Ein Zeitzeuge zum Thema „Menschenversuche im Freizeitsport der DDR“

Helmar Gröbel 1975 beim Marthon in Karl-Marx-Stadt. © Foto: Helmar Gröbel

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Am 25. Februar dieses Jahres wurde in der ARD eine 40-minütige Dokumentation von H. Seppelt über „Menschenversuche im Bereich des Freizeitsports der DDR“ gesendet. Ort der Handlungen war die DHfK in Leipzig-Mitte der 1970er Jahre. Nach einigen Minuten der Doku war ich mittendrin in den Erinnerungen an meine Studentenzeit, welche ich von 1972 bis 1976 an der DHfK in Leipzig absolvierte. Mein Herz schlug höher und in meinen Beinen spürte ich ein Gefühl – als käme die Jugend zurück.

Aber die Freude und die durchaus angenehmen und einmaligen Erinnerungen an diese Zeit waren kurz. Ich sah Darstellungen, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun haben. In mystischen Aufzeichnungen und bösartigen Kommentaren, in denen die Grenzen von sachlicher Dokumentation weit überschritten wurden, erzeugte man den Eindruck von gesetzeswidrigen und menschenfeindlichen Untersuchungen.

Erinnerungen und Beschreibungen des Hauptdarstellers wie „Experimente am lebenden Objekt“, „geheime Trainingsmethoden“, „ich hatte das Gefühl, als wenn ich die Unterwelt betrete – eine andere Welt“, „Gerüche lagen in der Luft“, „es herrschte eine gespenstige Situation“, „meine Ohrläppchen wurden durch die Blutabnahmen zerstochen“ konnten nicht schrecklicher und teuflischer dargestellt werden.

Ist es Dummheit oder Naivität, Gewissenlosigkeit oder unüberlegte willenlose Wiedergabe vorgegebener Texte, um als „Opfer“ nach dem Dopingopferhilfegesetz (DOHG) nun endlich entschädigt zu werden? Ich erlaube mir diese Fragen und den Kommentar dazu, weil auch ich als studierender Freizeitsportler an den experimentellen Untersuchungen des FKS (Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport) durch Dr. Hermann Buhl hinsichtlich der Muskelbiopsien und den Laufbandtests mit Blutabnahmen zur Laktatbestimmung teilnahm. Ich nahm das Angebot für diese wissenschaftlichen Untersuchungen dankbar an und nahm an 6 Muskelbiopsien teil, weil ich mir dadurch das Wissen und die Erkenntnisse für eine moderne und wirksame Trainingssteuerung erweiterte. Von den Hörsälen und den Seminarräumen der DHfK ging es oft über kurze Wege in die Nachbarschaft zum FKS. Die Teilnahme an den Muskelbiopsien war absolut freiwillig. Ich hatte jederzeit die Möglichkeit, das Programm zu beenden und „meinen eigenen Weg“ zu gehen.

Nach den Ergebnissen der Muskelbiopsien hatte ich überwiegend langsam kontrahierende Muskelfasern. Ich bereitete mich mit wöchentlich bis zu 150 Trainingskilometern und mit wirksameren Trainingsprogrammen wie 8 x 1000 m (im Schnitt < 3 min) oder 20 x 400 m auf eine Leistung über 10.000 m von 31 bis 32 min und im Marathon von 2:30 bis 2:40 h vor.

Muskelbiopsien – weltweit anerkannte Untersuchungsmethode

Ich betrachte mich als Zeitzeuge und weise entschieden zurück, diese Untersuchungen als gesetzeswidrig oder menschenfeindlich zu beschreiben. Muskelbiopsien werden übrigens weltweit durchgeführt. Sie sind chirurgische Eingriffe zur Entnahme einer kleinen Menge von Gewebe, um krankhafte Veränderungen des feingeweblichen Aufbaus oder strukturelle Veränderungen des Gewebes wie zum Beispiel nach Trainings- oder Wettkampfphasen zu erkennen. Heute ist das eine gängige und anerkannte Praxis in Kliniken, Laboren und Forschungseinrichtungen im In- und Ausland.

