Ist over, Muttchen! Eine Berliner Weltumrundung – Rezension zu Annett Gröschners brillantem Roman „Walpurgistag“

Es ist ein Hexentreffen, ein energiefreier Kühl-Weltrekord, ein Stadtatlas mit textlichen Pop-up-Panoramen – es ist der neue Roman von Annett Gröschner! Auf diesen 450 Seiten kulminiert so ziemlich alles, was die Meisterin des neuzeitlichen Flanierens und Schauens in den letzten Jahren ausprobiert hat. Hier breiten sich die Parzellen der neuen Heimatkunde aus, hier ist jemand aus einer längst nicht mehr fahrenden Straßenbahn ausgestiegen, hat sich die Funken abgeschlagen, stand für einen Moment einsam wie Paul in der anonymen Mitte und schritt sobald munter vom Faktischen zum Poetischen. Wer Annett Gröschners extrem umfangreiche Veröffentlichungsliste der letzten Jahre überfliegt, erkennt, warum zwischen ihrem ersten Roman und dem vorliegenden gut zehn Jahre vergehen mussten und ahnt, woraus die Autorin schlussendlich Literatur zaubert. Selten haben Berlin (Er-) Forscher so umfassend Fakten gesammelt, so akribisch recherchiert. Mit dem Roman Walpurgistag hat Annett Gröschner sich davon freigeschrieben, etwas atemberaubend Lebendiges und Sinnliches ist daraus entstanden.

Worum geht es in Walpurgistag? Um den Tag vor der Walpurgisnacht, um die 24 Stunden des 30. April 2002 im Stadtgebiet Berlins. Schon das Inhaltsverzeichnis mit seinen Zeitangaben plus Kurzbeschreibungen der Kapitel verrät, dass sich eine bestimmte Anzahl von Figuren in rascher Abfolge durch die Stadt bewegen und begegnen wird. Das Ensemble sind rund zwanzig Menschen verschiedenster Generationen und Herkunft, ein Hund namens Stalin, ein Zombie selbstkühlenden Aggregatzustandes und ein geheimnisvoller Rucksack. Zu Beginn lernt der Leser den Rucksackträger Alex kennen, der am Alexanderplatz Polizisten provoziert und eine Reise in den Grunewald antreten darf. Alex und die aus Annett Gröschners ersten Roman „Moskauer Eis“ * weitergeführte Annja Kobe sind die einzigen Ich-Erzähler des Romans. Alle anderen agieren in der dritten Person, der Vater in seiner Kühltruhe sagt gar nichts, er lächelt nur einmal. Annja nimmt Identitäten anderer Frauen an, lebt in der Illegalität in einem Bunker unter der alten Backwarenfabrik am Prenzlauer Berg. Sie ist etwas gealtert seit der Flucht aus Magdeburg;

„Inzwischen sehe ich aus wie meine Mutter, als sie Vater und mich verließ. Da war sie neununddreißig. Bald bin ich in dem Alter, in dem Polizisten einen zu übersehen pflegen. Man ist statistisch keine Gefahr mehr für sie. Mittelalte Frauen töten höchstens ihre Ehemänner, bleiben dann aber neben der Leiche sitzen, sodass man sie praktischerweise gleich verhaften kann.“

Annja wird in den Stunden vor den Maikrawallen nebst gekühltem Vater in ein halb leer stehendes Hochhaus nach Lichtenberg umziehen, einen alten Freund beerdigen und an einem Hexenfeuer sitzen. Nicht zuletzt taucht dort auch Gerda Schweikert auf, die noch eine Nacht zuvor die Sternenkarte in den Händen gedreht hatte, auf der Suche nach dem Sternbild Leier. Inzwischen ist sie aus Haus und Wohnung im Bötzowviertel vertrieben, in ein Altenheim auf die andere Seite der Prenzlauer Allee umgesiedelt worden. Wo sie glücklicherweise auf zwei recht fitte Schicksalsgenossinnen trifft, Frau Köhnke und Frau Menzinger, alte Schule wie sie. Da ist das (titelgebende) Unken des Möbelpackers bald vergessen, die Damen ziehen mit Likör bewaffnet durch den Kiez, vom Kollwitzplatz, wo die Bolschewistische Kurkapelle ein Konzert gibt bis zum Mauerpark. Von ihnen erfahren wir mal in hochdeutsch, mal mit feinster Berliner Schnauze, wie die „Überlebenden“ des Prenzlauer Berges so ticken, wunderbar.

