Die Nacht der langen Schatten – „Film Noir“ eröffnet die Genrefilmreihe des Taschen Verlags

Film Noir, Duncan, Paul (ED), Silver, Alain / Ursini, James, Flexicover, 19.6 x 24.5 cm, 192 Seiten, € 14.99, ISBN: 978-3-8228-2268-5, Ausgabe: Deutsch

„It was back in ’32 when times were hard
He had a Colt 45 and a deck of cards
He wore rat-drawn shoes and an old Stetson hat
Had a ’28 Ford, had payments on that
Stagger Lee“
(Nick Cave and the Bad Seeds)

Die Konzentration auf das Besondere, wie es das Einbandmotiv verspricht, zeichnet die elf Kapitel des Bildbandes aus. Seinen Status des verkannten Meisterwerks teilt Charles Laughtons einzige Regiearbeit “Night of the Hunter” mit vielen Noir – Werken. Ein riesiges Auge, in dessen Pupille sich das Gesicht einer verstörten Frau spiegelt, fixiert den Leser auf der ersten Seite. Man selbst findet sich im Angesicht des Todes. Denn das Auge aus Robert Siodmaks “The Spiralstaircase” gehört einem Serienmörder. Das anspielungsreiche Eröffnungsbild zeugt wie schon der Umschlag von der kreativen Auswahl der Bildmotive. Ihrer zwölfte gemeinsamen Buchpublikation machten Herausgeber James Ursini und Autor Alain Silver dank ihrer Leidenschaft für das Sujet zu mehr als einer Einsteigerlektüre, auch wenn das Eröffnungskapitel weniger verspricht. Zwingt vielleicht eine Verlagsklause die Autoren, die stets unergründliche Eingangsfrage zu stellen, je nach Buchthema. Was ist Erotik, was ist Horror, was ist “Noir”?

"Die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach kriminell. Egoismus hält alles aufrecht, alles, was wir hassen, alles was wir lieben."
(Joseph Conrad)

“Noir” bedeutet schwarz. Schwarz-weiße Abbildungen dominieren den Band trotz seiner Farbigkeit. Auf das Kino bezogen bedeuten Noir-Bilder Straßenschluchten, Kriminalität, femme fatales und Nacht. Treffender als der von der französischen Filmzeitschrift “Cahiers Du Cinema” kreierte Begriff ist die deutsche Alternativbezeichnung “Schwarze Serie”. Weder Genre noch Zeitströmung, bleibt film noir ungreifbar. Es gibt keinen letzten, ersten oder absoluten film noir. Oft steht er dem Kriminalfilm nahe, kann aber auch in den Horrorfilm (“The Spiralstaircase“), psychologisches Drama (“In a lonely Place”) oder Dokumentarfilm (“The Phoenix City Story”) übergehen. “Noir” ist ein Schatten. Bestimmte Stilmittel, Archetypen und Handlungselemente werfen ihn auf nur wenige Jahrzehnte amerikanische Filmgeschichte. 

“Der Alptraum der Vorsehung” hält die Protagonisten gefangen. Nur zu seiner Freundin reisen möchte Hauptdarsteller Tom Neal in Edgar Ulmers “Detour” (Seite 48 und 49). Am Ende dieses schwärzesten Films der schwarzen Serie wird er als Doppelmörder abgeführt. “Das Schicksal kann seinen Finger ohne Grund auf dich oder mich richten.”, sinniert Neal. Kein Wunder, dass “Das große Ding” immer schief geht. Cyd Charisses rotes Kleid scheint in die Blutlache zu fließen, worin ein Toter vor ihr schwimmt (Seite 128). Sterling Hayden steht auf Seite 69 in John Hustons “Asphalt Jungle” beim Einbruch vor den Gitterstäben des Safes Schmiere, welche das drohende Gefängnis vorwegnehmen. Auf das Gesetz ist kein Verlass. Korruption und Gewalt wuchern überall, nicht nur in dem dokumentarischen “The Naked City” (1948). Unschuldig Verfolgte zählen zum Standardfigurenrepertoire. Die Noir-Regisseure machten es zu ihrer Spezialität, Sympathie für Antihelden zu wecken. So das mörderische Pärchen in Joseph H. Lewis “Gun Crazy”. Für die “Liebe auf der Flucht” des von Bonnie Parker und Clyde Barrow inspirierten Duos gibt es kein Entkommen, genausowenig wie für Barbara Stanwyck und Fred MacMurray. Sie schielen über spießige Supermarktregale in Billy Wilders “Double Indemnity” auf ein luxuriöses Leben. Doch das geplante “Perfekte Verbrechen” existiert nicht.