Die beiden Hauptdarsteller Hans-Albrecht Kühne und Bernd Moormann kannte ich persönlich. Kühne war damals Student an der KMU – Sektion Journalistik. Mit Bernd Moormann war ich 1972 während meines Grundwehrdienstes bei der NVA in einem zweiwöchigen Trainingslehrgang zur Vorbereitung auf die Armeemeisterschaften im Crosslauf. Wir traten gemeinsam bei Laufwettbewerben an.

Ich stellte mir mehrmals die Frage, was diese beiden veranlasst hat, sich mit solchen Aussagen für diese Dokumentation nach über 40 Jahren zur Verfügung zu stellen. Waren es unzureichende Leistungen als Sportler oder unzufriedene Lebensläufe, weil man sein Arbeitsleben nach der Wende zum Teil neu ordnen und sich neu orientieren musste? Oder war es Geldgier?

Wir bekamen für eine Muskelbiopsie 20 Mark der DDR. Nach 6 Biopsien waren es für mich 120 Mark. Den Rest für ein Paar Spikes habe ich mir erspart, um auf einer Tartanlaufbahn laufen zu können.

Vor jeder Muskelbiopsie wurde ich von Dr. Hermann Buhl fast väterlich gefragt: „Na wollen wir es machen, … bist Du bereit?“ Natürlich hat es „gepikst“ und ich habe den Einstich gespürt. Ich konnte mich immer wieder erneut für eine Teilnahme entscheiden und hatte jederzeit die Möglichkeit, eine weitere Muskelbiopsie nicht durchführen zu lassen – also zu verweigern. Wer aber, wie Hans-Albrecht Kühne, dreißig Mal zu einer Muskelbiopsie Ja sagt und sich freiwillig und selbstbestimmt dieser Untersuchung stellt, der hat jegliches Recht verspielt, sich nachträglich zu empören oder Wiedergutmachung (wofür eigentlich?) zu verlangen. Ich habe nie, wie auch die vielen anderen Teilnehmer dieser Untersuchungen, auch nicht im Ansatz, „Spätfolgen“ aus diesen bioptischen Untersuchungen gespürt, wie es Kühne schildert. Ich bezweifele auch, dass Dr. Buhl unerlaubte Mittel zur Leistungssteigerung Hans-Albrecht Kühne angeboten hat.

Zusammengeschusterte Dokumentation

Das Ziel der Untersuchungen bestand in der Optimierung von Trainingsprogramme auf der Grundlage der Ergebnisse der Muskelbiopsien und deren Auswirkungen auf Veränderungen der Muskelfaserstruktur festzustellen. Von 40 Minuten Dokumentation waren es gerade 2:30 Minuten in denen es bei dem Hauptdarsteller um Doping ging, welche er mit fragwürdigen Reaktionen seines Körpers schilderte. Damit wurden die, mit düsterer musikalischer Untermalung, weltweit durchgeführten und anerkannten Methoden bioptischer Untersuchungen und das „Durchstechen der Ohrläppchen“ in den Topf des Verbotenen geworfen und als „menschenrechtsverletzend“ deklariert. Auf die Widersprüche dieser Dokumentation bezüglich der zeitlichen Abläufe möchte ich nicht eingehen. Da wurde zusammengeschustert, was das Zeug hielt.

Sicher ist es oft schwer, das Verhalten anderer einzuschätzen, weil jeder aus einem anderen Blickwinkel das Geschehen bewertet. Ich erlaube mir aber dennoch dieses Urteil darüber, weil es international anerkannte Untersuchungsmethoden waren, ich die Abläufe und die Rahmenbedingungen kannte und wusste, was auf mich zukommt. Man kann nicht andere für das eigene Handeln verantwortlich machen, zumal man es in dieser Situation selbst in der Hand hatte. Hans-Albrecht Kühne sprach von „Erfahrungen und dem Gefühl, dass er in der DDR nicht selbstbestimmt leben konnte“. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass ich eine mir angebotene Leberbiopsie ablehnte, obwohl ich großes Vertrauen in das medizinische Können der betreuenden Ärzte hatte. Diese Entscheidung habe ich selbstbestimmt und frei getroffen und sie hatte auf meinen weiteren Weg als Student und auf meine anschließende berufliche Tätigkeit keinen Einfluss. Für eine Leberbiopsie bekam man damals 450 Mark der DDR.

Das Auftreten und die Kommentare des Autors H. Seppelt in dieser Dokumentation vermittelten mir ein Gefühl der Unanständigkeit und Missachtung anderer. Dies entsprach anscheinend ganz seinem Anliegen, den DDR-Sport zu verunglimpfen und „Opfer“ vorzuführen.

