Stralsund, Deutschland (Weltexpress). 1200 PS im „Keller“ quirlen grauen Schlamm vom Havelgrund auf. Mit dem nur fingerdicken Steuerhebel dirigiert Kapitän Peter Grunewald seine 82 Meter lange und 9,5 Meter breite SANS SOUCI wie spielerisch von der Spandauer Pier in die Fluss-Fahrrinne.
Doch hinter dem freundlichen 51-jährigen Hünen stecken rund 35 Jahre Binnenschiffer-Erfahrung auf europäischen Flüssen und Kanälen.
Das Steuerhaus ist bereits in seiner Versenkung verschwunden. Voraus wölbt sich die Charlottenbrücke. „Der Einzige, der noch übersteht, bin ich“, grinst der hochgewachsene Mann am Außenfahrstand, geht aber gleich darauf mit eingezogenem Kopf in die Hocke. „Hier haben wir ja noch 80 Zentimeter Luft“, gibt sich Grunewald gelassen, „da kommen noch ganz andere Dinger.“
Lob der entschleunigenden Langsamkeit
Die 80 Passagiere erleben das knappe Manöver-Schauspiel beim Frühstück im Restaurant. Für sie ist jetzt das Sonnendeck tabu, bis der Brückenschatten über den weißen Binnenkreuzer hinweg gestrichen ist. Jogger stoppen ihren Lauf und wundern sich, wie´s scheint, über den Heimathafen Peißen am Heck. „Kommt ihr aus Sachsen“, hört man einen rufen, der wohl „Meissen“ meint. „Nee, aus Berlin!“, erwidert jemand schlagfertig. Die deutsche Flagge am Heck knattert dazu fröhlich im Morgenwind. Grunewald trägt zwar den Namen des größten Berliner Waldgebietes, ist aber waschechter Sachsen-Anhaltiner aus dem Saale-Städtchen Mukrena, „nicht zu verwechseln“, schiebt er nach, „mit Mukran auf Rügen“.
Eingerahmt von Instrumenten, Monitoren und Radargerät hockt Grunewald in seinem Fahrstand. Schiffsverkehr und Einfahrt in die Spandauer Schleuse hinter der Spree-Mündung verlangen volle Konzentration.
Nach der Schleusenpassage noch etwas Großstadtkulisse zwischen der historischen Festung und den Brücken. Bald duckt sich der Speckgürtel Berlins hinter der hohen Kiefernkulisse, worin sich an Steuerbord am Tegeler See das Schloss der Familie von Humboldt versteckt. In einem Punkt jedoch gleicht die vor uns liegende Strecke den Abenteuerreisen Alexander von Humboldts vor 200 Jahren: der Geschwindigkeit. Erlaubt sind zwischen neun und zwölf Kilometer im Radfahrertempo. Am Ufer lauern manchmal auch „Wegelagerer“: Wasserschutzpolizisten mit Blitzgerät auf der Jagd nach Temposündern. Da braucht´s denn schon fünf Tagesreisen bis zur rund 300 Kilometer entfernten Ostsee. Entschleunigung pur oder Lob der Langsamkeit.
Zweitwichtigster natürlicher Wasserlauf
Als der aus DDR-Zeiten übrig gebliebene Wachtturm bei Niederneuendorf an der Oberhavel in Sicht kommt, werden bei einem Passagier Erinnerungen wach: „Da musste ich als junger Bengel dienen. Zur Marine ließ man mich nicht“. Er meint seine damalige Einheit, die mit ihren schnellen Booten die „Staatsgrenze West“ auf dem Wasser „schützte“. Zum „Trost“ für ihn: in Marine-Uniform. Neben der Einfahrt in den Oder-Havel-Kanal bei Hennigsdorf deuten noch versenkte Schleppkähne darauf hin, dass das Ufer des Sees, der an den Berliner Stadtteil Heiligensee grenzt, bis zur Wende blockiert war.
Zwischen Brötchen und einem Schluck Kaffee informiert der Kapitän seine Gäste: „Wie Sie sicher schon bemerkt haben, meine Damen und Herren: Nur wenige Weltstädte haben ein so ausgedehntes wasserreiches Netz von Seen, Flüssen und Kanälen wie Berlin. Die Havel ist nach der Spree der zweitwichtigste natürliche Wasserlauf der Stadt. Wegen ihrer zahlreichen seenartigen Erweiterungen nannte man den Fluss altnorddeutsch ´Haf`, was soviel wie ´See` bedeutet.“ Wir hören weiter, dass der von 1909 bis 1914 gebaute 56 Kilometer lange Oder-Havel-Kanal, in den wir einlaufen, früher die wichtigste Großschifffahrts-Verbindung zwischen Berlin und Stettin war. Der Mann am Ruder kennt das Revier wie seine Westentasche und so manche Anekdote aus seiner Zeit als Tanker-Kapitän. Der letzte, benannt nach seiner Tochter ULRIKE, gehörte ihm. Bis ihn die Flusskreuzfahrt lockte.
Traumtag und Traumstrände
Hennigsdorf glänzt mit Geschwindigkeit: nagelneue ICE-Züge aus der traditionsreichen Lokomotivschmiede warten neben dem Kanal auf ihren schnellen Einsatz. Und über die Brücken des Autobahnrings brettern Blechkolonnen. „Rein jar nischt kriegen se mit“, meint eine Berlinerin kopfschüttelnd und lobt die beschauliche Langsamkeit „ihres Dampfers“. Die „Herren der Schöpfung“ delektieren sich derweil an sparsam bekleideten „Gänseblümchen“. Die „sprießen“ an diesem Traumtag bikiniknapp auf gelb leuchtenden Traumstränden – dort, wo märkischer Sand von seinen Kiefern entblößt worden ist. Ein beleibter Petri-Jünger wärmt seine Rundungen genüsslich in der Sonne. „Dir hat der Arzt wohl Sport verordnet!“ ruft jemand hinüber und alle lachen. Dicht an dicht aufgereihte Laubenpieper-Hütten gewähren intime Einblicke in sonntägliche Frühstücks-Idyllen. Die Gartenbewegung hatte hier in den zwanziger Jahren ihren Ursprung und nennt sich heute wie damals „Eden“.
