Gibt es eine darwinistische Moral?

Hinweise in die Darwin-Ausstellung im Berliner Naturkundemuseum.

Mit dieser Problematik befasste sich eine Veranstaltung der Urania, Bestandteil der diesjährigen Veranstaltungsreihe der Urania zum 200. Geburtstag Charles Darwins am Abend des 14.05. , welche in Kooperation mit dem Berliner Naturkundemuseum vorbereitet worden war. Professor Dr. Franz M. Wuketits vom Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung der Universität Wien trug vor unter dem Titel „Moral aus dem Kampf der Natur – Darwins Begründung einer evolutionären Ethik“. Der Kleist-Saal, der zu den mittelgroßen Sälen der Berliner Urania gehört, füllte sich gut mit Besuchern, trotz der Hitze des vorangegangenen Tages.

Es ist zwar schon oft gesagt und festgestellt worden, aber es kann auch im Grunde gar nicht oft genug wiederholt werden, und so führt es auch Prof. Wuketits noch einmal aus, dass das mit dem „Überleben der Stärksten“ schlichtweg ein Übersetzungsfehler sei, denn im englischen Original steht „survival of the fittest“, was in korrekter Übersetzung natürlich „Überleben der Fähigsten“ bedeutet, wobei es natürlich im Konkreten immer auf die Lebensweise einer Lebensform abhängt, welche Fähigkeiten denn zum Überleben besonders wichtig sind. Wenn die pure Größe und Körperkraft da die absolut wichtigste Fähigkeit wäre, würden die Dinosaurier wohl noch immer die Erde beherrschen. Aber solche auf Körpergröße beruhende Kraft stellt auch ein erhebliches Überlebensrisiko dar, denn sie ist auch mit entsprechend großen Mägen verbunden, die schwieriger hinreichend zu füllen sind, als kleinere, was besonders in ökologischen Krisenzeiten ausschlaggebend sein kann. Viele Tiere besitzen überhaupt keine Waffen, mit denen sie blutige Kämpfe austragen könnten, denken wir doch nur an Mäuse, Kaninchen und Hasen. Unter ihnen sind eben die die Überlebensfähigsten, die am schnellsten davonlaufen, wenn eine Gefahr naht. Mitunter überleben eben die Feiglinge besser als die kraftstrotzenden Helden. Dies gilt auch für Menschen in jenen modernen Kriegen der Neuzeit mit ihren automatischen Waffen etc.

Prof. Wuketits führt weiterhin aus, dass es beim Überleben im evolutionsbiologischen Sinne natürlich auch nicht in erster Linie um das individuelle Überleben geht, sondern um das genetische. Das individuelle Überleben ist für das evolutionsbiologische Überleben nur in soweit von Bedeutung, als das Individuum bis zu seinem Lebensende genug Nachfahren erzeugt haben muss, um das Überleben, sowohl der Art als auch der individuellen Genvarianten, damit sichergestellt zu haben. Mäuse und Kaninchen haben viele Freßfeinde und werden individuell in der Regel wohl nicht sehr alt, aber ihre sprichwörtlich hohe Reproduktionsrate sichert das evolutionsbiologische Überleben ihrer Arten allerdings ausgezeichnet, denn sie sind ja bekanntermaßen nahezu unausrottbar. Der Riesenpanda hingegen, ein Pfanzenfresser, wenn auch aus der Familie der Raubtiere, hat in seiner Heimat keinerlei natürliche Feinde, die es mit ihm aufnehmen könnten. Er kann sich eine sehr niedrige Reproduktionsrate erlauben. Mehr noch, diese niedrige Reproduktionsrate ist ein Überlebensvorteil für ihn, um nicht durch eigene Massenvermehrung die Existenz seines Ökosystems, der Bambusdjungel, zu untergraben. Nun aber, in einer Zeit, in welcher diese Ökosysteme vom Menschen immer weiter zurückgedrängt werden, wird die geringe Reproduktionsrate der Riesenpandas aber zu einem Problem für die Bemühungen zur Erhaltung der Art. Wenn auch die lästige Stubenfliege, trotz unablässiger Bekämpfung durch den Menschen, als Art in unausrottbarer Weise überlebt, liegt das auch an ihrem hochentwickelten Flugvermögen. Auf sturmumtosten Inseln des Ozeans sind jedoch jene Insekten am überlebensfähigsten, welche verkrüppelte Flügel besitzen: Sie werden nicht so leicht vom Sturm auf die offene See getragen. Die selben Fähigkeiten können also unter veränderten Umständen günstig oder ungünstig für das Überleben der Individuen und der Arten sein.

