Der Nero-Befehl – Auf den Spuren der Geschichte im Berliner Wilhelmstraßenviertel

Zwischen der Behrenstraße, der Wilhelmstraße (zu DDR-Zeiten Otto-Grotewohl-Straße), der Leipziger Straße und der Ebertstraße (in der NS-Zeit Joseph-Goebbels-Straße) befand sich das deutsche Regierungviertel von der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs durch Bismarck 1870/71 bis zum Untergang des NS-Reiches 1945. Während der Teilung der Stadt verlief die äußere Mauer zu Westberlin direkt an der Ebertstraße und der größte Teil dieses Geländes war Grenzgebiet und unbetretbar. Lediglich unmittelbar an der derzeitigen Ottö-Grotewohl-Straße waren einige geschmackvolle Wohnbaukomplexe entstanden. Auch nach der Wiedervereinigung noch längere Zeit Ödland, aber jetzt kann das Gelände von historisch Interessierten wieder in Augenschein genommen werden.

Den nordwestlichen Teil des bezeichneten Carrees nimmt heute das Stelenfeld des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas ein. Dieses monströse Verbrechen der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ ist ebenso weithin bekannt, wie auch diese Denkmal. Bald werden wir bei unserem Rundgang von einer schon geplanten zweiten Endlösung erfahren. Begeben wir undsaber erstmal über eine Treppe in die unterirdischen Ausstellungsräume des Mahnmals. Während ich hier die Schreckensbilder von den Vernichtungsstätten betrachte, ahne ich noch nicht, mich jetzt genau dort zu befinden, wo der Oberpropagandist dieses Massenmordes, Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, sich vor den alliierten Bomben verkroch. Zur Errichtung dieses Mahnmals wurde das Dach seines Bunkers abgetragen.

Das Stelenfeld wird außer von der Beerenstraße und der Ebertstraße von zwei neuen, nach Schriftstellerinnen benannten Straßen, eingegrenzt: Hannah-Arendt-Straße und Gertrud-Kolmer-Straße. An der Kreuzung dieser Straßen, dem Stelenfeld gegenüber, befindet sich ein Ausstellungspavillon des „Berliner Unterwelten e. V.“ , ein Verein, der sich mit den unterirdischen Bauten Berlins befasst: Kanalisation, Tunnel für U- und auch S-Bahn und eben Bunker.

Berlin ist schon eine verrückte Stadt: Die Untergrundbahn verkehrt auf mehreren Strecken oberhalb des Straßenverkehrs auf Brücken durch die Straßenmitte, eben als Hochbahn. Am Bahnhof Schönhauser Allee wird die S-Bahn durch einen Tunnel unter der Straße hindurch geführt, während die Untergrundbahn eben oberhalb der Straße, sozusagen zwei Geschosse über der Stadtbahn fährt. Aber verrückter noch: Auch die S-Bahn verkehrt über Anhalter Bahnhof, Potsdamer Platz, Unter den Linden, Friedrichstraße, Oranienburger Straße und Nordbahnhof vollkommen unterirdisch, als eine zweite Untergrundbahn sozusagen. Während der Teilung der Stadt war der größte Teil der unterirdischen S-Bahnstrecke gesperrt. Nun ist sie wieder befahrbar und man kann an der Bahnhofsbeschriftung erkennen, dass diese Strecke aus älteren Zeiten stammt. Stammt sie noch aus Kaiserszeiten, wie auch die allerersten U-Bahnlinien? Nein, diese Linie wurde 1935/36 erbaut, zu den Olympischen Spielen, als sich das Nazi-Regime weltoffen und technisch innovativ darstellen wollte. Immerhin, eine technische Leistung war der Bau dieser Strecke.

