Roboterjunge, Höhlenmensch und Drache – Wenn wir uns Freunde aus einem Buch zaubern könnten, würden wir dafür wohl David Whitehouses „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ nehmen

© Tropen
Bobby Nusku ist ziemlich einsam und moralisch am Ende, als ihn diese Offenbarung mitgeteilt wird. Ausgerechnet von Val, einer schrägen Schönheit und Putzfrau in einem Bücherbus. Val ist außerdem die Mutter von Rosa, welche sich alle Namen ihr begegnender Personen notiert und über eine entwaffnende Naivität verfügt. Haben wir das Personal des Romans beisammen? Nein, es fehlt schon Sunny, der sich zu einem Cyborg umbauen wollte, um Bobby vor den Gehässigkeiten und Handgreiflichkeiten seiner Mitschüler zu beschützen. Doch es ging etwas schief in Phase drei der inszenierten Knochenbrüche, die Sunny mit den nötigen inneren Metallteilen versorgen sollten. Auch Bobbys missmutiger Vater bietet keine Hilfe, erst recht nicht dessen frisierende Freundin. 
Schnell identifiziert sich der Leser mit dem 12ährigen Jungen, dem die gähnende Leere der Sommerferien ohne Freunde bevorsteht und die Angst vor den prügelnden und quälenden Mitmenschen im Nacken sitzt. Durch turbulente Ereignisse, die Bobby unabsichtlich auslöst, gerät die Situation schnell aus dem Ruder und Val, Bobby und Rosa befinden sich nebst Hund Bert auf Reisen durch England. Mit einem gestohlenen Bücherbus. Was nun folgt, ist ein Road-Trip der Literatur, ein geschichtenpraller Wettlauf mit Polizei, der nicht gut ausgehen kann. Oder doch?
Der erst 34jährige Schriftsteller David Whitehouse schuf in seinem zweiten Roman ein Plädoyer für die Freundschaft, für die Toleranz gegenüber Außenseitern. Seine Figuren sind die Schwachen und Sensiblen, die erst mit der Erkenntnis der Freundschaft zu ihrer ureigenen Stärke, zu Größe finden.
Was ein Heimkehrer aus einem Militäreinsatz im Nahen Osten, ein Baron und Besitzer eines verwaisten schottischen Zoos und ein Roboterjunge, der an Drachen glaubt, mit Bobby Nusku und dem Bücherbus zu tun haben, sollten Sie unbedingt selbst lesen! Hauptperson des gut 300seitigen Romans ist übrigens eine Abwesende, die auf geheimnisvolle Art verschwundene Mutter Bobbys. David Whitehouse lässt sie durch die Sehnsucht des Jungen wiederkehren, Anteil nehmen, ein Protokoll des Lebens für sie führen. Das berührt zutiefst. Es ist erstaunlich, mit welch scheinbarer Leichtigkeit einem jungen Autor ein derart weises Werk gelingen konnte. Gespickt mit Feststellungen wie dieser: „Trauer ist ein fester, unverrückbarer Punkt, von dem man sich allenfalls etwas weiter entfernen kann. Ein Punkt, der niemals wirklich verschwindet. Die Welt ist zu klein, als dass man sich weit genug von ihm fortbewegen könnte. Aber Minute um Minute, Kilometer um Kilometer ließen sie ihn immer weiter hinter sich, bis er nur noch ein kleiner Fleck am Horizont war…“
Fazit: feiner englischer Humor, ein guter Schuss Phantasy und spielerische Einschübe von Weltliteratur ergeben ein wunderbares Buch über eine selbst gewählte Familie, die wir gerne weiter begleiten würden.
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David Whitehouse, Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, 315 Seiten, Tropen-Verlag, Februar 2015, ISBN: 978-3608501483, Preis: 19,95 €
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