Das will man natürlich genauer wissen. Wie kommt der gebürtige Dresdner und angenehm leicht sächselnde Karsten Gundermann nach China? Erst einmal bekam er vor langer Zeit das in der Tschechoslowakei auf Deutsch erschienene Märchen „Die Nachtigall“ von Hans Christian Andersen in die Hand, auf dessen Umschlag ein typischer chinesischer Kopf prangt. Kein Wunder, denn das Märchen beginnt so: „In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird! Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt. Ganz und gar von feinem Porzellan, sehr kostbar, aber so zerbrechlich, so mißlich, daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderlichsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglöckchen gebunden, welche erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken.“ Dieses Märchen liebte Karsten Gundermann und da er auch die Musik liebte, vertonte er mit 16 Jahren seine Lektüre das erste Mal.
Elf Jahre später war dann 1993 in Peking die Uraufführung seiner als Peking-Oper komponierten „Die Nachtigall“. 1990 nämlich war Gundermann, der bei Udo Zimmermann in Dresden Komposition studiert hatte, nach China gegangen – na, eigentlich war er gefahren und in einen Wagen der Transsibirischen Eisenbahn gestiegen – und wurde Student der Nationalakademie für Chinesisches Theater in Peking und fing schnell an, die Peking-Oper als wunderbare Kunst zu begreifen. Wie viel man darüber wissen muß, selbst als Zuschauer, erläuterte der Komponist der baß erstaunten Journalistenschar sehr sinnlich mit Fingern und Augen. Die und noch viel mehr braucht man nämlich, um über Gestik und Mimik das Geschehen auf der Bühne korrekt wiederzugeben. Dazu gleich mehr. Erst einmal können die auch heute theaterbegeisterten Chinesen auf eine lange Tradition von zweieinhalbtausend Jahren Theater zurückblicken, eine Zeit, in der in Europa gerade die griechische Klassik mit Tragödien und Komödien reüssierte.
Vor etwas 2000 Jahren kamen zu den Gauklern und Schauspielern das chinesische Schattenspiel hinzu und mit ihm die Spezies der Akrobaten, die heute von der Peking-Oper übernommen sind, wie überhaupt die heutige Peking-Oper alle tanzenden, singenden, spielenden, kämpfenden, zaubernden und märchenhaften Darsteller vereint. Und so wie alle menschlichen Künste zusammenkommen, kann man auch den Stil der Peking-Oper als ein Stilgemisch kennzeichnen, in dem man die besten Stile aus ganz China mengte. Warum diese Oper aber nun Peking-Oper heißt, hat folgende Bewandtnis. Ein kaiserlicher Nachforscher traf noch vor 1800 in drei Provinzen auf jugendliche Darsteller, die als Truppe dort auf Tournee durch die Dörfer gingen. Sie wurden in die Hauptstadt nach Peking eingeladen und als der Kaiser Qianlong seinen 80. Geburtstag feierte, waren sie dabei und unterhielten den Hof so glänzend, daß sie gleich dablieben und weitere Truppen vom Land in die Hauptstadt anzogen, die dann diese Form des neuen Theaters populär machten.
Die Peking-Oper war geboren und trat ihren Siegeszug an. Sie paßte sich blitzschnell auch der Zensur an und unterlief diese durch schnellen Stoffwechsel. Bis zu 200 000 Stücke habe es gegeben, erläuterte Karsten Gundermann. Dabei war diese Form gesellschaftlich gleich doppelt gefährlich. Sie hatte ein entschieden unmoralisches Potential und sie konnte subversiv die Mächtigen in die Pfanne hauen und tat das. Und es war und ist eine Lust, die in schönen bunten Kostümen steckenden und total überschminkten Schauspieler/Sänger/Akrobaten, die Pantomimen/Tänzer und Kampfsportarten Betreibenden anzuschauen und anzuhören. Die Schminke war schon deshalb notwendig, weil sich nicht immer hinter der Dame eine solche befand, sondern Travestie zum Prinzip wurde.
Was aber wurde gespielt, was das Volk und ihre Herrschaft so begeisterte? In der Regel sind es mythische Stoffe, aus Sagen und Sagenhaftem zusammengestrickt, und für jeden Chinesen verständlich, aber auch geschichtliche Ereignisse wurden so transportiert und in die gewünschte Lesart gebracht. Sehr viel später, est im 20. Jahrhundert gab es dann auch einen Zeitbezug in der Peking-Oper. Ihren Höhepunkt hatte sie erst einmal im 19. Jahrhundert, als Cheng Changgeng das ganze Land für diese Kunstform begeisterte. Schließlich konnte sich auch jeder in den vielen Stücken zurechtfinden. Die Rollen waren überschaubar. Da gab es die Kaiser und wo die waren, waren die Mätressen nicht weit, aber auch das Militär war dabei mit den Generälen oder die Politik mit den Ministern. Frauen und Töchter aus reichen und armen Familien und die Jünglinge aus den entgegengesetzten Verhältnissen boten reichlich Stoff für Tragödien und Komödien, auf jeden Fall Verwicklungen jeglicher Art. Götter und Geister gab es auch, wie in jedem richtigen Mythos und die Überbauphänomene wie Vaterlandsliebe, Liebe überhaupt, die Ehre, oder heftige Gefühle wie Haß kamen auch vor.
