Imagination bis zum Äußersten – die romantisch barbarische Weltsicht des Giorgio Vasta

Palermo 1978. Abends liest der Stein (wie der Ich-Erzähler seinen Vater nennt) dem elfjährigen Nimbus und seinem jüngeren Bruder (den der Ich-Erzähler „den Lappen“ nennt) aus der Bibel vor. Nimbus ist kein gewöhnliches Kind. Und er lebt in einer gewalttätigen Zeit. Nur ein Jahr nach den linksterroristischen Ereignissen in der BRD eskaliert auch in Italien die Auseinandersetzung zwischen den Lagern. Während der Entführung und Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro erreicht der Terror der Roten Brigaden seinen Höhepunkt.

Der Alltag des Jungen und seiner Freunde ist letztlich geprägt von altersgerechten Ereignissen. Doch sie nehmen schnell merkwürdige Formen an. Nimbus ist verliebt in ein geheimnisvolles, stummes Mädchen. Er trägt ein Stück Stacheldraht bei sich. Nimbus und seine zwei Freunde laufen durch die Stadt. Sehen einem Hund beim Sterben zu. Sammeln Porno-Hefte in verwilderten Ruinen-Grundstücken. Scheren sich die Schädel kahl. Saugen alle Nachrichten auf und gründen eine terroristische Zelle. Geben sich neue Namen und entwickeln eine geheime Zeichensprache. Bis dahin wird es Sommer.

Giorgio Vasta wuchs selbst in Palermo auf und hat sich gewiss an der verwahrlosten Altstadt und dem kehligen Dialekt ihrer Bewohner, der „Schreihälse“, gerieben. 1970 geboren, arbeitet und lebt Vasta heute in Turin, als Verlagslektor. Sein Blick ist sezierend scharf, seine Sprache bündig, dialogisch und im Präsens gehalten. Seine verstörenden Hauptfiguren sind allwissend, uralt, erbarmungslos. Sie haben besondere Fähigkeiten. Nimbus kann riechen, was im Fernsehen passiert, kann die Psychosen der Bienen nachfühlen”¦

„Die Roten Brigaden“, sage ich, „sind die Einzigen, die verstanden haben, dass der Traum welkt, wenn er ein Traum bleibt.“ „Ja, so ist es“, sagt Bocca. Scarmiglia schaut uns an, schweigt, man sieht, dass er lächeln muss, es gefällt ihm, dass wir seinem Gedanken folgen. „Die Roten Brigaden haben begriffen“, sagt er dann mit sehr leiser Stimme, „Dass der Traum mit Disziplin verbunden, dass er hart und exakt und auf einen Ideologie projiziert werden muss.“

Vasta treibt die philosophierende Unschuld in den Abgrund der Tat. Nach dem Ende des Sommers ist die Zeit des Redens vorbei. Die drei Jungs schreiten zur Tat. Setzen um, was ihnen die Imagination diktiert. Es geht nicht um Kindlichkeit, um Entschuldigungen oder Erklärungen. Hier spielt ein Autor mit all den Möglichkeiten, die ein sensibler Mensch zur Verfügung hat, um zu reagieren. Wie verarbeitet eine Gruppe die sinnlichen Erfahrungen Einzelner? Wie weit gehen Experimente? Vom Erfinden einer Geheimsprache bis zum Missbrauchen dieser Sprache als Unmöglichkeit der Verständigung – wie weit ist dieser Schritt? Wann wird aus einem Gedanken Feuer, wann aus einem Strick eine Fessel, aus einem Karton ein Gefängnis?

Auf welch zunehmend abwegige Ideen die Jungen kommen, wie die Konflikte sich steigern und ob sie gelöst werden, soll nicht vorweggenommen werden. Die Lektüre dieses Romans möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen, er ist überraschend bis zum letzten Buchstaben, feinfühlig übersetzt und so traumwandlerisch alptraumhaft ins Innere unser selbst geführt, dass uns am Ende vor dem Menschen graust.

Bravo, Signore Vasta! Ist uns hier ein italienischer Kafka erschienen? Entscheiden Sie selbst!

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Giorgio Vasta, Die Glasfresser, Roman, Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann, 316 Seiten, DVA, München, Januar 2011, 19,99 €

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