Israel sucht den Messias oder Wahlkampf in Israel mit den Themen Wohnungsbaukrise, Steuern, Iran – und wenig Frieden

Benjamin Netanjahu und Naftali Bennett auf einem Plakat in Israel. © Foto: Johannes Zang, 2015
„Da steppt der Bär” hört man einen aus einer deutschen Touristengruppe verwundert sagen, oder: „Wie Berlin bei Nacht.” Peter aus Würzburg ist genauso verblüfft und sucht nach den richtigen Worten: „Lebenshungrig, lebensgierig, quicklebendig – wie bei der Loveparade” fällt ihm zu den jungen Nachtschwärmern ein, und noch ein Wort: „angstfrei.” Abschließend meint er: „Das ist eine ausgelassene Gesellschaft.”
Auch Roy Folkman und seine Mitstreiter feiern inmitten dieses tausendköpfigen Partymeeres, knipsen mittels Haltestab Selfies, genießen den Fasching trotz des kühlen Windes in dieser Märznacht. Der 39-jährige Wirtschaftsberater ist die Nummer Neun seiner Partei Kulanu (Wir alle), die erst vor wenigen Monaten gegründet wurde. „Ich bin der Dracula der Banken”, sagt er lächelnd, und: „Wir kämpfen für Gleichheit und soziale Reformen.”

Moshe Kahlon, der Gründer der Partei, ist ehemaliges Likudmiglied und hat sich Shivion auf seine Fahnen geschrieben, Gleichheit auf Hebräisch. Bezahlbare Mieten und Eigentumswohnungen sowie das Monopol der Banken – das sind die Themen der neuen Partei, der zwischen 8 und 10 Sitzen prognostiziert werden. 

Nichts Neues unter der Sonne Israels. Auch Yair Lapid, der frühere TV-Moderator und Fernsehstar gründete eine Partei, Yesh Atid (Es gibt Zukunft) und kämpfte für Gleichheit. Er errang aus dem Stand 19 Sitze, wurde damit zweitstärkste Kraft, jedoch Ende des letzten Jahres von Premierminister Netanyahu geschasst, was letztlich die Koaliton platzen ließ. Bei den derzeitigen Umfragen liegt die Zukunftspartei bei 12 bis 13 Sitzen.
Es ist Wahlkampf in Israel – doch der ist auf der Straße kaum zu sehen. Hier im Herzen Jerusalems, in einem Radius von 300 Metern um den Zionsplatz entdeckt man außer der Kulanu-Partei keine weiteren Wahlkampfstände und gerade einmal drei Wahlplakate. „Der Wahlkampf findet überwiegend auf Facebook statt”, erklärt der mittelblonde Folkman.

Israel sucht wieder einmal den Messias. Und bei der aktuellen Suche ist einiges anders: Erstmals müssen Parteien statt der Zwei-Prozent-Hürde eine 3,25 Prozent-Hürde überspringen, um ins Parlament einzuziehen. Kritiker sehen in der Erhöhung der Sperrklausel das in ihren Augen unlautere Motiv, den arabischen Parteien den Einzug in die Knesset zu erschweren. Diese haben sich jedenfalls zusammengeschlossen zur Vereinigten Liste, die mit prognostizierten 12-14 Sitzen drittstärkste politische Kraft werden könnte. Ebenfalls neu ist: Premierminister Netanyahu hat einen starken Widersacher: Jitzchak Herzog von der Arbeitspartei Avoda hat sich mit der früheren Außenministerin Zipi Livni und Justizministerin der letzten Regierung zusammengeschlossen zur so genannten Zionistischen Union. Diese lag lange Zeit mit Netanyahus Likud gleichauf, hat aber nach den letzten Umfragen einen Vorsprung von ein bis drei Sitzen. Das dürfte auch an den Vorwürfen und Anschuldigungen zu Netanyahus Lebensstil liegen. Die Medien stürzten sich auf diese Themen von Eiskreme-Rechnungen über Flaschenpfand-Einbehalten und fliegenden Pantoffeln. Netanyahu selbst, in Israel nur Bibi genannt, setzt wieder einmal auf die Angstkarte und hat sein Wahlkampfthema von vor zwei Jahren wiederbelebt: Iran und eine mögliche iranische Atombombe. 

