„Einen Film drehen ist eine überbewertete Aufgabe. Wir alle wissen das.“ Wenn sogar seine Kostümbildnerin Lilli (Dame Judi Dench) das weiß, warum tut sich Guido Cintini (Daniel Day-Lewis) dann so schwer damit? In den Sechzigern will Contini, berühmtester Filmregisseur Italiens, nach mehreren Flops mit einem Meisterwerk zu neuem Erfolg gelangen. Unglücklicherweise steckt Contini in einer Identitäts- und Liebeskrise. Beide dienen „Nine“ als Vorwand, eine prominente Darstellerin nach der anderen vorzuführen. Soll jeder Zuschauer selbst entscheiden: ist die aufopfernde Ehefrau Luisa (Marion Cotillard), die heiße Geliebte Carla (Penelope Cruz), die Muse Claudia (Nicole Kidman) oder doch „Mamma“ (Sophia Loren) die Eine? Es wird getanzt und gesungen, bis die Mauern Roms fallen. Unter geht la cita apperta nicht, nur Continis Bühnenbild wird niedergerissen: „Es gibt keinen Film.“ Nur endloses Getanze, so tot wie Sprache der alten Römer. „Kann man die Einbildungskraft trainieren?“, fragt Contini einmal. Falls ja, hätte Marshall es vor „Nine“ tun sollen. Mag er den Fontana di Trevi, neo-realistische schwarz-weiße Optik und die Cinecitta noch so schön ablichten, „Nine“ bleibt seelenloses, ohne Charme, Charaktere und mitreißende Musik.
Italien, sein Flair und seine Filmgeschichte versucht Rob Marshall in „Nine“ zu sperren. Doch schon der Titel nimmt sein spektakuläres Scheitern vorweg. Filmtitel, Gesang und die fast alle Darsteller sind US-amerikanisch. Italienische Vokabeln, die jenseits des Urlaubsvokabulars verirren sich nicht in die Dialoge. In bewegten Momenten, wenn viele Menschen unbewusst in ihre Muttersprache zurückfallen, wird lupenreines Englisch gesprochen. „Cinecitta“, „Bella“, „ti amo“ – mehr muss man nicht verstehen, um der rudimentären Handlung zu folgen. Das Klischee von italienischer Leidenschaft kommt „Nine“ wie gerufen. So kann unter dem Deckmantel der Authentizität emotional bis sentimental chargiert werden. Chargieren ist ein schmerzliches Wort angesichts des beeindruckenden Ensembles. Doch mehr erlaubt Marshall seinen Darstellern nicht. Nur Daniel Day-Lewis, der einzige Herr in der Damenrunde, darf einen Charakter spielen. Die weiblichen Figuren hingegen bleiben lebende Stereotypen.
Bis auf Judi Dench, die als burschikose Kostümbildnerin eher neutral wirkt, tänzeln die Frauen als Konstrukte aus Männerfantasien durch die Kulissen. „Nine“ führt entsprechend des Titels zwar zahlreiche, jedoch keine interessanten Frauenstereotypen vor. Verführerische Geliebte, brave Gattin, dominante Mutter, unerreichbare Muse oder üppige Dorfhure. Natürlich sind die Donnas alle bella, Sophia Loren bellissima und jede ist in mindesten ein opulentes Kostüm gekleidet. Die Musik scheint mehr nach den Choreografien komponiertt denn die Choreografien nach der Musik und bei den Texten hört man besser genauer hin: „Be Italien, be Italien…“. Man stelle sich ein Musical vor, in dem eine Maid im Dirndel „Seid deutsch!“ singt… Dialogen zählen selten zu den Stärken von Musicals, doch „Nine“ setzt diesbezüglich in puncto Oberflächlichkeit neue Maßstäbe. Für Sätze wie „Ich warte hier auf dich mit offenen Beinen.“ würde sich selbst ein Pornoregisseur genieren.
In dreifacher Form beschwört Regisseur und Autor Marshall „La Dolce Vita“: das Lebensgefühl, den Filmklassiker und den Regisseur Fellini. Die Geister, die er in „Nine“ rief, wird er nicht mehr los. Sehnsüchtig verlässt man den Friedrichsstadtpalst: aus dem kühlen Berlin ins milde Italien oder wenigsten aus „Nine“ in die Retrospektive zu „La Notte“. „Träum dir doch etwas Fröhliches mit Musik und Tanz zusammen.“, lautet Lillis Erfolgsrezept für Guido Contini. Marshall hat den Rat in „Nine“ befolgt. Ein bitterer Ausklang für das süße Leben.
Titel: Nine
Berlinale Special „Happy Birthday Berlinale!“
Land/ Jahr: USA 2010
Genre: Musical
Start: 25. Februar 2010
Regie und Drehbuch: Rob Marshall
Darsteller: Daniel Day-Lewis, Judi Dench, Penelope Cruz, Marion Cotillard, Sophia Loren, Nicole Kidman, Kate Hudson
Laufzeit: 118 Minuten
Verleih: Senator
Bewertung: *