Regierung der großen Hilflosigkeit

Dutzende (Kriegs-)Flüchtlinge stranden täglich auf Lesbos. Tausende sind derzeit auf der griechischen Insel. Sie alle kommen aus den US-amerikanischen Kriegsgebieten, aus Syrien, Irak und Afghanistan. Hunderte warten täglich in der Haupt- und Hafenstadt Mytilini auf die Weiterreise mit dem Schiff aufs europäische Festland. Die meisten wollen nach Deutschland. "Deutschland gut!" Die Deutschen bekommen unter den Flüchtlingen die meiste Achtung und Anerkennung. © Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow, 2015

Es darf nicht angehen, daß für weite Teile unseres Staates oder der Europäischen Union der Eindruck der Gesetzlosigkeit entsteht oder weiter hingenommen wird. Was sind das eigentlich für Innenminister in deutschen Bundesländern, die nach Monaten feststellen lassen, in welchem Maße sich die Menschen illegale Wege in unsere Länder verschaffen und diese Zahl inzwischen alleine für dieses Jahr auf die Einhunderttausender-Marke zugeht? Jüngst verstieg sich ein zuständiger Landesminister zu der Feststellung, daß wir es mit einer Völkerwanderung zu tun hätten und hat die eigene Ohnmacht gleich eingestanden.

Eines ist klar: Gegen diese Entwicklung, die durchaus auch Züge einer bedrohlichen Entwicklung annehmen wird, kann man nicht mit Panzern an den Grenzen aufmarschieren. In der Sekunde, wo das geschieht, wäre das Bild eines humanen Deutschland und einer gleichgesinnten Europäischen Union dauerhaft beschädigt. Die deutsche Kriegsmarine hat in den dunkelsten Zeiten Deutschlands in einem heldenhaften Einsatz gezeigt, wie man Millionen Flüchtlingen beistehen und sie in Sicherheit bringen kann. Warum werden diese organisatorischen und logistischen Erfahrungen nicht in großen Einsatzmöglichkeiten in den Ländern genutzt, aus denen sich die Menschen auf dem Weg zu uns machen und dabei jedes Risiko eingehen?

Warum zieht die Bundesregierung keine Konsequenzen aus den ihr bekannten gewaltigen Schleuser-und Finanzorganisationen, die diese Migrationsbewegung dauerhaft am Leben halten und noch steigern werden? Hinter jedem, der zu schnell fährt, ist der Staat aus gutem Grund her. Organisierte Kriminalität ist genau das, was diese Organisationen betreiben. Der Staat und die Medien kennen die Ursachen und die Hintermänner und präsentieren der deutschen und europäischen Öffentlichkeit nichts als Schweigen.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß die vom Westen rings um uns herum organisierten Kriege und Gewalttätigkeiten die Haupttriebfeder der heutigen Migrationsbewegungen darstellen und die Kriegsparteien in unseren Ländern die Migrationsbewegungen für innenpolitische Zwecke mißbrauchen und die Gesellschaften nach ihrem Gusto auf diesem Wege verändern wollen.

Was hindert uns daran, mit den Verheerungen um uns herum einmal aufzuhören und die Kriege einzustellen? Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß uns noch hören und sehen vergehen werden, wenn das Kriegsgeschrei aus Washington auf dem „europäischen Theater“ manifest wird. Diesen Bildern des heutigen und kommenden Elends muß man sich entgegenstellen. Warum pilgert der Bundesaußenminister nicht nach Eritrea oder der Herr Bundespräsident nicht nach Nigeria, um die Verantwortlichen für die Migration von ihren Handlungen abzuhalten? Stattdessen wird der Unmut der einheimischen Bevölkerung dadurch auf die Spitze getrieben, daß man ihr jede Information über das verwehrt, was sie für sich mit gutem Recht als Eingriff empfinden. Nutzt hier die Exekutive sich bietende Chancen, die in den letzten fünfzig Jahren mühsam errungene Bürgerrechte einzukassieren und die vollziehende Gewalt auf diesen Feldern an sich zu reißen?

Die Bundesregierung soll doch nicht so tun, als wäre sie von der Elendsmigration aus den Balkanstaaten überrascht. Was hat die Mitgliedschaft – oder was ähnliches – zur Europäischen Union diesen Staaten eigentlich gebracht? Wir machen uns alle in diesen Tagen Gedanken über Griechenland und sehen überhaupt nicht, daß angrenzende EU-Mitgliedsstaaten wesentlich katastrophaler dran sind.

Dort, wo sie sich entwickeln könnten, stehen sich bei den möglichen Pipelines die strategischen Interessen der USA und der EU im Wege und die Verarmung dieser Länder schreitet fort. Seit dem Ende des Kalten Krieges stehen sich die Interessen der EU und der USA im Wege, weil es kein gemeinsames Konzept über die Infrastrukturrichtungen gibt oder die USA sich endlich einmal verziehen. Jedenfalls trägt diese Dissonanz entscheidend dazu bei, jede Entwicklung zu sabotieren.

Dahin, wo wir das Elend mit angerichtet haben, sollen wir die Menschen zurückschicken, ohne ihnen in ihren Herkunftsländern einmal eine valide Entwicklungschance aufzuzeigen?

Das gilt für und gerade Serbien und Kosovo. Man muß die Folge des vom Westen angezettelten Krieges sich nur vor Augen führen, um erschüttert darüber zu sein, daß wirklichkeitsfremde europäische und amerikanische Vorstellungen seit Jahrzehnten jede wirtschaftliche Entwicklung im Kernbereich der Region verhindern. Dort betreiben wir eine Form von Morgenthau-Politik, die uns jetzt einholt. Hilflosigkeit, gepaart mit Unvermögen, das ist deutsches Regierungshandeln auf allen Ebenen.

Was war das noch für eine Regierung Kohl/Kinkel, die nach Ende des Kalten Krieges in der Ahnung, daß etwas derartiges auf uns zukommen würde, versuchte, die KSZE und die Europäische Gemeinschaft auf den nördlichen Teil Afrikas unter Einschluß von Israel zu erstrecken und diese Überlegungen mit ihren europäischen Partnern vorangetrieben hatte. Das stand denen im Wege, die die Welt mit ihren Waffen bestimmen wollen und das Ergebnis haben wir heute. Ihre Grenzen halten sie bei den Migrationsbewegungen wohlweislich verschlossen, unsere „Waffenbrüder“.

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Willy Wimmer
Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung a.D. Von 1994 bis 2000 war Willy Wimmer Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).