Mit ironischer Distanz – Friederike Hellers Inszenierung „Einsame Menschen“ in der Schaubühne

Friederike Heller hat das 1890 erschienene Drama aus heutiger Sicht kritisch interpretiert. Dabei musste vor allem der Held, Johannes Vockerat, Federn lassen. Hauptmann hat dem genialen jungen Mann autobiographische Züge verliehen. Während der 28jährige Gerhart Hauptmann „Einsame Menschen“ schrieb, lebte er in Erkner, in der Nähe des Müggelsees, in erster Ehe verheiratet mit einer wohlhabenden Frau, die seinen geistigen Ansprüchen nicht genügte, von der er jedoch finanziell abhängig war.

Johannes Vockerat residiert in einer eleganten Villa direkt am Müggelsee, und auch er ist geschlagen mit einer Frau, die ihm an Bildung und Intelligenz weit unterlegen ist. Für den Lebensunterhalt des jungen Paares sorgen allerdings Johannes’ Eltern. Anders als Gerhart Hauptmann, der die Schule mit der Mittleren Reife abschloss, hat Johannes Vockerat glänzende Abiturnoten und einen hervorragenden Universitätsabschluss vorzuweisen.

Anstatt aber nun Karriere zu machen schreibt Johannes an einem Werk, das ebenso der Kunst wie der Universalgelehrsamkeit verpflichtet und so überragend geistvoll ist, dass niemand in Johannes’ Umgebung es verstehen und würdigen kann. Dieses Unverständnis stürzt Johannes in eine Schaffenskrise und raubt ihm den Lebensmut. Aber da erscheint die Studentin Anna Mahr, die genügend akademisches Wissen mitbringt, um Johannes und seine Arbeit gebührend wertschätzen zu können.

Tilman Strauß als Johannes Vockerat ist ein Rebell ohne Kampfgeist, ein eitler Schönling, der nicht begreifen kann, dass sich nicht alles ganz selbstverständlich nach seinen Wünschen richtet. In Körperhaltung und Mimik drückt Tilman Strauß beständig Missmut aus. Daran ändert sich auch nach Anna Mahrs Auftauchen kaum etwas, denn die für Johannes kongeniale Gefährtin  wird von den Menschen seiner Umgebung wenig beifällig aufgenommen. Dazu kommt, dass die rein geistige Freundschaft zwischen Johannes und Anna nicht frei ist von sexueller Begehrlichkeit.

Hauptmann hat sein Stück vollgepackt mit aktuellen Themen seiner Zeit, die in dem Rückblick, den Friederike Hellers Inszenierung bietet, seltsam irreal erscheinen. Zu erleben ist das ausgehende 19. Jahrhundert, das Fin de Siècle mit Johannes Vockerat als hypersensiblem, schlecht gelauntem und lebensuntüchtigem Vertreter der Dekadenz.

Die Eltern, von deren Einfluss Johannes sich nicht befreien kann, der strenge Vater und die fürsorglich vereinnehmende Mutter, werden in Personalunion von Ernst Stötzner verkörpert. Herr und Frau Vockerat senior, fest verwurzelt im christlichen Glauben und eng verbunden mit der evangelischen Kirche, sind durch ihre Ehe wahrhaft ein Fleisch geworden.

Ernst Stötzner, mit schwarzem weitem Rock und schwarzem Herrenhemd (Kostüme Sabine Kohlstedt) arbeitet den Starrsinn und die unbeugsame Härte des Vaters wie auch die Betriebsamkeit und die, nicht immer ehrliche, Herzlichkeit der Mutter sehr fein heraus. Stötzner ist für die Komik in der Inszenierung zuständig. Sein groteskes Doppelwesen Vockerat wird, fern jeden Klamauks, in seiner ganzen reaktionären Spießigkeit lebendig.