Welche Fähigkeiten sind es nun aber, welche der Gattung Mensch bzw. der Art homo sapiens nicht nur zum Überleben, sondern zur Beherrschung des Ökosystems unseres Planeten, verhalfen? Über sonderliche natürliche, d.h. körpereigene Waffen verfügt er nicht und seine Schnelligkeit auf der Flucht kann mit der anderer eher wehrloser Tiere auch nicht mithalten. Es sind letztlich seine Intelligenz, die Arbeitsfähigkeit seiner Hände und der soziale Zusammenhalt in der Horde oder Gruppe, die ihn über restliche Natur zunehmend hinaus hob. Es kann also nicht oft genug betont werden, dass die Gesetze der Evolutionsbiologie letztendlich den Fähigkeiten Intelligenz und soziale Instinkte zum Sieg verhalfen, anstatt der puren Größe und Körperkraft. Die sozialen Instinkte kommen allerdings nicht allein dem Menschen zu, sondern sind zum Beispiel auch den Ratten und den Wölfen eigentümlich, denen sie ebenfalls zu ihrem recht außerordentlichen biologischen Erfolg verhalfen. Sobald aber das Sozialverhalten einer Art über das bloß Instinktive hinausgeht zum bewussten Verhalten, entwickeln sich spezielle Verhaltensregeln, eine Art Moralkodex. Diese Normen können sich geographisch und historisch mitunter sehr unterscheiden, haben es aber stets gemeinsam, dass sie dem Erhalt und Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft und Gesellschaft dienen sollen. Was dem herrschenden Normensystem entspricht wird als „gut“ bewertet, was ihm widerspricht, gilt als „böse“. Diese beiden Wertungen lassen sich nur im Gegensatz zueinander vornehmen. Prof. Wuketits hebt hervor, dass sie keinen Sinn machen in Anwendung auf Wesen der Natur oder die Naturgesetze, sondern nur auf das Verhalten mit Bewusstsein handelnder Wesen. Prof. Wuketits hebt weiterhin hervor, dass die moralischen Normen den Menschen nicht von Gott oder den Göttern gegeben worden, sondern sich im Prozess der zunächst natürlichen und später gesellschaftlichen Evolution herausgebildet haben. Sie bilden deshalb auch keinen Gegensatz gegenüber den Gesetzen der Evolutionsbiologie, sondern sind deren ureigenstes Produkt.

Prof. Wuketits stellt nun vor Allem dar, dass Charles Darwin, noch und immer wieder gescholten als ein Urheber inhumaner Lehren, in seinem persönlichen Leben sowie auch in seinen Werken als ausgesprochener Humanist in Erscheinung trat. Vor Allem bezieht er sich hierbei auf Darwins Ausführungen in seinem zweiten Hauptwerk „Descent of man…“. Hierin entwirft er eben jenes Bild der menschlichen Moralsysteme, die sich aus der Evolutionsgeschichte ergeben. Zum anderen zeichnet er ein Bild der menschlichen Geschichte, in welcher die Größe der menschlichen Solidargemeinschaft in ständiger Zunahme begriffen: Von der Gruppe zum Stamm, vom Stamm zu Volk und Nation bis hin zu Zusammenschlüssen von Nationen. Er drückt seine Hoffnung aus, dass sich eines Tages alle Nationen und Völker in einer solidarischen Gemeinschaft vereinen werden. Anstatt eines Apologeten imperialer Kriege eines Art Kampfes ums Dasein der Nationen, war Darwin eher Vorausdenker der Vereinten Nationen, die allerdings bis heute noch nicht so gut funktionieren bei der Erhaltung des Friedens, wie er sich vorgestellt hätte. Er drückt weiterhin seine Hoffnung aus, dass sich der Mensch auch einmal verantwortlich fühlen werde für die Gesamtheit der Geschöpfe der Natur, also nimmt auch Gedanken des heutigen Umweltschutzes vorweg. Es ließen sich zudem zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, dass der vielgescholtene „Antichrist“ Darwin, der in der Tat im Alter zunehmend ein Agnostiker geworden war, also die Meinung vertrat, dass der Mensch es nicht entscheiden könne, ob es Gott gäbe oder nicht, in der Praxis ein Mensch der tätigen Nächstenliebe war. Zählte sich der an sich nicht übermäßig politisierte Darwin auch zu den Liberaldemokraten, so war er eher ein Sozialliberaler als ein Marktradikaler.