Bei der Einfahrt in die Schleuse Oranienburg-Lehnitz tropft es vom hochgezogenen Tor: eine unplanmäßige Taufe mit Havel-Wasser.
Vor den Brückenpassagen haben die Matrosen die Reling umgelegt. Kapitän Grunewald versenkt sich immer wieder mitsamt seinem Ruderhaus. Angestrengt peilt er nach vorn. „Gleich wird´s gaaanz knapp“, weiß er und warnt noch einmal seine Passagiere davor, auf das gesperrte Oberdeck zu kommen: „Das Beschädigen der Brücke ist bei Strafe verboten“, scherzt er. Bei einer etwas höheren Konstruktion freut sich eine Frau über ihren geduckten Mann: „Endlich bist du mal ganz klein!“ Der umfangreicher Herr neben ihnen verzieht sich vorsichtshalber gleich nach unten: „Bei meinem Bauch kann ich mich nicht bücken.“
Tiefe Kratzspuren am Brückenbeton zeugen von unsanfteren Annäherungen weniger glückhafter Schiffe.
Im Urstromtal Klein Holland
Den schiffsschmalen Kanal säumt jetzt nur noch eine Wand aus schier undurchdringlichem Wald. „So stell´ ich mir eine Amazonasfahrt vor“, träumt eine Frau.
Aus dem „brasilianischen Dschungel“ gleiten wir übergangslos durch „Klein-Holland“: hinter dem Werbellin-Kanal säumen hohe Deiche das tief liegende, sumpfige Wiesenland am Rande des uckermärkischen Biosphärenreservats Schorfheide. Wildschweine wühlen hingebungsvoll in der Kanalböschung. „Das hab´ ich auch noch nicht gesehen“, meint ein Hamburger von diesem Anblick beeindruckt. „Und erst die fischenden Reiher aus der Vogelperspektive“, schwärmt seine Frau. Dazu zählt auch der Zug auf der Strecke Stralsund – Berlin, der plötzlich zehn Meter unterm Kiel durch den Tunnel donnert. Wir queren das Berlin-Eberswalder Urstromtal.
Kurzer Stopp in Eberswalde, denn die Busrundfahrer zieht es zur Zisterzienser-Klosterruine Chorin von 1334, gilt sie doch als eines der ältesten teilweise erhaltenen Bauwerke der Backsteingotik.
Großes Spektakel voraus. Schemenhaft zeichnet sich dahinter ein hohes Turmfiligran gegen den Abendhimmel ab: das Highlight des Tages Niederfinow.
Kreuzfahrtdirektorin Cathrin Fuhrmann, waschechte Stralsunderin, schöpft aus ihrem historischen Fundus: „Der Gedanke, Havel und Oder über das Urstromtal zu verbinden, entstand bereits um 1540. Am 21. Oktober 1603 begann man mit dem Bau eines Kanals samt elf Schleusen, in den das damals wirtschaftlich wichtige Flüsschen Finow einbezogen wurde. Während des Dreißigjährigen Krieges fiel er der Zerstörung anheim und versandete.“
Friedrich der Große ließ auf Bitten der Eberswalder durch seine Soldaten einen zweiten Kanal bauen, der 1746 in Betrieb genommen wurde. Mit Hilfe von 20 Schleusen, zwölf sind heute immer noch intakt, wurde die Talwasserscheide überwunden. Dank der Eröffnung des modernen Oder-Havel-Kanals verlor der Finow-Kanal an Bedeutung.
Fahrstuhlfahrt in die Tiefe
MS SANS SOUCI tastet sich in das dunkle Gerüst hinein. Früher übernahmen die Treidelarbeit kleine Elektroloks, an die noch ein museales Restexemplar am Ufer erinnert. Wir sind umzingelt von Stahlträgern, Rädern und Seilen. Das Schiff scheint über den Baumwipfeln zu schweben. Cathrin Fuhrmanns „Geisterstimme“ aus dem Lautsprecher passt zur Szenerie: „Wir befinden uns jetzt im zweitgrößten, aber interessantesten Schiffshebewerks der Welt, das am 21. März 1934 nach siebenjähriger Bauzeit eingeweiht wurde. Dadurch konnten die Frachter-Kapitäne viel Zeit einsparen und die nebenan gelegene vierstufige Schleusentreppe wurde überflüssig. Wir sind gerade in den 85 Meter langen Trog eingefahren, der zusammen mit dem Wasser 4300 Tonnen wiegt“. Staunend vernehmen ihre Zuhörer noch zwei Superlative: Höhe des Hebewerks 60 Meter, Gesamtgewicht der verarbeiteten Bauteile 14 000 Tonnen. „Wenn ein Schiff hier einläuft, wird der Trog nicht etwa schwerer“, lüftet Cathrin das Geheimnis, „sondern es wird so viel Wasser an den Kanal abgegeben, wie das Schiff verdrängt.“ Das Gewicht des wassergefüllten Troges bleibt immer gleich, ob nun mit oder ohne Schiff. Um ihn ohne viel Kraftaufwand zu heben, ist eine ebenso große Gegenmenge notwendig, wird man an frühere Physikstunden erinnert. Für Ausgleich sorgen 560 Betonblöcke zu je sieben Tonnen, die durch 256 Drahtseile gehalten werden. Daher genügen auch vier 75 PS-Elektromotoren, um den Trog zu bewegen.
Ab 2018 wird ein noch größeres Hebewerk mehr, vor allem größere Schiffe noch schneller auf und ab bewegen. Nach einer halben Stunde ist das Spektakel gelaufen, wovon die eigentliche 36-Meter-Fahrstuhlfahrt auf Odertal-Niveau nur fünf Minuten dauert. „Er sinkt!“ stellt ein Seh-Mann während der Abwärtsfahrt sachlich fest, aber seine Frau frotzelt: „Hoffentlich keine schmutzigen Lieder!“ und hat damit die Lacher auf ihrer Seite.
Feierabend im Schifferstädtchen Oderberg. Am Lagerfeuer bei Schmalzbrot, Bier und Fackelschein im „Deichgrafen“ gleich neben der Anlegestelle. Der Mond leuchtet heim an Bord, wo der Pianist mit flotten Klängen noch unermüdlich zum Tanz aufspielt.
