Eine Oper ohne – Serie Rom (Teil 2): Die Rarität des Russischen Balletts vor 100 Jahren unter Djagilev an der Römischen Oper bestreikt

L'uccello di fuoco

Er ist nämlich die Lichtgestalt, für die sich die Römische Oper etwas ganz Besonderes ausgedacht hat. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts schossen die neumodischen, die sich kühn Neues Wagenden, die Avantgardisten also, nur so aus dem Boden. In allen Künsten. 1909 ist so das Centenarium für den italienischen Futurismus, die die aus Licht, Bewegung und Geschwindigkeit resultierende neue Richtung der Kunst schufen und in großen Ausstellungen geehrt werden und auch im Mai in der Oper Raum finden. Aber 1909 hat auch der russische Alleskünstler Djagilev in Paris sein russisches Ballett aufgeführt, mit dem er durch die ganze Welt tourte und das die Oper in Rom Djagilev zu Ehren in dreizehn Stücken in originaler Choreographie von 1909 aufführen wollte. Dazu gleich mehr.

Fragt man noch einmal, was an dem russischen Alleskönner das Besondere ist, muß eine Antwort die sein, in welcher Weise er die bildende Kunst mit dem Theater, hier dem Ballett verband. Es waren nicht alle Künstler, die er motivierte, es waren spezifische Kunstrichtungen, unter denen er seine Favoriten fand. Das waren zum einen die Kubisten, besonders Juan Gris, aber auch Picasso. Vor allem beschäftigte er die russischen Künstler wie Natalija Gontscharowa und Sonia Delaunay, die er, nachdem die russischen Schecks ausgeblieben waren, zusammen mit ihrem Mann durchfütterte und Kulissen malen, vor allem Kostüme schneidern ließ. Nur das Theater mit den Surrealisten lief nicht, das heißt, wurde selbst zum Theater. Dabei ist dies eine kulturelle Bewegung, die Theater wichtig nahm, aber nicht mit der Person Djagilev wollte und konnte. Und als Max Ernst und auch Mirí² mit dem Russen arbeitete, schmähten sie Aragon und Breton kräftig als Abtrünnige.

Bevor das Spezifische des Balletts von Djagilev zur Sprache kommt, ein kurzer Blick zurück zum traditionellen Ballett, um das Neue ahnen zu können – wir haben ja Zeit, eine Ballettkritik wird es nicht geben, wenn kein Ballett gegeben werden kann. Ein Ballett ist eigentlich ein kleiner Tanz auf der Bühne im Gegensatz zum großen Tanz, dem Ball. Entstanden war der eigenständige Tanz auf der Bühne aus den höfischen Festen, für die ebenfalls Choreographen Regie geführt haben. Auch Mysterienspiele, Schäferspiele, mythologische Verkleidungsorgien sind Quellen des späteren Balletts, dessen älteste Fassung, deren Partitur erhalten ist, von 1581 stammt: das „Ballet comiqu de la reine“ für Katharina von Medici. Das Ballett war geboren. Für den mit Musik begleitenden Bühnentanz hat sich auch der Begriff Klassischer Tanz eingeprägt. Sind dies Einlagen in musikalische Großformen wie Oper oder Operette, auch Musical, spricht man von Balletteinlagen. Aber daraus hat sich als eigene Form wieder das Ballett herauskristallisiert, das es ja schon vor der Oper einmal gegeben hatte, und die Bühnenform des alleinigen Bühnentanzes mit Musikbegleitung geschaffen. Daraus nun wiederum sind musikalische Werke entstanden, die von Anfang an für den Tanz auf der Bühne vorgesehen waren, so daß zur personalen Struktur an Opern neben den Sängern auch die Tänzer hinzukamen und als Ensemble das Corps de ballet bilden.