Nach dem Vortrag von Prof. Wuketits beginnt die Diskussion. Ich melde mich zur Debatte und erkläre erst einmal, dass er mir voll aus dem Herzen gesprochen hat, wie er den Darwin vom Kopf auf die Füße gestellt hat und wie er ihn als großen Humanisten in Theorie und Praxis dargestellt hat. Allerdings müsse ich ein paar Unrichtigkeiten in der faktischen Darstellung der Darwinschen Biographie richtig stellen.

Da wurde richtigerweise dargestellt, dass es bereits vor Darwin eine Evolutionstheorie gegeben habe, nämlich die des Jean Baptist de Lamarck. Unrichtig ist es allerdings, dass Darwin diese Theorie bis zu seiner Weltumseglung mit der Beagle nicht bekannt gewesen sein soll. Schließlich war Darwins Großvater Erasmus nicht nur ein Anhänger dieser Theorie, sondern hatte sogar ein Buch über diese Theorie unter dem Titel „Vestiges“ geschrieben, welches Charles Darwin seit frühester Jugend bekannt war. Professor Wuketits bestätigt dies, erklärt aber, dass Charles Darwin bis zur Zeit seiner Weltumseglung kein Anhänger der Theorie von Lamarck und seinem Großvater gewesen sei, was ich hinwiederum bestätigen kann.

Zum anderen war im Vortrag behauptet worden, Charles Darwin hätte sich sehr davor verwahrt, dass seine Lehren von dem ebenfalls in der Herausbildung begriffenen Marxismus vereinnahmt würden. Zitiert wurde hierzu der Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels über das Werk Darwins, in welchem Karl Marx schreibt, dass die Entwicklungsgeschichte der Natur für ihn ein passender Unterbau für seine Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft sei. Natürlich war Darwin kein Marxist oder Sozialist, genauso wenig wie irgendwie rechtsextrem, sondern eben ein typischer Liberaler, was seinerzeit für Angehörige des englischen Mittelstandes, wie für ihn als Arztsohn und Akademiker, geradezu selbstverständlich war und geradezu in den entsprechenden Familien vererbt wurde. Man trat gegen die Sklaverei ein und für erweitertes Wahlrecht, für die Freiheit der Meinung und die des Glaubens. Charles Darwin war also sozusagen ein gemäßigter Linker für das Britannien seiner Zeit. Keineswegs allerdings hat er sich gegen die Vereinnahmung seiner Lehre durch den Marxismus zur Wehr gesetzt, weil er dies nicht zu tun brauchte, selbst wenn ihm dieses gegen den Strich gegangen wäre. Dem war so, weil die beiden Werke von Friedrich Engels, in denen die Darwinsche Evolutionslehre rezipiert werden, „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ und das unfertige Manuskript „Dialektik der Natur“ erst relativ spät im 20. Jahrhundert aus dem Nachlass publiziert wurden, als Darwin schon seine letzte Ruhestätte in der Abtei von Westminster gefunden hatte. Das Gleiche gilt für den erwähnten Briefwechsel. Prof. Wuketits fragt mich, ob ich denn nicht wüsste, dass Karl Marx Darwin ein Exemplar des ersten Bandes des „Kapital“ übersandt habe, welches Letzterer allerdings abgelehnt habe. Das ist mir natürlich bekannt, allerdings habe er dieses Buch nicht zurückgewiesen, sondern Marx mit den, allerdings ziemlich lapidaren, Worten gedankt, er hoffe dass dessen Werk in irgendeiner Weise zum Fortschritt der Menschheit beitrage, wie auch das seinige. Bekannt sei mir auch, dass die Seiten in Darwins Exemplar des „Kapital“ bis heute unaufgeschnitten seien. Darwin hat das „Kapital“ also nicht gelesen, offenbar graute ihm vor näherer Beschäftigung mit soviel Ökonomie, weshalb man Darwin in der Tat auch für keinerlei ökonomische Philosophie als Kronzeugen in Anspruch nehmen sollte. Wie Darwin über das „Kapital“ geurteilt hätte, wenn er es denn gelesen hätte, gehört natürlich zu den Fragen, die ewig unbeantwortet bleiben werden.