Der Verweis auf den zweimaligen Marathonolympiasieger Waldemar Cierpinski und die Kommentare dazu stellen direkte und indirekte Bezüge zu den bioptischen Untersuchungen und den zweifelhaften Aussagen zur Einnahme leistungsunterstützender Mittel her. Damit verlässt der Moderator die Sachebene und hinterlässt einen Eindruck der Rechtswidrigkeit. Das ist eine unwahre Wiedergabe des Recherchierten und suggeriert eine unlautere Einflussnahme auf Cierpinskis Marathonleistung. Der Bezug zu Waldemar Cierpinski oder einem anderen Spitzenathleten der DDR passen – auch in den zeitlichen Zusammenhängen – nicht zueinander. Sie sind falsch und haben dort nichts zu suchen. Er wurde konstruiert, um jegliche Spitzenleistung des DDR-Sports zu deformieren. In diesem Zusammenhang verweise ich darauf, dass Waldemar Cierpinski und ich den gleichen Mentor für seine und meine Diplomarbeit an der DHfK (Dr. M. Scholich) hatten und wir im Frühjahr 1976 mehrere Gespräche zum Thema „Trainingsmethodische Vorbereitung einer Marathonleistung“ führten. Ergebnisse von bioptischen Untersuchungen spielten dabei keine Rolle. Die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Montreal war zwar Cierpinskis Ziel, stand aber zu diesem Zeitpunkt, Anfang April 1976, noch in weiter Ferne. Insofern ist der von Kühne genannte Hinweis von Dr. Hermann Buhl zu den Medaillenaussichten bei den bevorstehenden Olympischen Spielen von Waldemar Cierpinski unter Bezugnahme auf die bioptische Untersuchungen völlig aus der Luft gegriffen und entspricht nicht der Wahrheit. Über eine Olympiateilnahme wurde erst Mitte Juni entschieden. Die Begegnung mit Waldemar Cierpinski, der in den kommenden Jahren einer der weltbesten Marathon-Läufer wurde, seine offene Art und seine bescheidene Sachlichkeit haben mich beindruckt und auch ein Stück geprägt.

Ist es das Ziel eines öffentlich-rechtlichen Senders, wie die ARD, die Vergangenheit des DDR Sports auf diese Weise zu diskreditieren? Damit werden Werte des DDR-Sports, die es zweifellos gab und auch international anerkannt wurden, einer allseitigen Vernichtung zugeführt. Die Veröffentlichung dieser und ähnlicher Dokumentationen tragen (bei allem Bestreben die Geschichte aufzuarbeiten) nicht dazu bei, dass die Gesellschaft zusammenwächst, wie es von den Politikern gewünscht oder auch „gepredigt“ wird. Sie driftet vielmehr auseinander. Die Bürger mit weniger Hintergrundinformationen werden veräppelt oder bewusst desinformiert. Ich würde mir eine Aufarbeitung der Geschichte (in diesem Falle zum Bereich des Sports) auf Augenhöhe und mit dem gleichen Blick auf beide Systeme wünschen. Die Tragik dabei ist, dass öffentlich-rechtliche Sender zur besten Sendezeit Seppelts Werke ausstrahlen.

Hans-Albrecht Kühne bekam für die Muskelbiopsien 30 Mal 20 Mark der DDR. Über die Anzahl der Leberbiopsien, deren Prozedur mit Kühne in der Doku zu sehen war, wurden keine Angaben gemacht. In der Doku bezeichnete er dieses Honorar als „Fleischgeld“. Für die Anerkennung als Opfer nach dem Dopingopferhilfegesetz (DOHG) bekam er weitere 10.500 Euro. Um in seinem Jargon zu bleiben, wäre das nun „Kopfgeld“. Das Preisgeld für die Mitgestaltung des Dokumentarfilmes ist nicht bekannt.