Israel wirkt nicht erst jetzt orientierungs- und visionslos. Zwei Beispiele: Zipi Livni hat binnen zehn Jahren mehrere Parteiwechsel vollzogen: Den Likud verließ sie, um sich Kadima anzuschließen, deren Vorsitzende sie jahrelang war. 2012 verabschiedete sie sich erneut und gründete HaTnuah. Nun ist sie ein Bündnis mit der Arbeitspartei Avoda eingegangen. Diese Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel findet man auch in der Wählerschaft. Während Kadima 2009 mit 28 Sitzen stärkste Kraft wurde, erhielt sie 2013 nur zwei Mandate.

Kein Wunder, dass viele Menschen landauf landab weder wissen, ob sie überhaupt wählen gehen und wenn ja – wen bitte. Jiries, ein Palästinenser aus dem galiläischen Mghar, der in einem Kibbuzferiendorf am See Genesareth arbeitet, ist sich auch noch unsicher. Dann sagt er: „Hauptsache ist, dass es Netanyahu nicht wird.” Sein Arbeitskollege Raed, Muslim und auch israelischer Araber oder – wie sich neuerdings nennen – Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit – erklärt überzeugt: „Es ist egal, wer die Wahlen gewinnt. Es sind doch alle gleich.” Nathanael, ein Jude, der im Freilichtmuseum Nazareth Village arbeitet, weiß auch noch nicht, wem er seine Stimme geben soll. Vielleicht diesem Neuen, meint er und ihm fällt nicht einmal der Name ein. Meint er Kahlons Partei Kulanu oder die ultraorthodoxe neue Partei Yachad – Ha ´am Itanu (Gemeinsame – das Volk ist auf unserer Seite), der drei bis vier Sitze vorhergesagt werden und die in letzter Zeit Wahlkampfveranstaltungen der arabischen Liste gestört sowie über Telefon und soziale Medien Drohungen ausgesprochen haben?

Durch Nachfragen wird klar, dass er möglicherweise Kulanu seine Stimme geben will, aber sicher ist er sich nicht. Auch der armenische Christen Abu Eli, der in Jerusalems Altstadt das Fotogeschäft Photo Elia betreibt, zögert noch. Optimistisch blickt er jedenfalls nicht in die Zukunft. Einer, der weiß, wen er wählen wird, ist der Jude Israel Levi (31), der mit seinem Sohn an der West- (Klage-) mauer betet. Bennett, den manche den Mini-Bibi nennen. „Der sagt die Wahrheit, außerdem tut er was für Wirtschaft und Religion.”

Sind israelischen Juden überhaupt die Probleme in Jerusalems Altstadt, genau 966 Schritte vom Zionsplatz entfernt, bewusst? Hier und in anderen Vierteln Ost-Jerusalems wie Silwan oder Jabbal Mukkaber fahren immer wieder die Abrissbagger vor, um Palästinenser, die schwarz gebaut haben, durch Abriss zu strafen; 167 Menschen wurden dadurch allein 2014 obdachlos. Wer weiß schon von der Weigerung der Stadtverwaltung, Palästinensern Baugenehmigungen zu erteilen oder nur nach langer Wartezeit oder gegen fünfstellige Euro-Beträge? Welcher Jude in West-Jerusalem, geschweige denn in Tel Aviv oder Haifa, ahnt, dass manche Viertel in Ost-Jerusalem über keine Straßenbeleuchtung, keine Gehsteige oder keinen Wasseranschluss verfügen? Oder dass das Wort Müllabfuhr ein Fremdwort ist? Wen kümmert es in Eilat oder Tiberias, dass über 90 Prozent des Wassers im Gaza-Streifen nicht trinkbar ist? Pater Nikodemus von der Benediktiner-Abtei Dormitio – im Niemandsland zwischen West- und Ost-Jerusalem – bringt es auf den Punkt: „Wir wünschen uns als Ausländer andere Wahlkampfthemen.” Sollen Mehrwehrt-, Erbschafts- und Immobiliensteuer wichtiger sein als der Frieden mit den Nachbarn? 

An einer Bushaltestelle, etwa 200 Meter vom Zionsplatz entfernt, ist ein Plakat der anderen Art zu sehen, von der Vereinigung für Frieden und Sicherheit. Es verkündet und verbindet dabei zwei Eigennamen zu einem Wort: „Mit Bibibenett wird bezüglich der Palästinenser nie etwas vorwärtsgehen.” Und wie hält es Herr Folkman mit den Palästinensern? Man sei durchaus für Verhandlungen. Doch zuerst wolle man ein starkes Land werden. „Dafür ist soziale Gerechtigkeit vonnöten.” 
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