Das Aufbegehren und die brodelnden Leidenschaften der jungen Generation äußern sich in gedämpften Tönen, erscheinen wie verblasste, halb vergessene Erinnerungen. Eva Meckbach als Johannes’ Ehefrau Käthe ist eine attraktive junge Frau, die ihren Mann bewundert, ihm alles recht machen möchte, an seiner Zerrissenheit mitleidet und die Verachtung, mit der er sie demütigt, schuldbewusst leidend hinnimmt. Käthe, im eleganten violetten Hosenanzug, ist so fixiert auf ihren Ehemann, dass sie auch ihre Mutterrolle als unwürdig empfindet, denn für Johannes ist sein Sohn, das unverständige Baby, keiner Beachtung wert.

Anna Mahr scheint ebenfalls kein höheres Ziel zu haben als das, vom selbsternannten Genie Johannes Vockerat für würdig befunden zu werden, sein Werk zu fördern. Mit der Gestalt der aus Reval stammenden jungen Frau, die seit vier Jahren an der Universität Zürich studiert, hat Gerhart Hauptmann ein unergründlich geheimnisvolles Wesen erschaffen.

Jule Böwe ist die Idealbesetzung für diesen Paradiesvogel, der sich in die bürgerliche Enge verflogen hat. Jule Böwes Anna Mahr erscheint arglos, weltoffen, frei von Vorurteilen und ehrlich bis zur Rücksichtslosigkeit. Aber obwohl sie Johannes Zuversicht und Selbstvertrauen vermittelt, ist sie selbst sehr unsicher, auch wenn sie das durch schnippische Bemerkungen und zur Schau getragene Sorglosigkeit zu überdecken versucht.

Christoph Gawenda ist der Maler Braun, der einzige von Johannes’ Freunden, der noch zu ihm hält, auch wenn Braun von den überragenden Fähigkeiten des jungen Vockerat nicht überzeugt ist. Braun nimmt allerdings auch seine eigene Kunst nicht sehr ernst. Christoph Gawenda gestaltet den Künstler als einen sympathischen, traurigen jungen Mann, der in den Tag hinein lebt und von der Zukunft nichts zu erhoffen scheint.

Sabine Kohlstedt hat für diese Inszenierung nicht nur die zeitlosen Kostüme mit einigen Verweisen auf die Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts entworfen, sie hat auch das wunderschöne Bühnenbild kreiert: Die ganze Bühne ist mit Wasser bedeckt. In der Mitte erhebt sich daraus die Spielfläche, ein viereckiges, blau-weiß gekacheltes Podest. Links ragt aus dem See ein Flügel, auf dem der Pianist Michael Mühlhaus leider nur wenige Male allzu kurze Stücke spielt. Das Podest dreht sich langsam im Uhrzeigersinn. Darüber hängt eine Lampe mit fünf weißen Glaskugeln, die sich an einem großen Metallring dreht, und wenn die SchauspielerInnen auf den vier Drehstühlen auf dem Podest sitzen und gleichfalls gemächlich um die eigene Achse kreisen, sehen sie aus wie Figuren auf einer Spieluhr.

Das Wasser ist anfänglich unbewegt, eine glatte schwarze Fläche. Erst wenn die AkteurInnen  bei ihren Auftritten und Abgängen knöcheltief hindurch waten wird erkennbar, dass es sich tatsächlich um Wasser und nicht um eine Plastikplane handelt.

Käthe stürzt einige Male verzweifelt in den See, aber wenn Johannes sich am Ende des Stücks ertränkt, liegt er nicht im Wasser, sondern erscheint plötzlich mit verzerrtem Gesicht und verdrehten Gliedmaßen in der Mitte des Podests. Nicht durch ein großes Werk, das er wohl nicht zu schaffen imstande war, sondern durch seinen Tod sichert sich Johannes Vockerat den von ihm angestrebten Platz im Zentrum des Geschehens.

Friederike Heller hat Gerhart Hauptmanns Stück sehr intelligent und ohne Effekthascherei auf den Punkt gebracht, und das Schauspielensemble sorgt durch hochkonzentriertes Zusammenspiel und feinsinnige Charakterisierung der Personen für spannende, geistreiche Unterhaltung.

„Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann hatte am 04. September Premiere in der Schaubühne am Lehniner Platz. Nächste Vorstellungen: 28. und 29.09., und 02., 03., 06. und 07.10.2011.

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