Mühsamer Beginn – Münchner Kammerspiele mit „Gesäubert/ Gier/ 4.48 Psychose“ beim Theatertreffen in Berlin

Die kaum erträglichen Gewalt- und Folterszenen, die Sarah Kane in ihren Regieanweisungen beschreibt, sorgten in den 1990er Jahren für Theaterskandale und auch für die schlagartige Berühmtheit der jungen Dramatikerin.

Johan Simons hat in seiner Inszenierung auf Schock- und Ekeleffekte verzichtet und eine ästhetisch stilisierte Interpretation gefunden, die verspielt und allzu harmlos erscheint.

Im ersten Stück, „Gesäubert“, vergnügt sich eine infantile Therapiegruppe mit sadomasochistischen Spielchen zum Thema Liebe. Spielleiterin ist Tinker (Annette Paulmann) mit orangeroter Lockenperücke und in grauer Schuluniform mit roter Krawatte. Paulmann spricht genüsslich böse mit aufgesetztem Kinderton und lässt ihre Augen grausam funkeln. Sie verabreicht Elektroschocks, schneidet Gliedmaßen ab und nimmt, mit einer Schere klappernd, auch eine Geschlechtsumwandlung vor, indem sie ein männliches Geschlechtsteil abschneidet und das dann bei einer Frau deponiert.

Blut fließt nicht, alles ist nur angedeutet, und Anteilnahme an den Qualen der mitspielenden Folteropfer scheint nicht erforderlich. Was zunächst mäßig komisch ist, wird zunehmend langweilig. Als Robin (Thomas Schmauser), mit einem Abakus in der Hand, stolz verkündet, er habe es nun gelernt, und langsam zu zählen beginnt, versuchen in der Vorstellung am Sonnabend einige ZuschauerInnen, die Prozedur durch Klatschen abzukürzen. Robin wirft verunsicherte Blicke ins Publikum, zählt ungerührt weiter bis 50 und fängt kurz darauf noch einmal an zu zählen.

Nachdem am Ende die böse Tinker doch noch ihr Liebesglück gefunden hat, folgt das nächste Stück „Gier“. Die vier agierenden Personen haben keine Namen. Sie sind nur durch Buchstaben gekennzeichnet. Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Marc Benjamin und Stefan Hunstein präsentieren ein technisch brillantes Sprachkonzert. Die Texte sind ein Gemisch aus Zitaten und Alltagsfloskeln.

Nach dem allzu langen ersten Stück ist meine Bereitschaft, mich auf diese abstrakte Artikulation von Selbstverlust und hoffnungsloser Suche nach Nähe einzulassen, erheblich eingeschränkt. Ich wünsche mir, die Personen würden zu ihren Texten absurde Handlungen vollführen anstatt nur nebeneinander auf Stühlen zu sitzen und gelegentlich aufzuspringen.

Am Schluss fällt Regen, und einige der zylindrischen Lampenschirme, die dekorativ über der Bühne und auch über dem Zuschauerraum angebracht sind, lösen sich durch die Nässe auf und fallen als weiße Tücher herunter.

Im dritten Stück „4.48 Psychose“ hat Sarah Kane ihre Erfahrungen während eines depressiven Schubs und ihre Behandlung in der Klinik beschrieben. Thomas Schmauser, an einem Notenpult sitzend,  rezitiert den Text, begleitet von einem Kammersextett.

Carl Oesterhelt hat für diese Inszenierung eine leidenschaftliche, pathetische Musik komponiert, mit der Thomas Schmausers sprachliche Interpretation sich grandios verbindet zu einem bewegenden Requiem für Sarah Kane.

Die Schwergewichtigkeit dieser Darbietung, durch die der Text fast pompös aufgeblasen erscheint und die lyrischen Passagen bedrohlich in Kitschnähe geraten, löst sich auf durch das befreiende Eingreifen von Sandra Hüller. Brillant und souverän führt sie die ausufernden Leidensproklamationen zurück auf ein sachliches Therapiegespräch, dominiert dabei auch die Musik, die ihr einfühlsam folgt. Im Austausch mit dem Patienten wird dann die Ärztin zur Kranken und der Leidende, Thomas Schmauser, kann, aufgrund seiner Krankheitserfahrung, den Part des Arztes übernehmen.

Die drei Stücke von Sarah Kane sind vielleicht ein bisschen viel für einen Theaterabend, und es lässt sich darüber streiten, ob die Inszenierung von Johan Simons gelungen ist oder nicht. Unbestreitbar ist aber, dass Johan Simons die Stücke von Sarah Kane neu, vielleicht endlich überhaupt, entdeckt hat als Kreationen einer professionellen Dramatikerin und nicht als private Aufzeichnungen einer Kranken.

„Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“, Regie: Johan Simons, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Wolfgang Göbbel, Musik: Carl Oesterhelt, eine Produktion der Münchner Kammerspiele, war am 04. und 05. Mai im Rahmen des Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.

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