Im gleichen Ausstellungspavillon kann besichtigt werden, wie Hitler und sein Chefarchitekt Albert Speer beabsichtigten, Berlin umzugestalten: Dieser monströsen Monumentalarchitektur hätte das gesamte alte Berlin weichen müssen. Nicht einmal der Name wäre der deutschen Hauptstadt verblieben, denn der sollte dann durch „Germania“ ersetzt werden. In all dem spiegelte sich wohl auch der Hass auf jene Stadt, die Goebbels noch vor 1933 als die kommunistischste der Welt, gleich nach Moskau, bezeichnet hatte. So waren denn die alliierten Luftangriffe auf Berlin nur für deren Bevölkerung ein Schrecken, nicht für deren „Führer“. Der äußerte sich hierzu folgendermaßen: „Die alliierten Luftflotten haben sich zwar nicht an die Pläne zur Neugestaltung der deutschen Städte gehalten, aber ein Anfang ist immerhin gemacht.“

Nach der Hannah-Arendt-Straße kreuzt die Gertrud-Kolmar-Straße die neue Straße mit dem Namen „In den Ministergärten“. Hier haben sich die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Hessen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen schöne Neubauten mit grüner Umgebung als die ständigen Vertretungen ihrer Länder beim Bund errichtet. Aber genau da, wo „In den Ministergärten“ auf die Gertrud-Kolmarstraße stößt, bei direktem Blick auf das Bundesratsgebäude in der Leipziger Straße, steht eine der in Berlin so zahlreichen historischen Tafeln: Sie befinden sich auf dem Gelände des Führerbunkers.

Die Sonne scheint und eigentlich ist es an dem kleinen Parkplatz hier ganz hübsch, zwischen der Hofbegrünung der DDR-Wohnbauten und dem grün der Ländervertretungen, aber mich ünerläuft der kalte Frost: Hier irgendwo wurde die Asche des größten Massenmörders aller Zeiten in den gestampft, nach der Verbrennung seines Kadavers, nachdem er sich zehn Meter tiefer erschossen und/oder vergiftet hatte. Aus einem Stahlbetonkasten mit 3-4 m dicken Wänden und Decke zehn Meter unter dem Punkt auf dem ich stehe, hatte seine Vernichtungsbefehle gegeben, jedenfalls seine letzten.

“Sieh, ich bin Cäsar, und die Welt gehört mir, ich kann alles tun, was ich will.“ Das lässt der polnische den römischen Kaiser Nero in seinem Roman „Quo Vadis“ sagen. Weiterhin stellt er uns den Imperator in jenem Moment vor, als man ihm den großen Brand von Rom meldet, dessen Legung er selbst heimlich befohlen: „ `Verzeih göttlicher Imperator` keuchte Phaon, `Rom brennt! Der größte Teil der Stadt steht in Flammen.` Bei dieser Nachricht fuhren alle auf, Nero legte die Zitter beiseite und rief: `O Götter! Ich werde eine brennende Stadt sehen und meine Trojade beenden. Dann aber wandte er sich an den Konsul: `Werde ich den Brand noch sehen können, wenn ich sofort abreise?` `Herr` antwortete der Konsul schreckensbleich `Die Stadt ist ein einziges Flammenmeer. Die Einwohner ersticken im Rauch, die Menschen fallen in Ohnmacht oder stürzen sich in ihrem Wahnsinn in die Flammen…`“

Am 19. März 1945 gibt Hitler unten im Bunker den sogenannten Nero-Befehl, den Befehl zur Vernichtung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes. Die nächste Endlösung ist fällig, weil das deutsche Volk ihm nicht gehalten hatte, was er sich von ihm versprach. Allerdings gehört ihm nicht mehr die Welt, diesmal bleibt sein Aktionsradius gering. Bormann gegenüber erläutert er es so: „Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“ Goebbels kommentiert es so: „Wenn wir untergehen sollten, dann wird mit uns das ganze deutsche Volk untergehen…“

Am 24. April, Hitlers letztem Geburtstag, schließt sich der Belagerungsring der Roten Armee um Berlin. Im Führerbunker herrscht nach wie vor kein Mangel, es wird gefressen und gesoffen, was das Zeug hält. Draußen beginnt den Untergangsplänen gemäß, das Verheizen der Kindersoldaten. Am 26. April fallen 400 Hitlerjungen im Alter von 14 – 15 Jahren bei der vergeblichen Verteidigung Schönebergs vor sowjetischen Panzern.