Schreck in der Morgenstunde mit Naturgenuss
Ein Angler wittert Beute zwischen Schiff und Pier. Als wir den Vorhang des Kabinenfensters am nächsten Morgen öffnen, fällt ihm beinahe die Rute aus der Hand: zwei „große Fische“ hinter Glas starren ihn an. Schreck in der Morgenstunde – auf beiden Seiten.
Die Gäste genießen die Fahrt auf der künstlich angelegten Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße. Sie verläuft parallel zur Ostoder durch den Nationalpark Unteres Odertal, einer von zwölf in Deutschland. Er ist Teil eines deutsch-polnischen Naturschutzprojektes, das ein Gebiet von 106 Quadratkilometern umfasst und sich von der Schleuse Hohensaaten über eine Länge von 60 Kilometern bis vor die Tore Stettins erstreckt.
Die Flussaue ist von vielen Altarmen durchzogen. Während bei anderen deutschen Flüssen Hochwasser schnell zur Gefahr werden kann, ist es an der unteren Oder alljährliche Normalität, dass Tausende Hektar Wiesen und Weisen, Auwälder und Moore meterhoch überflutet werden. Nirgendwo sonst in Europa sind derart große natürliche Überflutungsräume erhalten geblieben. Zusammen bilden diese Flächen ein riesiges Rückhaltebecken, in dem sich das Hochwasser verlaufen kann, ohne flussabwärts Schaden anzurichten. Gleichzeitig wirkt die überschwemmte Aue wie eine überdimensionale biologische Kläranlage mit Gratis-Säuberung des belasteten Flusswassers. Die vom Menschen unbeeinflusste Renaturierung hat Erstaunliches bewirkt: einen der artenreichsten Lebensräume Deutschlands. Dazu zählen Auwälder, naturnahe Laubmischwälder oder das nordwestlichste Verbreitungsgebiet der Steppenzone mit blaublühendem Kreuzenzian, silbrigem Federgras oder gelbem Adonisröschen. Die außerordentlich reiche Wasservogelwelt ist unter internationalen Schutz gestellt worden. Mehr als 120 Vogelarten brüten im Nationalpark, darunter See-, Fisch- und Schreiadler, viele Weißstörche, der seltene Schwarzstorch sowie die weltweit vom Aussterben bedrohten Seggenrohrsänger und Wachtelkönige.
Auf der Oder nach Norden
Vom Stolper Wehrturm aus dem 11. Jahrhundert mit seinem bis zu fünf Meter mächtigen Mauerwerk könnte man jetzt über die zwei bis vier Kilometer breite Flussaue hinüber zu den polnischen Uferhängen sehen.
Gleich den Tausenden von Gänsen und Kranichen zählen auch wir scheinbar zu den Zugvögeln – nur in umgekehrter Richtung gen Norden.
Der Oderstrom treibt uns Stettin, der alten Hanse- und früheren Hauptstadt Pommerns, entgegen. Mit Kraftwerksschloten, Kränen, Werkshallen, Werften und Plattenbauten kündigt sich die Halbmillionen-Metropole an. Unbeeindruckt davon ziehen Seeadler über uns ihre Kreise und führen den SANS SOUCI-Fahrern vor, wie man im Flug Fische fängt. „Das sind schon alte Bekannte“, meint Grunewald über Bordlautsprecher. Als unermüdlicher Beobachter teilt er alles, was da an Back- und Steuerbord kreucht und fleucht, seinem dankbaren Publikum mit.
Neben den hoch aufragenden Überseefrachtern im Stettiner Hafen schrumpft unser Flusskreuzer auf Spielzeuggröße zusammen. Der Hafenkapitän weist uns den attraktivsten Liegeplatz zu: direkt vor der berühmten Haken-Terrasse, wo auch große Kreuzfahrtschiffe anlegen. Für individuelle Landgänger hat Peter Grunewald immer auch ein paar gute Tipps parat.
Am nächsten Tag locken die ansehnlich restaurierte mittelalterliche Altstadt, das Schloss der Pommernherzöge samt ihren Sarkophagen, der rostrote Backsteinbau des Altstädter Rathauses, die weniger vorteilhaft aufgebaute gotische Jakobi-Kathedrale und last but not least das Seefahrtsmuseum alle unwiderstehlich für ein paar Schau-Stunden an Land.
See-Gefühle verlangen Rettungsübung
Hinter Stettin weitet sich der Fluss zum Trichter. Sogar eine Wiedervereinigung findet statt: die von Ost- und Westoder in der Nähe des Dammschen Sees. Bis sich voraus der Blick aufs leuchtfeuergespickte Oderhaff weitet. Ein ehemaliger Binnenschiffer mit Küsten-Erfahrung hat dazu seine ganz eigene Steigerungs-Philosophie: „Aus der Kanal- und Brückenenge hinaus zur Freiheit der offenen See!“ Wir lassen die Große Kaiserfahrt, die durch Swinemünde zur Ostsee führt, an Steuerbord und drehen ins Kleine Haff ein.
Zeit für die Seenotrettungsübung – wie auf einem „Dickschiff“. SANS SOUCI steuert unterdessen mit schäumender Bugsee und gemütlich rollend den Peenestrom an, der hinter der zerstörten Karniner Eisenbahnbrücke beginnt.
Beim Mittagessen querab Ückermünde stellen sich See-Gefühle ein. Passagier-Kommentar: „Ich glaub´, ich sitz im Wasser!“ An den tief liegenden Restaurantfenstern glucksen die Wellen entlang. Wenn dann noch die Köche „Außenbordskameraden“ auf dem abwechslungsreichen Speiseplan setzen und die Angler einem fast auf den Teller linsen, könnte man meinen: frischer Fisch direkt auf den Tisch!
