Dunkelziffer Unterversorgung – Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin will Empfehlungen für Ärzte ausarbeiten

Das gleiche Ziel verfolgt gegenwärtig auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) mit ihrer Kampagne »Klug entscheiden – Über- und Unterversorgung von Patienten vermeiden«.

Darüber informierte der Präsident der Gesellschaft, Prof. Dr. med. Gerd Hasenfuß, Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie am Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen, in einer Pressekonferenz. Die DGIM will analysieren, welche medizinischen Leistungen in der Inneren Medizin überflüssig sind und welche andererseits zu wenig eingesetzt werden. Sie folgt damit einer US-amerikanischen Methode, »Choosing wisely«, über deren messbaren Nutzen in der Pressekonferenz allerdings nicht berichtet wurde. Der alleinige Aspekt der Vermeidung von Überversorgung in den USA  scheint jedoch den Vorständen der DGIM zu einseitig zu sein.

Das Problem ist: Täglich werden Untersuchungen und Behandlungen verordnet, die den Patienten nicht nützen, sondern sogar schaden. Zum Beispiel bringen Antibiotika bei akuten Infektionen der oberen Atemwege nach Erfahrung der Mediziner keinen Nutzen, wie Antibiotika allgemein zu viel verschrieben werden, was zur Resistenz führen kann. Gerade bei älteren Menschen sind Schlaf- und Beruhigungsmittel eher schädlich als nützlich, wohingegen mehr getan werden müsse gegen Osteoporose als Ursache von Knochenbrüchen und Unfällen und gegen Mangelernährung mit Hilfe professioneller Ernährungsunterstützung, meint Manfred Gogol, Ärztlicher Direktor der Klinik für Geriatrie im Krankenhaus Lindenbrunn, Coppenbrügge. Demenz müsse sorgfältiger mit spezifischen Medikamenten behandelt werden.

Bei Menschen über 55 Jahren wird von den Krankenkassen eine Darmspiegelung zur Früherkennung von Darmkrebs empfohlen und bezahlt. Sie sollte jedoch nach Empfehlung der Ärzte nur alle 10 Jahre wiederholt werden. Dass jedoch bisher nur 25 Prozent der in Frage kommenden Bürger untersucht werden, bedeutet eine empfindliche Unterversorgung.

Um wissenschaftliche Empfehlungen zur Vermeidung von Über- und Unterversorgung erteilen zu können, startet die Gesellschaft der Internisten demnächst eine Befragung ihrer Mitglieder. Die Ärzte sollen aus ihrer täglichen Praxis Erfahrungen und Probleme nennen, die aus unzureichender Versorgung oder aus unnötigen Maßnahmen resultieren. Daraus wird ein empirisches und Meinungsbild erarbeitet, wie häufig die jeweiligen Fälle sind, welche Ursachen sie haben und wie  man Mängel beheben kann. Im Herbst wird die Gesellschaft für ihre Spezialgebiete je fünf Negativ- und Positivempfehlungen herausgeben, die alle zwei Jahre aktualisiert werden sollen. Sie sollen dem Arzt bei Entscheidungen helfen, denn er trägt auch die juristische Verantwortung. Die Gesellschaft will das Bewusstsein schärfen: Was mache ich und warum – aus Überlegung oder aus Angst, etwas zu unterlassen? Das soll auch im Medizinstudium eine größere Rolle spielen. Befragt werden die 23 000 Mitglieder der internistischen Fachgesellschaften. Warum aber Allgemeinmediziner mit ihrem riesigen Erfahrungsschatz nicht einbezogen werden, ist unverständlich.

Dass die Kampagne eine verkappte Maßnahme für Einsparungen im Gesundheitswesen sei, bestreitet Hasenfuß. Das Hauptproblem benannte der Generalsekretär Prof. Dr. med. Ulrich H. Fölsch. Die Ärzte haben infolge der Honorarordnungen zu wenig (bezahlte) Zeit für das Gespräch mit den Patienten. Nur im Gespräch könne der Arzt genug über die Vorgeschichte, die Beschwerden sowie über physische und psychische Probleme des Patienten erfahren und ihn entsprechend behandeln. Auch ohne die Befragung ist klar – hier herrscht Unterversorgung. Als Extremfall wird aus der Rehaklinik Silbermühle in Plau am See berichtet, eine Ärztin stelle eine Sanduhr auf den Tisch. Sei die abgelaufen, sei das Gespräch beendet. Ob die »Innere« Gesellschaft zu dem Schluss kommt, wie viele Ärzte wo fehlen und was zusätzlich benötigte Stellen kosten, und ob sie sich mit den zuständigen Politikern streiten will, wurde noch nicht als Aufgabe formuliert.

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