Fragt sich noch, wie man das darstellt. Das grundsätzliche Mittel der Peking-Oper ist das Symbol. Genauso wie bei karger Bühne die Stellung eines Stuhles anzeigt, ob ich im Raum oder draußen bin, wird dieser Stuhl zum Berg, wenn man darüber steigt. Vielfältige Fahnen können anzeigen, ob man auf dem Meer unterwegs ist oder gerade im Wagen spazierenfährt. Und eine Reitpeitsche läßt gleich an das Pferd dazu denken. Es ist also ein vielfältiges Verweissystem, das man im Decodieren genau beherrschen muß, will man den Handlungssträngen folgen. Das entscheidende Stilmittel allerdings sind Mimik und Gestik. Kaum glaublich, wie differenziert ein einzelner Arm in seinen Teilen bis zur Hand und den Fingern beweglich ist. Und da diese langen Seidenärmel noch an den eigentlichen Armen dranhängen, kann man auch diese in das Bewegungsspiel integrieren und hat unendlich viele Varianten.
Und weil dies so kompliziert ist, gilt die Ausbildung und die Praxis dann einer einzelnen Grundrolle, die man in vielen Stücken spielt und an die das Publikum auch genau die Erwartungen hat, die der Träger auszudrücken gelernt hat. Es gibt den Mann und die Frau, aber die können jung oder alt sein, können Krieger oder Hausfrau sein, die Differenzierungen ergeben sich aus dem Stoff. Und all das und natürlich sehr viel mehr, hat Karsten Sundermann in Peking erfahren. Und dabei hatte er Glück. Er konnte lernen bei denen, die Mei Lanfang noch erlebt hatten. Denn dieser hatte in den 20er Jahren die Peking-Oper wiederbelebt, eben für neue Stoffe gesorgt und damals ausschließlich männliche Darsteller auch für Frauen eingesetzt. Ihm sind auch die detaillierten Handbewegungen zuzuschreiben, die eine Wissenschaft für sich sind, weil jeder einzelne Finger liebevoll durchgestaltet ist. Das galt auch für seine Art, auf mindestens 100 Arten gucken zu können. Bis damals waren die Spielstätten noch klein, etwas 3 x 4 Meter. Unter der japanischen Besetzung brach der Betrieb zusammen und wurde nach der Befreiung 1945 auf größeren Bühnen von ca. 10 x 8 Metern fortgesetzt und erlebte eine Renaissance. Das brach mit der Kulturrevolution wiederzusammen, die alle Opern als dekadent verbot. Karsten Sundermann meint, daß sich davon die Peking-Oper bis heute nicht erholt habe, obwohl sie offiziell längst schon wieder als Mittel der Volksbildung und Volksbelustigung anerkannt war, aber nicht mehr die Attraktivität von einst besaßen.
Auf jeden Fall ist die Uraufführung von Gundermanns „Die Nachtigall“ in China in ein Vakuum gestoßen und hat der Peking-Oper neue Popularität verschafft, was durch Fernsehaufzeichnungen gestützt wurde. Nun wird diese Aufführung in Deutschland im Sommer 2010 zweimal zu sehen sein, als interkultureller Austausch der besonderen Art, der zeigen wird, wie die Vorlage eines Dänen und die Musik eines Deutschen in dieser Peking-Oper zusammenfließen. Die Aufführung im Palais im Frankfurter Zoo beginnt um 19 Uhr. Um 17 Uhr allerdings können Sie mit dem Komponisten einen Blick hinter die Kulissen werfen. Und Karsten Gundermann wird sehr viel anschaulicher mit Händen und Füßen und hoffentlich auch Musik über die Tradition der Peking-Oper sprechen, als es ein Zeitungsartikel kann. Der aber kann dazu auffordern, sich auf etwas Neues einzulassen und die chinesiche Peking-Oper eines Deutschen zu besuchen.
31. Juli 2010, Frankfurt am Main, Palais im Zoo, 19 Uhr, ab 17 Uhr Einführung
* * *
Rheingau Musik Festival, Postfach 3033, 65020 Wiesbaden, www.rheingau-musik-festival.de