Auf dem „Amazonas des Nordens“
Hinter der zerstörten Karniner Eisenbahnbrücke biegt Kapitän Peter Grunewald nach Backbord ab – hinein in die Peene. Zwischen ihrer Mündung östlich des vorpommerschen Städtchens Anklam und Malchin am Kummerower See ist der mit über 100 schiffbaren Kilometern längste Fluss des nordöstlichen deutschen Bundeslandes schiffbar. Er gilt außerdem als das idyllischste Fließgewässer Norddeutschlands. Flora und Fauna des Grenzflusses zwischen den Landesteilen Mecklenburg und Vorpommern sind außergewöhnlich und naturgeschützt. Ein unzerstörtes, kaum besiedeltes Paradies.
Erstmals wurde das Revier im Juli 1997 auch Nicht-Wassersportlern zugänglich gemacht. „Schuld“ daran ist die Oder gewesen. Ihr Hochwasser hat die Schifffahrt in den ostseenahen Boddengewässern festgehalten. Kapitän Johann Magner, der vertretungsweise auch die SANS SOUCI fährt, hat daraufhin aus der Not eine Tugend gemacht. Statt auf der bisherigen Sommerroute Berlin-Stettin-Rügen-Hiddensee-Stralsund zu fahren, hat er – damals noch mit der KÖNIGSTEIN – spontan den Kurs geändert und die Peene angesteuert. Die erfreulich große und positive Resonanz hat ihm Recht gegeben.
Mit Tempo 12 zu Berg
Vor der Zecheriner Brücke, die Usedom mit dem vorpommerschen Festland verbindet, schimmert silbern die Mündung des Peene-Flusses.
Konzentration bei der Fahrt durch Anklam. Die geöffnete Eisenbahnbrücke, die Berlin und Stralsund verbindet, lässt gerade mal einen Meter „Spielraum“ an jeder Seite. „Mit 1000 PS und Bugstrahlruder und zwei Fernsehmonitoren kein Problem“, winkt der Kapitän ab, der sich während des spannenden Manövers entspannt in seinen „Pilotensessel“ zurücklehnt. Der Steuermann fordert aus Sicherheitsgründen dazu auf, die Köpfe einzuziehen.
Über die Wechselsprechanlage meldet er von achtern den jeweiligen Abstand Schiff-Brücke. Dann wie erlösend: „Geht klar, Kap´tän!“ Ohne auch nur im Leisesten zu berühren, rutscht das lange Schiff hindurch.
„Unter dem Kiel haben wir genug Wasser“, beruhigt der erfahrene Schiffer die Skeptiker. „Die natürliche Tiefe des Flusses liegt zwischen drei und vier Metern, das Gefälle beträgt auf 100 Kilometer gerade mal 28 Zentimeter. Weil die Strömung so schwach ist, können wir mit Tempo 12 zu Berg fahren.“ Die Freuden der Langsamkeit sind für viele eine Neuentdeckung. Bei entsprechenden Windrichtungen strömt das Wasser sogar gegen die eigentliche Fließrichtung. Das Echolot bleibt sicherheitshalber in Betrieb. Die SANS SOUCI passt wie maßgeschneidert zum Fluss. „Wo es zu eng wird, kann man auch keine Fehler machen“, meint Grunewald augenzwinkernd.
Grüner Freiluft-Film
50 Kilometer Beschaulichkeit bis zum Landstädtchen Loitz. Nur hin und wieder ein verträumt daliegender Angelkahn. Zugewucherte Torfstiche zweigen wie Zinken eines Kammes vom Ufer ab. Erlenbruchwälder und Schilf gleiten als grüner Film vorüber. Durch die würzige Luft segelt ein riesiger Weißkopfseeadler. „Ich glaub´, ich bin im Wald. Da kann ich die Seele baumeln lassen“, sinniert ein Hamburger Lehrer, der Kräfte für das neue Schuljahr sammelt.
Kreuzfahrtleiterin Kathrin Fuhrmann, „guter Geist des Hauses“, unterbricht die Idylle. Essenszeit. Die Speisekarte von Chefkoch Christian verheißt Kulinarisches: Putenbrust an Waldorfsalat, Rinderkraftbrühe, Lammrückenfilet an Madeira, Blumenkohl nach polnischer Art mit Kartoffelzöpfen, Himbeerquark. Die „One-Man-Band“ des Musikers sorgt für dezente Piano-Untermalung. Der Heu- und Kräuterduft, der von den Ufern durch das gediegene Restaurant weht, wirkt zusätzlich appetitanregend.
Ohne Kratzer um die Ecke
Aufregung, als ein Biber knapp vor dem Schiff die Ufer wechselt. Die Tiere wurden hier ausgewildert und sind schnell heimisch geworden. Fischreiher segeln lautlos in den Schilfsaum. Rehe halten beim Äsen inne oder schnellen in eleganten Sprüngen davon..
Peter Grunewald tastet sich durch die scharf gekrümmten Flussschleifen. Plötzlich aus dem Schilf eine Stimme: „Ist das aber ein Mordskasten!“ „Der wird gleich noch länger!“, ruft jemand schlagfertig zurück.
Bald reckt sich der spätromanische Turm der St. Bartholomaei-Kirche der aufstrebenden Hansestadt Demmin über das grüne Meer. „Die hier in die Peene mündenden Flüsschen Trebel und Tollense haben den Begriff ‚Drei-Strom-Land‘ geprägt. Seit der Hansezeit herrschte hier reger Schiffsverkehr und 1855 kam der erste Dampfer aus Stettin. Sichtbares Zeichen für den regen Handel sind die Getreidespeicher am Hafen“, erklärt Monika.
Drei schwierige Brückendurchfahrten sind zu bewältigen, sogar die Reling muss umgelegt werden. Die Kadenbrücke mitten im Ort verlangt höchste Manövrierkünste. Das 82-Meter-Schiff ohne Kratzer um die Ecke zu bugsieren, grenzt an Zauberei. Peter Grunewald bleibt auch hier „cool“, trotz sommerlicher. Die Seh-Leute an Deck und am Ufer verfolgen wie gebannt das Schauspiel.
Blumenpflücken inbegriffen
Ein Hühnerhof gerät in Aufruhr. Hektisch flattern die Hennen durcheinander. Vergeblich versuchen die Hähne, ihr Völkchen durch Krähen zur Ordnung zu rufen. Enten nehmen den ungewohnten Koloss erst im letzten Augenblick wahr und starten zur Flucht.