In der Doku: “… körperliche und seelische Schäden – ein Leben lang …“ – Im wahren Leben: “… sportlich aktiv – gesund und fit …“

Dr. Hermann Buhl verunglückte tödlich im März 2014 auf einer Wanderung in den Alpen. Er kann sich dazu nicht mehr äußern. Hans-Albrecht Kühne hatte noch weit bis in die 1990er Jahre, also 25 Jahre nach der Teilnahme an den Untersuchungen in Leipzig, Kontakt mit Dr. Hermann Buhl. Aus gut informierten Kreisen wurde bekannt, dass bei Kühne während seiner Besuche im neuen Wohnort von Dr. Buhl in Bad Iburg keinesfalls Nachwirkungen seiner Untersuchungen zu erkennen waren. „Sein Gesundheitszustand war ausgesprochen gut und er erschien gesund und fit.“ Und auch 40 Jahre danach, am 09.09.2015, war er mit 63 Jahren als freier Mitarbeiter der SVZ gemeinsam mit dem Chefredakteur und einer Praktikantin Teilnehmer in einer 3 x 2 km-Staffel beim 1. Güstrower Firmenlauf noch „sportlich unterwegs“. Angesichts der Bilder und Kommentare in den Aufzeichnungen der Doku, wie: „um das Lymphsystem zu aktivieren, muss er zweimal die Woche zur Therapie“, „bereits kleinste Verletzungen am Bein können bei Kühne eine Infektion auslösen“, „das kann lebensgefährlich sein, wenn man es nicht behandelt“, da bleibt einem glatt die Spucke weg.

Die Aussagen von Kühne und die Dokumentation von Herrn Seppelt sind für mich ein Betrug an der Öffentlichkeit.

Anmerkung:

Helmar Gröbel, Jahrgang 1951, 1972-1976 Student der DHfK Leipzig, Abschluss zum Diplomsportlehrer; 1991-1994 Student an der Trainerakademie in Köln (Kombiniertes Fern- und Direktstudium), Abschluss zum Diplomtrainer; 1976-1986 Mitarbeiter Sportmethodik (sportwissenschaftlich-methodische Abteilung) des DTSB-Bundesvorstand Berlin; 1986-1990 Verbandstrainer Eisschnelllauf Männer, DELV der DDR; 1991 -1998 Bundestrainer Eisschnelllauf, DESG der BRD; 1998-2000 arbeitslos/ABM-Tätigkeit als Nachwuchstrainer Radsport SC Berlin; seit 2000 selbstständig tätig, „Sportwissenschaftliche Betreuung von Rettungskräften der Berufs-, Werk- und freiwilligen Feuerwehren sowie im Gesundheitsmanagement mittelständiger und großen Unternehmen“.

20 Jahre Erfahrungen mit / über 10.000 persönlich durchgeführten leistungsdiagnostischen Untersuchungen – Fahrrad-Ergometrie im Altersbereich von 16 bis 75 Jahren, Zusammenarbeit mit dem Arbeitsmedizinischen Dienst – AMD.

Persönliche Anmerkung:

Vor einigen Jahren wurde ich an beiden Hüften operiert und trage seit dieser Zeit zwei Implantate (künstliche Hüften). Ich kam nie auf den Gedanken, dass das eine Folge der Übungs- und Ausbildungseinheiten im Turn- oder Gymnastikunterricht oder der Grundausbildung in den Kampfsportarten an der DHfK oder der Untersuchungs- und Laufprogramme in meiner Studienzeit sein könnte. Ich habe nach eigenem Willen viel und oft bis an meine Grenzen trainiert. Mit den Ergebnissen und der Darstellung dieser Doku könnte ich mir aber heute vorstellen, einen Arzt zu finden, der „…nach langer Prüfung aller Umstände … und unter Berücksichtigung des bestehenden Ausbildungssystems in der DDR… und gegen die Zahlung eines Beraterhonorars für die Erstellung eines medizinischen Gutachtens…“ die Schäden durch Arthrose an meinen Hüften als Folge der DHfK-Ausbildung und der Laufstudie mit Dr. Hermann Buhl bestätigt. Das ist unanständig, unmoralisch und unehrlich, aber auch gesetzeswidrig, um dann auf diesem Wege nach dem Dopingopferhilfegesetz mit 10.500 Euro entlohnt zu werden. Was wäre das für ein Unsinn!

Vorheriger ArtikelMuseum der Ostmoderne oder Dreckscher Löffel gibt den Löffel ab – Noch einmal Pop-up-Ausstellung im Pick-nick in Dresden
Nächster ArtikelUi, Uusikuu auf Tour in deutschen Landen und in Finnland