zu schöpfen, wodurch sie umso mehr überfordert sind, da sie das Kind als Last und Aggressionen auf das Kind erleben. Außerdem geraten sie bei einem inneren Vergleich mit dem Kind in eine benachteiligte Rolle. Das Kind bekommt das, was sie selbst nicht hatten und wegen des Fortbestehens ihrer inneren Mechanismen jetzt nicht haben und wohl kaum jemals haben werden. Dann entsteht oft Neid und Missgunst, da das Kind es viel besser hat, als sie selbst es je hatten. Aus der Missgunst heraus besteht die Neigung, dem Kind die Vergünstigungen wieder zu zerstören.

Die Mutter gerät in den inneren Zwiespalt, einerseits alles Gute für das Kind zu tun, andererseits dieses wiederum zu zerstören. Eine solche Mutter wird es kaum ertragen können, wenn das Kind, während sie selbst sich etwa im Haushalt herumquält, munter spielt, laut lacht, genüsslich Daumen lutscht, ein Buch liest oder Fernsehen guckt. Ihr wird sofort etwas einfallen, um das Wohlbefinden des Kindes zu zerstören, etwa "hast du die Hausaufgaben gemacht…, musst noch dies oder jenes machen!". Da die Mutter das Kind mit sich selbst besetzt hat, folglich mit ihm identifiziert ist, wird sie einerseits infolge ihrer Missgunst am Wohlbefinden des Kindes, anderseits an der Zerstörung dessen leiden.

Durch die Identifizierung mit dem Leiden der Mutter wird sich dies im Kind fortsetzen. Ausserdem wird sie ihre eigenen Lebensnormen, etwa unermüdlich zu schaffen und Ausruhen und Nichtstun zu verurteilen, auf das Kind anwenden und übertragen, so dass dieses es auch nicht besser hat als sie. Allerdings schon auf einer etwas reiferen Stufe können sich Machtkämpfe und Triumphe abspielen, etwa "siehste, siehste, hab‘ ich dir doch gleich gesagt…".

Selbstverlust durch Lob 

Umgekehrt, wenn das Kind für sein Bravsein, seine Folgsamkeit und Angepasstsein Bestätigung und Lob erhält, wird es in diesem Wege bestätigt, der unter Umständen nicht seinen Interessen entspricht. Es erhält sozusagen Beifall von der falschen Seite, nicht für seine Selbstentfaltung oder selbstbestimmte Autonomie, sondern für seine Unterwerfung und Fremdbestimmung. Wegen dieses Lenkens in die falsche Richtung reagieren viele Traumatisierte auf Lob misstrauisch und abwehrend. Lob stellt für sie eine Unterwerfung und Demütigung dar. Das Kind kann aber auch einen gegenteiligen Weg einschlagen und als Erwachsener später seinen Weg und seinen Stolz darin finden, überall zu protestieren, rebellieren und alle Erwartungen nicht zu erfüllen, und sich dadurch unnötige Konflikte zu schaffen. Oft wird es zwischen den gegenteiligen Positionen und Verhaltensweisen hin und her schwanken, mal angepasst und unterwürfig sich verhalten, mal trotzig und rebellisch.

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Illustrationen dieser Serie: www.detleveilhardt.de

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