Dann wird`s noch enger. MS SANS SOUCI füllt das schmale Flussbett fast vollständig aus, streift beim Kurvenfahren mit dem Heck fast das Schilf. Dessen biegsame Halme neigen sich unter dem Wasserschwall respektvoll zur Seite. Überhängende Zweige knicken ab und landen an Deck. „Blumenpflücken inbegriffen“, meint eine Münchnerin belustigt, während ihre Freundin aus Norwegen es nicht fassen kann, „dass es so etwas Exotisches in Deutschland noch gibt.“ Wie zur Bestätigung treiben schwimmende Gras- und Blumeninseln auf das Schiff zu und werden vom Steven zerschnitten: Amazonas-Impressionen en miniature. Sogar die Temperaturen stimmen. Über unseren Köpfen kreist ein roter Milan. Und Myriaden von Bremsen, die sich als blutgierige Plagegeister auf uns stürzen. Dann Einlaufen in den elf Kilometer langen Kummerower See. Anlass für ein Glas Sekt. Beginn der hügel- und seenreichen Mecklenburger Schweiz. Die rote schweizerische Heckflagge mit dem weißen Kreuz knattert wie zur Begrüßung im Wind.
Der Abend klingt aus mit einem (oder mehreren) Gläschen Wein an Oberdeck. In einer Sage heißt es passend: „In der Weihnachtszeit soll das Wasser des Kummerower Sees zu Wein werden…“ So lange können wir nicht warten. Als glutroter Ball taucht die Sonne hinter den gewellten Bornitzbergen unter den Horizont. Später lässt milder Mondschein den elf Kilometer langen See noch romantischer erscheinen. Nebelschwaden wabern. Bilder von Caspar David Friedrich kommen einem in den Sinn. „Hier bliwt allens bi´n ollen!“, stellte auch schon der mecklenburgische Heimatdichter Fritz Reuter auf Plattdeutsch fest. Übersetzt heißt das: „Hier bleibt alles beim alten!“ Ein Glück!
Kulinarische Highlights zum Abendessen
Nach der Peene-Talfahrt gleitet am nächsten Tag die Insel Usedom vorüber mit ihren mittlerweile schon wieder mondänen Bädern an der Seeseite. Heringsdorf, Bansin, Ahlbeck und Zinnowitz – vor dem letzten Krieg auch die „Badewanne Berlins“ genannt, stehen natürlich auf dem Besuchsprogramm der Busausflügler ab Wolgast. „Bei gutem Wetter und der entsprechenden Sonder-Genehmigung könnten wir vielleicht auch irgendwann mal die Seebrücken ansteuern“, sieht Grunewald hoffnungsvoll neue See- und Seh-Ziele an der Zukunfts-Kimm.
Drei Stunden geruhsame Fahrt über den Fluss-See, gesäumt von Steilufern im Wechsel mit Feld-, Wald- und Wiesenabschnitten. „Die stille Wasserlandschaft wirkt beruhigend auf uns, richtig erholsam.“ Das Ehepaar aus Rostock räkelt sich wohlig in seinen Liegestühlen auf dem weitläufigen Oberdeck mit Rundumsicht: „Die Reise haben wir uns zur Goldenen Hochzeit geschenkt, denn an der Peene sind wir groß geworden.“ Weitere 63 Passagiere – maximal können es 88 sein – aus ganz Deutschland sind mit von der Wasserpartie. Sie logieren in 44 geschmackvoll und zweckmäßig eingerichteten Außenkabinen mit allem Kreuzfahrtkomfort.
Ausklang des Tages beim Abendessen im Hafen vom ehemaligen Residenzstädtchen der Herzöge von Pommern-Wolgast. Die Kombüse zaubert kulinarische Highlights: Gänseleberpastete an Portweingelee; doppelte Kraftbrühe mit Morcheln; Lachsstrudel auf roten Nudeln, drapiert mit Safransauce; feines Rinderfilet an Cognacsauce, angerichtet mit Kartoffelgratin und Minaretkohl gefüllter Tomate; Brüsseler Endivien mit Schinken; Dessert „Krönung“; belgische Pralinen; Napoléon. Schon beim Lesen der Karte läuft uns das Wasser im Munde zusammen. Danach ist ein „Bunter Abend“ angesagt „zum Schmunzeln, Mitmachen und Tanzen“.
Raketen-Weltgeschichte hinter U-Boot-Riese
„Das blaue Wunder“ öffnet sich, nichts wie los!, startet Grunewald die Maschinen angesichts der Brücke zwischen Wolgast und Usedom. Behutsam fädelt er seinen „Dampfer“ durch das Nadelöhr. Etwas später voraus eine dunkelgraue Röhre mit schlankem Turm. Von der russischen Marine ausgemustert, fristet das mit 4000 Tonnen einst größte dieselgetriebene U-Boot der Welt jetzt sein Dasein als Besuchermagnet im Peenemünder Hafen. Das Dorf im Norden der Insel machte Technik-Geschichte, als 1942 in der Versuchsanstalt unter Wernher von Braun die ersten „V 2“-Raketen entwickelt wurden. Grundlage für die spätere bemannte Raumfahrt. In der Nachkriegszeit mutierte das Zentrum der deutschen Raketenforschung zur Flottenbasis der ehemaligen DDR-Volksmarine. Seit der Wende hingegen präsentieren sich die maroden Gebäude als viel besuchtes Museum mit Raketen- und Flugzeugexponaten sowie einer ehemaligen NVA-Korvette.
Sprung über den mit Schaumköpfen garnierten Greifswalder Bodden auf Rügen zu. Salzwasser gischtet über das Vorschiff. „Dabei ist auf einem anderen Schiff auch schon mal der Flügel durch den Raum gesegelt“, erinnert sich ein Gast an stürmischere Zeiten mit Seekranken, während die einstige SED-Prominenten-Insel Vilm an Backbord auftaucht. „Früher waren´s die Partei-Größen, die das kleine Paradies ungewollt bewahrten, heute macht´s der Naturschutzbund“, vergleicht ein Insider, „mit dem Unterschied, dass jetzt Führungen erlaubt sind.“ Wie zur Bestätigung und Begrüßung pfeift der „Rasende Roland“ im südrügenschen Hafen Lauterbach. Der dampfende Schmalspurzug hält mit qietschenden Bremsen gegenüber dem SANS SOUCI-Liegeplatz. Hinter den Salonscheiben sammeln sich Schaulustige.