Damals befand sich am Anklamer Bahnhof ein Hochbunker. Wer einen solchen Hochbunker sich ansehen möchte, kann dies in der Nähe des Deutschen Theaters in der Nähe der Reinhardt-Straße tun. Ein äußert hässliches Gebäude, aber ein wichtiges Denkmal, denn allein der Anblick vermittelt schon ein Gefühl für die Schrecken des Krieges. Über den Hochbunker am Anklamer Bahnhof schreibt der Augenzeuge Dr. Schenk: „Der gewaltige Betonklotz zwischen den verzweigten Gleisen, der als kantiger Würfel die Dächer der Nachbarhäuser und -ruinen überragte, schien so sicher; nicht die schwerste Granate keine Überbombe konnte ihm etwas anhaben. Deshalb hatten sich in ihm unzählige Schutzsuchende versammelt, soviel ihrer nur hineingingen. Alle Zellen, alle Treppen und alle Gänge waren besetzt und belegt. Der Bunker war im wahrsten Sinne des Wortes mit Menschen vollgepfropft. Und dann waren die Entlüfter ausgefallen, so dass die Innentemperatur auf tropische Grade stieg. … Das Allerschlimmste war, dass es kein Wasser gab. Das Trinkwasser hatte rationiert werden müssen, aber unter den Tausenden Eingeschlossenen waren Kinder, Verwundete, Kranke, die Durst litten und deren Jammern nach Wasser von Stunde zu Stunde zunahm. Sämtliche Toiletten waren natürlicherweise inzwischen verstopft, und es bestand die Gefahr, dass sich Seuchen ausbreiteten…“

Am 30. April begehen dann schließlich Hitler und seine Frau Selbstmord, als die erfahren, dass das in Berlin auf wenige Straßenzüge zusammengeschmolzene Dritte Reich, trotz der hohen Truppenkonzentration in diesen wenigen Straßenzügen, sich möglicherweise keine 24 Stunden mehr halten könne. Ganz so schnell geht es denn aber doch noch nicht zu Ende und Goebbels entschließt sich erst zwei Tage später, mit seiner Familie seinem Führer in den Hades zu folgen. An diesem zweiten Mai wird der Verkehr auf den meisten Berliner Kreuzungen bereits von Rotarmistinnen geregelt. Die Rote Armee hat in den Straßen der Stadt bereits den 1.Mai festlich begangen.

Am selben zweiten Mai lässt die SS den Hochbunker am Anklamer Bahnhof räumen. Die hier noch ausharrenden Zivilisten auf einen Todesmarsch in Richtung Nordbahnhof in jenen unterirdischen S-Bahntunnel getrieben, der einige Jahre zuvor für die Olympischen Spiele gebaut worden war. Dieser S-Bahntunnel unterquert südlich des Anklamer Bahnhofs, kurz bevor die Strecke wieder oberirdisch wird, den Landwehrkanal, der von der Spree mit Wasser gespeist wird. An jenem zweiten Mai wird nun wird an dieser Unterquerung Sprengstoff angelegt und gezündet, so dass die Wassermassen den unterirdischen S-Bahntunnel fluten und flüchtenden deutschen Zivilisten ersäufen kann. Wer genau diesen Befehl gab, ist nicht mehr zu ermitteln. Bormann, Hitlers engster Vertrauter, war zu jenem Zeitpunkt jedenfalls noch am Leben. Der Nero-Befehl wurde also noch zwei Tage nach Hitlers Tod und vier Tage vor der endgültigen Kapitulation exekutiert. So endet das Dritte Reich in Berlin, mordgierig bis zum letzten Atemzug.

Nun leben wir ja in besseren Zeiten! All die Geschichte wird fleißig aufgearbeitet und in Museen dargestellt. Wer sich für die historischen Überreste und die Ausstellungen im ehemaligen deutschen Regierungsviertel an der Wilhelmstraße interessiert, kann einfach mit der U-Bahn bid Station Mohrenstraße fahren und ist direkt da. Wer würde auch heute noch auf die Idee kommen, unendliche Räume erobern zu wollen: Nach Russland bis zum Ural, Sibirien, dann Afghanistan, Indien. Blut- und Bodenideologie ist doch einfach abgestanden, im digitalen Zeitalter. Das Weltfinanzvolumen hat sich 2 307,6 Billionen Euro aufgebläht. Die weltweite Realwirtschaft hat demgegenüber nur ein Volumen von 35,5 Billionen Euro. Wahn der unendlichen Räume!

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