Ein weiterer Diskussionspunkt zwischen mir und Professor Wuketits ergab sich aus dem Begriff des Fortschritts in der Evolutionsbiologie. Wie die Mehrheit der heutigen Evolutionsbiologen bestreitet auch Professor Wuketits, dass es in der biologischen Evolution so etwas wie einen Fortschritt gäbe. Die Evolution verlaufe ziellos, zu immer neuen Anpassungen, aber wer könne Fortschritt definieren, oder definieren was niederes oder höheres Leben sei. Ich halte dagegen, dass wir es allgemein für technischen Fortschritt halten, wenn die Entwicklung der Mikroelektronik zu immer höherer Datenverarbeitungskapazität auf immer kleinerem Raum führt und dass deshalb zumindestens die Entwicklung der Datenverarbeitungskapazität der Zentralnervensysteme, bzw. deren Entstehung überhaupt, als ein Maß für den Fortschritt in der biologischen Evolution gelten könne. Prof. Wuketits verweist darauf, dass es auch zahlreiche Beispiele für Entwicklungsrückschritte in der Evolution gäbe, so z.B. beim Übergang von Lebewesen zu einer endoparasitischen Existenzform. (Einer der bekanntesten Endoparasiten ist der Bandwurm.) Dieser Übergang bedeutet in der Regel den Verlust von Sinneszellen oder -organen. Aber wenn man definieren kann, was Rückschritt ist, wie soll man denn nicht definieren können, was Fortschritt ist? Zumindest kann der Fortschritt dann als das Gegenteil des Rückschritts definiert werden. Das ist letztlich das Gleiche, wie mit den Begriffen „gut“ und „böse“ in den moralischen Normensystemen, von denen der Herr Professor sprach.

Insgesamt war es ein interessanter Diskussionsabend, der mit seiner Hauptstoßrichtung gegen einseitige oder auch falsche Interpretationen der Evolutionstheorie in die richtige Richtung zielte. In diesem Zusammenhang hätte auch ein größeres Gewicht auf die von Darwin in seinem zweiten Hauptwerk sehr hervorgehobene geschlechtliche Zuchtwahl ( sexual selection ) gelegt werden können, die ja ebenfalls zeigt, dass in Evolutionsbiologie nicht nur blutige Kämpfe eine Rolle spielen, sondern auch Vogelsang und buntes Schmuckgefieder, Balztänze und andere Paarungsrituale. Es wäre auch ganz sinnvoll gewesen, nicht nur darauf hinzuweisen, dass die Herausbildung moralischer Normensysteme zu verschiedenen Orten und Zeiten durchaus sehr unterschiedlich verlaufen ist, sondern auch herauszuarbeiten, ob man vom Standpunkt der Evolutionsbiologie Verhaltensnormen für das hier und heute ableiten kann. Ich würde es so formulieren: Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, dass die Gattung Mensch im Kampf ums Dasein hinreichend Intelligenz und Sozialverhalten besitzt, um eine beherrschende Stellung gegenüber gegenüber allen anderen Organismen zu erringen. Die Zukunft muss zeigen, ob Intelligenz und Sozialverhalten des homo sapiens auch hinreichend sind, eine Klimakatastrophe zu vermeiden, generell eine Umwelt zu erhalten, in der das Weiterleben der Art möglich ist, die knapper werdenden Ressourcen solidarisch und nachhaltig zu nutzen und einen abermaligen massenvernichtenden globalen imperialen Krieg um diese Ressourcen zu vermeiden. Dies sind die Fragen des Kampfes ums Dasein heute.

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