Ein makelloser Himmel signalisiert schönstes Reisewetter für den Törn rund um Süd-Rügen durch den landschaftlich reizvollen Schlauch des Strelasunds. Die altehrwürdige Hanse- und Meerstadt Stralsund, als Flächendenkmal zum UNESCO-Welterbe gehörend, reckt pünktlich zum Frühstück die Türme ihrer drei mächtigen Backsteinkirchen über die Speicherkulisse des Hafens. Ungeduldig scharren die SANS SOUCI-Fahrer vor dem Altstadtrundgang mit den Füßen.
Beim Auslaufmanöver mit Blick auf Stralsunds „Schokoladenseite“ zeigen sich die Gäste beeindruckt von den Aufbauleistungen an fast 800 historischen Gebäuden.
2017 gab es 111 Anläufe von Flusskreuzfahrtschiffen mit 15.056 Passagieren, die Stralsund einen Besuch abstatteten. Der Trend an die Ostseeküste hält mit steigender Tendenz an. Mit der Fertigstellung des neuen Schiffshebewerks in Niederfienow werden noch gößere (bis 110 Meter Länge) und mehr Schiffe an den Sund kommen. Aber die Hoffnung des Hafens richtet sich auch auf Hochseekreuzfahrtschiffe bis zu einer gewissen Größe, die den Sund über die Ostansteuerung befahren können.
Viel Himmel mit Inselsucht
Neben der schiffsengen Fahrrinne stehen die Schwäne im flachen Wasser. Wie eine Schleppe zieht die SANS SOUCI den Schwall seitlich neben sich her. Der entgegenkommende Dampfer der Weißen Flotte passiert „gerade man eben so“. Hiddensee, „dat söte Länneken“, wie die Einheimischen ihr „süßes Ländchen“ nennen, zeichnet sich erst flach, dann hügelig an Backbord ab, gekrönt vom fernsehbekannten Leuchtturm auf dem Steilufer des Dornbusch. Das „Sylt der Ostsee“, beileibe kein sündhaft teures Modebad, war seit 1930 Feriendomizil des prominentesten Inselgastes. Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der jedes Mal von Stralsund zu Schiff anreiste, schrieb auf dem Eiland bedeutende Werke der Weltliteratur. Sein Haus „Seedorn“ in Kloster ist heute ein vielbesuchtes Museum.
Zentimetergenau legt Peter Grunewald sein Schiff an den Kai von Vitte. Auf dem warten schon Pferdefuhrwerke für eine abendliche Rundfahrt, denn die 17 Kilometer lange Insel ist zum Glück autofrei. Die Tagesgäste sind weg, so dass Ruhe eingekehrt ist. Alternative zum Zwei-PS-Zuckeltrab: Leih-Fahrräder. Auf gut ausgebauten Wegen strampeln einige Gäste durch den idyllischen Norden. Wobei der Enddorn mit seinem blendend weißen Sandhaken ein ganz besonderes Kleinod darstellt. „So viel Himmel haben wir nicht bei uns!“ begeistert sich eine Frau aus der eidgenössischen Alpenrepublik.
Runter vom Fahrrad – selbst das ist hier nicht mehr erlaubt – und durch die wunderschöne Natur gelaufen! Hunderte selten gewordener Vogelstimmen überraschen und bezaubern den Besucher dieses Naturparadieses. Wenn dann noch der Mond aufgeht und der Leuchtturm in den Abendhimmel blitzt, ist die romantische Caspar-David-Friedrich-Stimmung komplett. Davon kann man süchtig werden, wie Erstbesucher von Hiddensee „gewarnt“ werden.
Am sonnenreichsten Punkt Deutschlands
Schon der Dichter Ernst Moritz Arndt schwärmte von seiner Heimat: „Oh, Rügen! Liebliche Insel, wohin ewig die Liebe sich sehnt…!“ Geruhsame Fahrt durch die Boddenlandschaft. „Gletscher und Schmelzwasser ließen vor rund 10 000 Jahren die See überlaufen und schwappten in die flache Grundmoränen-Landschaft“, informiert Kapitän Grunewald auf der Brücke anschaulich die flachen Wassermulden der Küstenlandschaft.
Im Hafen von Breege auf der Halbinsel Wittow heißt es nach rund 440 Kilometern: Endstation Kap Arkona! Der nordöstlichste und sonnenreichste Punkt Deutschlands grüßt mit seinen beiden historischen Leuchttürmen vom 46 Meter hohen Mergelkliff, an dem die Brandung unermüdlich nagt. Aus luftiger Perspektive schweift der Blick weit über die Ostsee, in die Frachter ihre schaumigen Bahnen zeichnen. Aber auch hinüber zum zehn Kilometer langen Strand der Schaabe-Nehrung, der Karibik-Assoziationen weckt. Dahinter recken sich die weißen Kalkklippen der Stubbenkammer, von sattgrünem Buchenwald umkränzt, in den blauen Himmel. Die Krönung ist der 117 Meter hohe Königsstuhl. Busausflügler werden am Abend davon schwärmen, aber auch vom Fischerdörfchen Vitt, der fürstlichen Residenz zu Putbus mit seiner zirkusförmigen Ortsanlage oder dem Schinkel´schen Aussichtsturm der Granitz mit Sicht auf das neu erstandene beliebte Seebad Binz, das sogar von ICE-Zügen aus München angelaufen wird.
Müde von so vielen Eindrücken, wiegen uns die an der Bordwand leise glucksenden Wellen in den Schlaf. Meint ein Hiddensee- und Rügen-Fan: „Ich hab´ ja schon viel gesehen, aber dieses Revier ist für mich das Schönste.“
Volle Breitseite vor Altefähr
Dazu zählt auch die anschließende Fahrt durch den Barther Bodden nach Zingst auf der Halbinsel Darß mit ihrer Kranichkolonie auf den Salzwiesen am Ostzipfel.
