Die Antreiber geniessen den Neubau, die Malocher sind kaputt – Ute Lemper auf Deutschland-Tournee mit »Die sieben Todsünden» von Bertolt Brecht und Kurt Weill

Lohnarbeiter auf dem Bau. Quelle: Pixabay, Foto: joffi, BU: Ulf Peter

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Ute Lemper ist bereits eine Legende. Sie lebt in New York, und wenn sie nach Deutschland kommt, bringt sie ein Programm mit, das sich in Deutschland andere Künstler kaum trauen würden. Es geht gegen den Krieg, den Brudermord der Soldaten »übern Graben», gegen die Verfolgung und Vertreibung der Juden aus Deutschland und um ihre Heimatlosigkeit.

Weit hergeholt? Noch nicht lange her ist es zum Beispiel, dass auf dem Young Euro Classic Festival in Berlin sich die Programmgestalter scheuten, die Chorfantasie von Beethoven mit dem Vers von Johannes R. Becher, »Wenn sich Geist und Kraft vereinen, / Winkt uns ewgen Friedens Gunst» (Friedensgunst statt Göttergunst) singen zu lassen. Das geboten vielleicht Rücksichten auf fördernde Institutionen im Einflussbereich einer kriegführenden Bundesregierung.

Ute Lempers Programm steht unter dem Titel »Die sieben Todsünden». Als eine achte Todsünde könnte heutzutage der Kampf gegen den Krieg, dem der brave Bürger aus dem Wege gehen soll, aufgefasst werden.
Es ist Programm, dass im Programm Lieder und Kompositionen von Künstlern stehen, die als Juden, Nazigegner oder Kommunisten aus Deutschland vertrieben oder in Deutschland boykottiert wurden. Es sind Lieder von Hanns Eisler, Friedrich Hollaender, Franz Waxman und Kurt Weill. Hinzu kommen kammermusikalische Werke, die man sonst kaum zu hören bekommt: die Kleine Sinfonie op. 29 von Hanns Eisler (1932) und die Kammermusik Nr. 1 von Paul Hindemith – freche, ironische, parodistische und schockierende Werke, die dem bürgerlichen Musikbetrieb etwas Erhellendes, Aufklärerisches entgegensetzen. Eisler nannte sein Stück einen »Protest gegen das aufgeblasene, schwülstige, neoklassische Musizieren», Hindemith wollte das klassisch-romantisch geformte Publikum provozieren.

Exkurs: Film und Musik

Eislers Kleine Sinfonie, in der er zum Beispiel Musik aus dem Film »Kuhle Wampe» verwendet, lenkt auf eine interessante These Volker Schlöndorffs in einem Diskurs in der Berliner Philharmonie hin. Schlöndorff hatte erzählt, dass er, angeregt durch Hans Werner Henze, für seine Filme, zum Beispiel »Der junge Törless», zuerst die Musik komponieren lässt und seine Bildsprache nach dem Rhythmus und der Stimmung der Musik gestaltet. Den Bildern vom Kampf der Arbeiterklasse, von Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Aufbegehren in »Kuhle Wampe» wurde Eislers Musik nicht erst nach dem Filmschnitt hinzugefügt, sondern das Bild wurde nach dem Duktus der Musik gestaltet. Eisler gebraucht auch Verfremdungseffekte: Gegen Bilder von armen Häusern setztt er keine traurige, sondern rasche, scharfe Musik. Das Wiedererkennen des Films in der Sinfonie ist vergnüglich wie auch andere Feinheiten.

Die sieben Todsünden

Kern des Programms ist das »Ballet chanté für Gesang, Männerquatett und Orchester – Die sieben Todsünden» von Kurt Weill auf das Gedicht »Die sieben Todsünden der Kleinbürger» von Bertolt Brecht. Das Werk schrieben Brecht und Weill, beide dem Terror der Nazis entkommen, 1933 in Paris im Auftrag des Theatre des Champs Elisees, wo es auch mit Lotte Lenya und und Tilly Losch uraufgeführt wurde. Es ist die Geschichte der Tochter einer Kleinbürgerfamilie aus Louisiana, die ausgesandt wird, um Geld zu verdienen, damit die Familie ein Haus bauen kann. Anna verdingt sich in amerikanischen Großstädten als Tänzerin. Sie kann ihren Auftrag nur erfüllen, wenn sie den Todsünden Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid – eben nicht erliegt, sich nie Ruhe, Liebe, gutes Essen leistet, weil sie den Quängeleien der Familie ausgesetzt ist. Ihr böses Gewissen spaltet ihre Persönlichkeit in die eine, die in körperlichem und seelischem Wohlbefinden leben möchte, und die andere, die sie zu ruinöser Selbstausbeutung zwingt. Am Ende ist sie ausgepumpt und einsam. Es kommt mit zwingender Logik: die Antreiber genießen die Früchte, das neue Haus, die Malocher sind kaputt.

Sänger und Orchester brilliant

Ute Lemper gestaltet das Programm mit ihrem brillianten Können, die Anna I und II zelebrierend. Flankiert wird sie vom Hudson Shad-Gesangsquartett, bekannten Brecht-Weill-Interpreten, die die »Todsünden» nach großem Erfolg in der Carnegie Hall nun mit Ute Lemper erstmals in Deutschland aufführen. Lempers Auftritt ist stimmlich und gestisch perfekt. Nicht so überzeugend war ihre Darbietung des Liedes »Der Graben». Statt Pathos wäre nüchterne Schärfe treffender gewesen.

Ein Wert für sich war wiederum die Kammerakademie Potsdam unter der Leitung von Antonello Manacorda, die die Revue Lempers in Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt am Main, Berlin und Potsdam begleitete. Das Konzert und seine Werk-Auswahl bot allen Musikern Gelegenheit zu virtuosem Spiel, das sie glänzend bewältigten. Ein Orchester von Format. Das Publikum war begeistert. Warum der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie nur halb besetzt war, ist schwer zu begreifen (Veranstalter: die Konzertdirektion Hans Adler).

Die Wahl der Spielorte ist stark westlastig. Es mutet an, als wären Berlin und Potsdam die Insel im Osten, und dahin führte eine Luftbrücke. Hätte Ure Lemper im Osten keine Bewunderer?

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