Wahnsinnig verliebt – Laxmikant Shetgaonkar hinterfragt die Rolle der sozialen Stigmatisierung in „The Man beyond the Bridge“ im Berlinale Forum

Nach dem Tod seiner Frau lebt der Waldaufseher Vinayak zurückgezogen in einer Hütte im ländlichen Indien. Mit den Einwohnern des nahe gelegenen Dorfes hat er nur oberflächlichen Kontakt. Es ist eine andere Außenseiterin, zu welcher der Außenseiter Vinayak schließlich eine Beziehung aufbaut. Im Gegensatz zu ihm hat sie ihr soziales Exil nicht selbst gewählt. Die geistig verwirrte Frau ist eine Aussätzige. Auf der Suche nach Essen streunt sie durch das Dorf. Als man sie dort fort jagt irrt sie zu der Waldhütte. Wie ein gehetztes Tier starrt sie Vinayak durch das Dickicht an, als beide sich das erstmals begegnen, wie ein Tier versucht er sie zu verscheuchen, wie einem Tier stellt er ihr Essensreste hin. Und wie ein Tier inszeniert Regisseur Shetgaonkar diese Frau in „The Man beyond the Bridge“. Doch seine Perspektive ist nicht kritisch, sondern romantisierend. Gepaart mit der Naivität der Darstellung macht es den Film schwer erträglich. „’The Man beyond the Bridge‘ zeigt das Bemühen eines Mannes, eine wahnsinnige Frau zu akzeptieren und in die normale Gesellschaft zu integrieren.“, so der Regisseur. „Wahnsinn wird selbst heute noch nicht als Krankheit erkannt. Stattdessen wird es mit Flüchen, bösen Geistern und dergleichen in Verbindung gebracht.“ In seiner Bemühung, sich von dieser abergläubischen, ablehnenden Sicht zu distanzieren, schlägt Shetgaonkar in ein anderes Extrem um. Geistige Erkrankung zeigt sein Film als Mischung aus Infantilismus und naiver Unschuld. Wie ein Kleinkind spielt die Frau mit Alltagsgegenständen, isst ungestüm und gedankenlos von allen Speisen, die sie findet und äußert ihr Missfallen mit Weinen.

Die angestrebte moderne Perspektive auf die komplexe Thematik des Umgangs mit psychisch Kranken innerhalb einer abergläubischen und konservativen Gemeinschaft, wie jener der Dorfbevölkerung im Film, misslingt. Vinayak steht abseits des Aberglaubens der Landbewohner, wie es im Titel „The Man beyond the Bridge“ anklingt. Als Waldaufseher ist ihm die Natur näher als die durch Konventionen geprägte Zivilisation. Nur weil sie ihm als Teil dieser Natur begegnet, kann Vinayak seine Distanz zu anderen Menschen angesichts der Aussätzigen überwinden. Die Charakterisierung der Fremden als „Naturkind“ ersetzt jedoch letztendlich nur die ablehnende Herablassung, welche ihr von Seiten der Anwohner begegnet, durch die wohlwollende Herablassung von Seiten des Regisseurs. Gleich einem unmündigen Kind muss Vinayak die Erwachsene erziehen. Kauert die in der Hütte eingeschlossene Aussätzige auf den Waldaufseher wartend vor der Tür, wirkt sie wie ein Hund, der sein Herrchen erwartet. Vinayaks Verhalten ihr gegenüber erscheint als unangenehme Kombination aus Dressur und Angleichung der Fremden an seine verstorbene Frau. Deren Kleider und Schmuck legt er der Aussätzigen an und in dieser Verkleidung der toten Liebsten nähert er sich ihr sexuell. Nicht in die Gesellschaft, von der er sich selbst zurückgezogen hat, versucht er sie zu integrieren, sondern in seine eigene kleine Welt.

Der Konflikt, welcher sich mit der Dorfgemeinschaft anbahnt, lenkt die Handlung zu der spirituellen Frage, ob die Nähe zu Gott in Gebeten oder praktizierter Güte läge. „The Man beyond the Bridge“ beantwortet diese Frage mit der Idealisierung von Vinayaks fragwürdiger Fürsorge. Tatsächlich spiegelt dessen Handeln an der Aussätzigen das Verhalten der Dorfbewohner, welche die Besuche eines im Wald errichteten Tempels zum Holzdiebstahl nutzen. Liebe dient in „The Man beyond the Bridge“ allen nur als Vorwand: zur Ausbeutung der Natur, eines Mitmenschen oder, im Falle des Films, einer brisanten Thematik.

Titel: Paltadacho Munis – The Man beyond the Bridge

Berlinale Forum

Land/ Jahr: Indien 2009

Genre: Drama

Regie und Drehbuch: Laxmikant Shetgaonkar

Darsteller: Chitranjan Giri, Veena Jomkar

Laufzeit: 96 min.

Bewertung: *

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