Dabei kann man sich die gesamte Erarbeitung so vorstellen. Es entsteht – wie vor der Vertonung einer Oper – ein Libretto. Auf Grund dieser Handlungsanweisung erschafft der Komponist seine Musik, wozu ein Choreograph dies in Bewegungen auf der Bühne umsetzt, also inszeniert und dabei den Raum ebenso miteinschließt, wie die Gestik und Mimik der Tanzenden, für die noch Bühnenbild, Kostüme und Requisiten hinzukommen. Höhepunkte waren die Aufträge an die Komponisten zu einer Grande Opera oder eigenen Balletten – 1841 Giselle von Adolphe Adam, 1870 Coppélia von Léo Delibes -, wo die Primaballerinen einen Status erhielten wie die Primadonnen: Maria Taglioni und Carlotta Grisi (Giselle) oder Fanny Elssler waren Heroinnen. Zunehmend wurde das aber eine einigermaßen fade Angelegenheit und beschränkte sich immer stärker auf die Balletteinlagen in der großen, der französischen Oper. Gleichzeitig wurden diese Opern aber immer mehr zugunsten der Fassungen ohne Ballett auf die Bühne gebracht, weil die Handlungen einsichtiger und spannender ohne aufhaltenden Tanz waren, denn die Inszenierungsfragen, also wie ein Stoff und eine Musik vermittelt werden, wurden immer wichtiger.

Eine Sonderrolle spielte Rußland. Dort blühte das Ballett in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und führte zu den noch heute klassischen Meisterwerken von Pjotr Iljitsch Tschaikowski für das Sankt Petersburger Mariinski-Theater und das Moskauer Bolschoi-Theater: Der Nußknacker von 1982, Schwanensee in 1877 und Dornröschen im Jahr 1890, die alle mit dem Namen der weltberühmtesten Ballerina verknüpft sind: Anna Pawlowa. Spitzentänzerinnen waren Berühmtheiten der Zeit. Allerdings jetzt nur noch in Rußland, das in der ganzen Welt ob des lebendigen Tanzens bewundert wurde, das im übrigen Europa an Auszehrung litt.

Genau an dieser Stelle tritt die avantgardistische Funktion von Djagilev ein. Er hatte mit seiner Truppe in Sankt Petersburg den Handlungsaspekt in den Vordergrund gestellt, aber gleichzeitig mit gefühlsbetonter Körpersprache und neuartigen Kostümen und Kulissen eine bewegte Szene geschaffen, die das alte Ballett nun richtig alt aussehen ließ. Er war von der russischen Volkskunst so überzeugt wie davon, daß aus den weiten Steppen des Landes für Europa die Orientierung komme. Deshalb arbeitete er bevorzugt mit Russen, aber auch mit allen Nationen, die ihm zuströmten und eine gewisse Russifizierung in Gang setzten, die aus der englischen Tänzerin Lilian Alicia Marks eine Alicia Markova, aus dem Engländer Sydney Francis Patrick Chippendall Healey-Kay einen Anton Dolin machten, der schon als Kind beim russischen Impressario auftrat und ihm ein Leben lang treu blieb. Für Paris, wohin der Kunstkenner Djagilev gegangen war und Kunstausstellungen wie d über Ikonen zusammenstellte, holte er aus Rußland die besten Tänzer und Tänzerinnen zum Ensemble „Ballett Russes“, mit denen er anschließend auf Tournee durch die Welt ging und diese neue Tanzwelt prägte.

Alles, was wir heute erneut differenzieren, den Ausdruckstanz (Isadora Duncan, Mary Wigman, Martha Graham, Gret Palucca) und das spätere Tanztheater unter Pina Bausch stellen sich gegen die Ballettraditionen, aber kommen von Djagilev her. Aber auch der Neoklassizismus (George Balanchine) ist daraus wiederum hervorgegangen. Es beeinflußten den Tanz auch andere Kunstformen wie die Pantomime, der Feind des klassischen Spitzentanzes, der den Körper als Ausdrucksträger auf der Bühne neu einsetzt. In der Sowjetunion hatte dagegen die Tanzpädagogin – auch ein neuer Begriff – Waganowa die Techniken des klassischen Balletts bewahrt und geschult, während dies Können im Westen mehr und mehr verloren ging.