„Klar vorn und achtern!“ heißt das Kommando um fünf Uhr früh, bis Kapitän Peter Grunewald die Leinen einholen lässt. Mit einem gerade mal fingerdicken Hebel, dem Joystick, dirigiert der Binnenschiffer die 82 Meter lange SANS SOUCI, aus dem Passagierhafen vor dem Ozeaneum. Das sieht eher spielerisch aus, setzt aber eine Menge Erfahrung voraus. „Bei auflandigem Wind und unserem geringen Tiefgang haben die 1200 PS im ´Keller` es manchmal auch nicht ganz einfach“, meint er stirnrunzelnd.
Die frühen Nordmolen-Angler staunen nicht schlecht, als sie am Heck des Fahrgastschiffes den Heimathafen PEISSEN lesen. Ein paar von ihnen geben Geographie-Kenntnisse zum Besten: „Also, erst mal die Elbe ´rauf, dann rechts ab in die Saale…“ Doch schon da geraten sie ins Stocken. Derweil zeigt SANS SOUCI vor Altefähr volle Breitseite und folgt brav dem Tonnenstrich der Sund-Nordansteuerung.
Über Rügen verfärbt sich der Himmel, bis die Sonne glutrot über den Insel-Horizont kriecht und den Sund vergoldet. Plötzlich wird´s eng. Neben der schmalen Fahrrinne stehen die Schwäne im flachen Wasser. Wie eine Schleppe zieht das weiße Schiff den Schwall seitlich neben sich her. Voraus „Dat Söte Länneken“: Hiddensee, der „Wellenbrecher“ vor der großen Nachbarinsel Rügen. Sein Leuchtfeuer auf dem Dornbusch blitzt herüber.
So schön wie damals
Im Restaurant hat man beim Frühstück das Gefühl, halb im Wasser zu sitzen. Die Fensterunterkante des Restaurants schließt genau mit der Wasseroberfläche ab. Wenn dann noch frisch gefangener und gebratener Hering serviert wird und die Angler einem aus ihren Booten auf den Teller sehen, könnte man meinen: aus dem Sund direkt auf den Tisch.
Die Aussicht ist appetitanregend, während man den Erläuterungen der Reiseleiterin lauscht.
Letzter Abschnitt einer langen Reise. Für Kapitän Peter Grunewald aus Mukrena in der Nähe von Halle an der Saale immer ein besonderes Wiedersehen: „Nach Barth, Zingst und sogar Prerow sind wir früher mit unseren Frachtschiffen von der Deutschen Binnenreederei gefahren.“ Dass in diesem idyllischen Revier die Liegezeiten lang und die Mädchen „uns gegenüber daher sehr entgegenkommend waren“, ergänzt er mit einem Augenzwinkern.
Diesmal fädelt er das 82-Meter-„Traumschiff“ zwischen Barhöft und der Insel Bock in das enge Boddenfahrwasser ein. An Deck sind die Passagiere versammelt, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollen. Viele verbinden Jugend- und Kriegserinnerungen mit der Landschaft. „Das ist ja immer noch so schön hier wie damals“, ist eine ältere Dame begeistert und lässt den Blick über die Salzwiesen des Kleinen Werder mit ihren Vogelschwärmen und mehreren Seeadlern schweifen. Die Stralsunder Kreuzfahrtleiterin Cathrin Fuhrmann ist immer wieder begeistert von dieser Szenerie, „obwohl ich das schon einige Male erlebt habe“. Kapitän Grunewald behält derweil die schmale Fahrrinne im Auge. „Tonnenslalom ist jetzt angesagt“, meint der nur trocken. Über die Monitore verfolgt Grunewald, wie das langgestreckte Achterschiff an den roten und grünen Seezeichen vorbeikratzt. Wind und Strom machen das Kurshalten zusätzlich schwierig, so dass ständig mit dem Bugstrahlruder gegengehalten werden muss und der Grund durch Sand- und Schlickwolken aufgewühlt wird. Entgegenkommende Motor- und Segelboote machen respektvoll Platz und winken dem gewichtigen Neuling im Revier freundlich zu.
Landschaft ist das Kapital
Der wuchtige Kirchturm von Barth dient als überragende Landmarke, wenn der sich Kurs in Zick-Zack-Linie durch die Aue, Große Wiek und Grabow schlängelt. „Haarig wird´s, wenn das Fahrwasser ´um die Ecke` biegt“, kratzt sich Grunewald den Kopf, „da müßte ich im rechten Winkel drehen oder das Schiff in der Mitte knicken.“ Ganz eng wird die Strecke westlich des Salzhakens. Die Schilfwälder von Zingst sind zum Greifen nahe. Auf der anderen Seite grüßen die Reetdachhäuser des Großen Kirr, der beliebten Ferienanlage auf der naturgeschützen Bodden-Insel.
Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen auf das Ostseebad Zingst, Endstation der einwöchigen Reise von der Havel ab Berlin-Tegel an den Ostseestrand. Auf dem Anlegesteg hat sich eine stattliche Anzahl von Zuschauern versammelt, um das Festmachen mitzuerleben. „Die Landschaft ist unser Kapital“, meint der Hafenmeister, und er freut sich, „dass durch die SANS SOUCI der maritime Tourismus der Region einen weiteren Schub erhält.“
Am nächsten Morgen meint der erfahrene Kapitän: „Ich habe schon viel gesehen, aber dieses Revier gehört für mich zu den schönsten, die ich kenne.“
Stürmischer Saison-Abschied
Peter Grunewald runzelt dennoch am nächsten Morgen die Stirn. Mit Blick zum Himmel, über den der steife Ostwind graue Wolken vor sich her jagt, meint der sonst unerschütterliche Hüne: „Lauterbach können wir uns heute wohl abschminken“.
Die letzten Gäste kommen vom Landausflug zurück. „Schön, überschaubar und gemütlich“ sei es in Stralsund gewesen, loben die hier neu Zugestiegenen den Stadtrundgang und freuen sich aufs Mittagessen mit Blick aufs Ozeaneum oder die 1933 gebaute GORCH FOCK (I).