"Man erreicht mehr mit einem freundlichen Wort und mit einer Pistole als mit einem freundlichen Wort allein."
(Al Capone)

Dass mit dem film noir eine amerikanische Filmrichtung einen fremdsprachlichen Namen erhielt, statt wie so oft umgekehrt, passt zu dessen europäischen Inspirationsquellen: französischer Neo-Realismus und, das expressionistische Kino. Auf diese bezieht sich das erste Kapitel. Nachdem er mit “M – Eine Stadt jagt einen Mörder” einen Noir-Vorgänger schuf, inszenierte Regisseur Fritz Lang unter anderem das Jean-Renoir-Drama “Le Chienne” als “Scarlet Street” neu. Langs Oeuvre ist wohl zu prominent, um eine der Kurzbiografien zu bekommen, die in jedem Kapitel einen Regisseur würdigen. Hier erinnern die Autoren an Filmschaffende, die vergessen oder deren films noir hinter anderen Werken zurückgetreten sind. Edgar G. Ulmer, Billy Wilder und Nicholas Ray werden neben anderen analysiert. Mehr solcher Sonderartikel, etwa zu den wichtigen Noir-Autoren Raymond Chandler und Dashiell Hammet, wünscht man sich.

Klassikern wie “Out of the Past”  und “The Big Sleep” wird gehuldigt und bizarren Ausnahmeerscheinungen wie dem im Schaustellermilieu angesiedelten “Nightmare Alley”. Von John Hustons “The Maltese Falcon” verweisen Ursini und Silver versiert auf die zehn Jahre zurückliegende Erstverfilmung von Raymond Chandlers Krimi (1931). Wie sehr sich die Filmlandschaft in der Dekade gewandelt hatte, erschließt sich erst beim Ansehen vollständig. Die kritische Distanz fehlt in den durchgehend positiven Filmbesprechungen allerdings mitunter. Die Bilder knüpfen thematisch aneinander an, die Kapitel gleiten chronologisch ineinander über. So gelingt es den Autoren, Struktur in das verflochtene Reich der Schwarzen Serie zu bringen. “Film Noir” erklären kann der der Band trotz seiner Detailliertheit nicht. Dialogzitate, Kurzbiografien und das verwirrende Gemisch aus deutschen und englischen Titel lassen das Werk bruchstückhaft. Dennoch transportieren sie kongenial die Essenz des “Film Noir”: Atmosphäre. “Noir” ist ein Gefühl, eine unbestimmte filmische Spannung aus Fatalismus, Finsternis, Angst und Gewalt. Die oft mit niedrigem Budget produzierten Werke waren die Antwort auf die Glitzerwelt Hollywoods. Als die Zensurvorschriften fielen und Brutalität und Sexualität explizit gezeigt werden konnten, verloren suggestive Schatten und Dialoge für die Zuschauermasse an Anziehungskraft. Kaum etabliert, verschwand film noir wieder.

Die mangelhafte Chronologie von 1867 bis “heute” und die nur zehn Werke umfassende Filmografie sind enttäuschender Abschluss. Letzte biete immerhin zehn Poster, neben amerikanischen interessante französische und italienische Variationen. Personen, Film- und Titelregister vermisst man aufgrund der deutschen Neuinterpretationen der Originaltitel schmerzlich. Ob aus “The Phantom Lady” plötzlich “Zeuge gesucht” oder aus “Party Girl” “Das Mädchen aus der Unterwelt” wird, weil die Übersetzer kein Englisch konnten oder ihre Ideen für überlegen hielten, bleibt im Dunkeln. Das perfekte Filmbuch gelingt den Autoren so wenig, wie den klassischen Noir-Helden der perfekte Mord. Beider Fehler ist übermäßige Selbstsicherheit. Aus den Texten liest man heraus, dass Silver und Ursini genau zu wissen glauben, was Noir ist. Doch “Die Rechnung ging nicht auf.”, mit dem hiesigen Titel von Stanley Kubricks “The Killing” formuliert. Den Schauwerten des Bildbandes tut dies keinen Abbruch. So ähnelt “Film Noir” den Komplotten seiner Protagonisten: ein wunderschön anzusehendes Scheitern. Film noir bleibt trotz des Taschen Bildbandes ein Mysterium, ein ungreifbares dunkles Leinwandgespinst. Wiederbeleben lässt er sich nicht. Tote schlafen fest.

Titel: Film Noir, Herausgeber Paul Duncan,  Autoren Alain Silver, James Ursini,  Taschen Verlag 2004

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