Djagilevs Erfolge beim Publikum rund um die Welt motivierten erneut ernsthafte Komponisten zu Ballettkompositionen wie Igor Strawinskys „Der Feuervogel“, der in der gemeinsamen Premiere am 25. Juni 1910 ein internationaler Erfolg wurde. Das galt auch für das Ballett “Petruschka im Jahr 1911 und zwei Jahre später der musikalische Skandal „Le sacre du printemps“ Später folgten noch im Jahr 1920 „Pulcinella“ und 1923 „Les Noces. Letzten Endes blieb die Zusammenarbeit von Strawinsky mit Djagilev ein Synonym für Erfolg. Für Claude Debussys „L`Après-midi d ´un faune schuf Nijinsky 1912 die Choreographie. Er war zuerst Djagilebs Spitzentänzer gewesen, wurde seine große Liebe, die für den Tänzer, der heiratete, zu Ende ging, für Djagilev nie. Seine Lebenswunde. Aber auch ohne Djagilev setzten sich jetzt Ballette durch. Maurice Ravels "Boléro" gibt es inzwischen in zahlreichen Tanzfassungen. Die letzten großen und weltumspanndenden Ballette sind 1936 Sergei Prokofjews "Romeo und Julia" und 1945 "Cinderella".

Das war unser Rundumschlag zur Ballettgeschichte des Sergej Djagilev, dem die Oper Rom anläßlich des Hundertsten seiner die Ballettwelt revolutionierenden russischen Aufführungen in Paris 1909 nun einen Monat lang dreifach Aufführungen widmete. Übrigens als einzige Stätte. Wäre da Paris nicht dran gewesen? So sollten an der Oper Rom vom 7. bis 11. April fünf Kompositionen getanzt werden und die Folgen Zwei und Drei vom 17. bis 22. April und 28. April bis 3. Mai. Damit wären die bekanntesten Choreographien abgedeckt gewesen, die Djagilev übrigens nicht selber schuf, er hatte jeweils Choreographen, seine Funktion bestand i der des Ballettmacher, der alle beteiligten Künstler zusammenführte.

Am 7. und 8. April fielen dem Streik zum Opfer: „Les Sylphides“ von Frederik Chopin unter der musikalischen Leitung von David Coleman. Choreographiert von dem wichtigsten Mitarbeiter von Djagilev, Michel Fokine, erneut in Szene gesetzt von Carla Fracci mit den Primaballerinen Laura Comi und Gaia Straccamore. Ebenso fiel aus „Kleopatra“ (Eine Nacht in Ägypten) von Anton Arenskij, ebenfalls original von Michel Fokine als Ballett eingerichtet und mit den Bühnenbildern und Kostümen des Russen Léon Bakst, beide durch Zeitgenossen aktualisiert und mit Alexandra Iosifidi und Gaia Straccamore in der Titelrolle.

Es fielen aus: „Les Biches“ von Francis Poulenc, choreographiert von Bronislava Nijinska, Szene und Kostüme von Marie Laurencine und neu eingerichtet von der Bayerischen Staatsoper. Es fiel aus „Il cappello a tre punte“ von Manuel de Falla mit der Originalchoreographie von Léonide Massine und dem Bühnenbild und Kostümen von Pablo Picasso, das in den Vorstellungen am 10. und 11. April abwechseln sollte mit „L’Uccello di fuoco“ von Igor Strawinsky mit der ursprünglichen Choreographie von Michel Fokine und dem Bühnenbild und den Kostümen von Alexander Golovin und Léon Bakst und in der historischen Aufführungspraxis erneuert durch die lettische Staatsoper Riga.

Über die Hintergründe des Streiks wissen wir leider nichts. Mit diesbezüglichen Verlautbarungen ist auch die Römische Oper eine versiegte Quelle, allerdings haben sich ja gerade in Deutschland durch die Auseinandersetzungen zwischen der Orchestervereinigung und den Arbeitgebern ebenfalls Streiks und Dichtmachen der Oper ereignet, die erst einen positiven Ausgang wahrscheinlich erschienen ließen, nun aber wieder stocken, so daß keiner weiß, wie es weitergeht. In Rom und an deutschen Opernhäusern. Aber Rom hat ja zumindest noch die Chance, daß Aufführungen gelingen. Wir dagegen nicht, denn wir müssen abreisen.

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