Eine Reihe von ihnen verschiebt das leckere Schweinesteak, als der SANS SOUCI-Kapitän um 13 Uhr das Signal zum Ablegen gibt und die Leinen ins Wasser des Nordhafens klatschen. Sie wollen Peter Grunewald beim Manövrieren über die Schulter schauen, während die turmbewehrte Skyline der Hansestadt filmreif an Steuerbord vorübergleitet. Die Ziegelgrabenbrücke bleibt geschlossen, denn MS SANS SOUCI macht sich für die Passage klein: Das Steuerhaus fährt hydraulisch in den Keller und der Vormast mit den knatternden Flaggen senkt sich wie von Geisterhand nach vorn. Thomas Quatsling, der mitreisende Stralsunder Marinemaler, zieht unwillkürlich den Kopf ein: „Sieht knapp aus“, ist der Ex-Seemann skeptisch und zückt seine Kamera. „Beim jüngsten Hochwasser hätte es schon problematisch werden können“, meint Grunewald und lenkt den 1000-Tonner aus seiner Sichtluke im Steuerhausdach souverän durch das „Loch“. Querab der Insel Kleiner Dänholm schließlich Hebel auf den Tisch! Im Radfahrertempo von zwölf Kilometern pro Stunde schiebt sich das elegante Flusskreuzfahrtschiff durch die Ostansteuerung. Nach zwei Stunden wird Palmerort, das Südwest-Kap von Rügen, gerundet.
Schaumiges Schauspiel vierkant von vorn
Kursänderung auf 90 Grad und hinein in den von weißen Schaumbahnen gestreiften Greifswalder Bodden. Es pustet vierkant von vorn, die ersten Spritzer klatschen gegen die großen Scheiben des Panorama-Salons. Hotel-Direktorin Cathrin Fuhrmann, waschechte Stralsunder Deern mit den goldenen dreieinhalb Streifen auf den Schultern, hat vorsichtshalber die großen Blumenpötte umlegen und damit sichern lassen: „Wenn wir erst ins Rollen kommen, bleibt nichts mehr an seinem Platz“. Über Funk verbreitet Stralsund traffic, die Verkehrszentrale, eine „gale warning“, zu Deutsch: Sturmwarnung, mit Böen bis zur Stärke acht. Zu Recht, denn inzwischen boxen eineinhalb Meter hohe grüne Ostseewellen gegen das Vorschiff, an dem sie regelrecht in Gischtwolken explodieren.
Die Gäste genießen beim Nachmittagskaffee, den Tourismus-Studentin an der Hochschule Stralsund (HOST) und Bord-Praktikantin Marie zum Kuchen serviert, hinter dicken Scheiben wohlig das seltene schaurige Schauspiel, zucken aber auch bei jedem Wasserschlag instinktiv zusammen. Den erfahrenen Kapitän und Schiffseigner Peter Grunewald, der sein Handwerk bei der Weißen Flotte Berlin gelernt hat, ficht das nicht an: „So lange die Dinger vierkant kommen, macht das nix, aber von der Seite…?“ Er ist froh, dass er auch das Anlaufen von Lauterbach wohlwissend gestrichen hat, „das wäre niemandem gut bekommen“. Einen Hauch von Schaukelfahrt erleben die 74 Gäste, als MS SANS SOUCI westlich der Insel Ruden ins Fahrwasser der Knaakrücken-Rinne vor Freest eindreht. Cathrin Fuhrmanns warnende Stimme hört man über Lautsprecher auf allen Decks. Das schlanke, nur 1,30 Meter tief gehende Schiff fängt an sich zu wiegen. Im Peenestrom, geschützt durch die Insel Usedom, ist schlagartig Schluss damit. Alle atmen erleichtert auf.
Genuss-Schiff mit maritimem Flair
Eineinhalb Stunden später: Auch das romantisch beleuchtete „Blaue Wunder von Wolgast“, die monströse Zugbrücke, rührt sich nicht, denn SANS SOUCI duckt sich wie schon in Stralsund einfach weg.
Übernachtet wird nach rund 60 Kilometern Sturmfahrt in Wolgast. „Das letzte Mal in diesem Jahr“, sagt Peter Grunewald und freut sich auf die wohlverdiente Winterpause und sein Motorrad, eine 400 PS starke HOSS BOSS. Steht ihm ja auch zu.
Vier Mal hat sein „Dampfer“ – Gästekommentar eines Bremer Kneipers: „Das Genuss-Schiff mit maritimem Flair“ – auf dem Weg von und nach Berlin, Dresden, Prag, Straßburg, Hamburg oder Kiel, auch Stralsund, Rügen, Zingst und Hiddensee angelaufen. Insgesamt verzeichnet die Sundstadt am Ende dieser Saison eine positive Bilanz: rund 100 Anläufe von Flusskreuzfahrtschiffen. Und Peter Grunewald kann optimistisch, sozusagen „sans souci“, ohne Sorgen, in die Zukunft sehen: Die SANS SOUCI sei bereits wieder gut gebucht für 2019 – dank der vielen „Wiederholungstäter“.
Unterwegs hat sich der Skipper – mit Schalk im Nacken – bei den Kollegen von Stralsund traffic nach Hause abgemeldet: „Denn man schöne Weihnachten und guten Rutsch!“
Infos:
MS SANS SOUCI: Baujahr: 2000 in Nijmwegen/Niederlande als EUROPA; 2007/08 modernisiert und in SANS SOUCI umgetauft; Renovierung: 2014; Länge: 82 m; Breite: 9,50 m; Tiefgang (max.): 1,60 m; Vermessung: 1000 Tonnen; Antrieb: 2 x 600 PS (Neumotorisierung 2012); Crew: 25; Passagiere: 82 (max.); Restaurant: 1; Passagierdecks: 2 + Sonnendeck; 41 Außenkabinen (13 qm) mit nicht zu öffnenden Panoramafenstern; Sauna: 1 (gegen Gebühr); Treppenlift zwischen Haupt- und Panoramadeck; 1 Restaurant (1 Essenszeit); Bar: 1; Boutique: 1; Unterhaltung: TV mit Videoempfang, Bibliothek, Tanzmusik; Preis/Nacht: 211 Euro (durchschn.); Heimathafen: Peissen/Saale; Flagge: deutsch.
Heimatseite im Weltnetz: www.ms-sanssouci.de