Anteilnehmend und konzentriert zugleich, so schaut Annett Gröschner von jeher auf ihre Wahlheimat, auf die Figuren ihres Romans. Die bei Muttern in der Danziger Straße futtern, einen Weihnachtsbaum in einen Park pflanzen und sich im Gras suhlen, für einen Kaffee aus einer orangefarbenen Maschine mit dem Nachbarn vögeln, Fußball gucken, Skateboard fahren, Rotkreuzcontainer oder Plusfilialen plündern – und Autos anzünden. Da landet eine Frau vom Theater bei Arbeitslosen in Neukölln auf dem Sofa, da will einer das Gas abklemmen und muss in einer Familienaufstellung mitspielen. Es werden aberwitzige Fluchtversuche erzählt und Familiengeschichten zurückverfolgt, durch zwei Diktaturen bis zu neuzeitlichen Blessuren. Erste Liebe, trinkende Mutter, unpassende Schwangerschaft. Kneipenprügeleien, Kinder-Banden, Prostitution, es gibt kaum ein Thema, das nicht nonchalant und überzeugend in diesen Dschungel und die ihn bevölkernden Menschen eingewebt wird. Dass sich die meisten von ihnen tatsächlich im Laufe weniger Stunden über den Weg laufen, erstaunt zunächst, befremdet ein klein wenig und löst sich im Laufe der Handlung zu befreitem Annehmen und Aufatmen, wenn das Märchen die Realität ausdünnt.

Inspiration für die Tagesabläufe einiger ihrer Figuren bekam Annett Gröschner über einen Radioaufruf in Jürgen Kuttners Sendung. Aus den Erzählungen entwickelte die Autorin zum Beispiel eine Pizza-Fahrerin, die „blind-dates“ mag und Kuttner-Kassetten im Auto hört, oder einen Taxifahrer mit hypochondrischen Anlagen. Andere Charaktere sind ausgedacht und schlagen sich gleichwohl recht frech durch ihr Revier. Manche Orte und Personen sind hingegen ziemlich echt, wie die gewesene Lokalität Torpedokäfer und ihr verblichener Wirt Lothar Feix, der in Walpurgistag noch einmal feierlich zu Grabe getragen wird, als Blix.

Der Roman geht auf, entlässt versöhnt und beschenkt. Eines ist noch wichtig zu erwähnen, in diesem Buch herrscht ein ausgewogenes Verhältnis in der Beschreibung der Berliner Stadtteile. Schon längst geht es nicht mehr um West oder Ost, sondern um oben und unten. Der Blick Gröschners schweift voller Fabulierlust über die Innereien der Stadt und ihre repräsentativen Bewohner, die vor ihr nichts verbergen können. In ihrer trockenen, humorvoll distanzierten Sprache schafft sie eine neue Berliner Lakonie, die man versprichworten könnte, zum Beispiel zu „mit der Gröschnern jesacht”¦“

30. April 2002, 19:38 Uhr ”¦ Oranienstraße, Micha Trepte erkundigt sich, was da vorne los sei. Ein Konzert. „Wer? ”¦“Goldenen Zitronen“, antwortet der Punk. „Die gibt`s noch?“ – „Dich gibt`s doch ooch noch!“ sagt der Punk und trollt sich zu seinen Kumpels.“

Premiere: Freitag, 30. September 2011, 19.30 Uhr, THEATER AN DER PARKAUE, Parkaue 29, 10367 Berlin, moderiert von Jörg Magenau lesen Annett Gröschner und Schauspieler des Ensembles, EINTRITT FREI! http://www.parkaue.de/

Annett Gröschner, Walpurgistag, Roman, 448 S., Deutsche Verlags-Anstalt, September 2011, 21,90 €

*http://www.satt.org/literatur/01_04_groeschner_1.html

Vorheriger ArtikelSiedlungsbau ist Ohrfeige für Nahostquartett
Nächster ArtikelLockerung der Visabestimmungen für türkische Staatsbürger