Jugend ohne Jugend – Renate Günther-Greene berührt mit ihrer Dokumentation über „Die Unwertigen“ im Dritten Reich  

„Asozial“, „schwachsinnig“, politische Waisen, und damit konträr zur Naziideologie. Dass es Kinder waren, welche die entwertenden Bezeichnungen trafen, spielte für Nazi-Deutschland keine Rolle. Die Jugend wurde entsprechend dem faschistischen Ideal verherrlicht. In der Jugend lag die Zukunft, umso wichtiger, sie ideologisch „rein“ zu halten. „Die Unwertigen“, Kinder und Jugendliche, wurden zwangsweise aus der Gesellschaft entfernt. Sie kamen in Heime, Anstalten für Geisteskranke, Jugendkonzentrationslager. Aus den Augen, aus dem Sinn, aus dem Leben. Misshandlungen und seelische Grausamkeit waren in den Jugendanstalten an der Tagesordnung. Kinder mussten in Lagern Zwangsarbeit leisten. Lernschwache Kinder wurden in Nervenkliniken als angeblich schwachsinnig weggesperrt. Elfriede Schreyer ist eine von ihnen. Lesen und Schreiben konnte sie nicht gut lernen. Heute benennt man dies als Legasthenie. Geistige Beeinträchtigung bedeutet die Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht. Jahrzehnte ihres Lebens wurde Elfriede Schreyer dafür in eine Anstalt gesperrt. Ihre Kindheit hat ihr das Nazi-Regime gestohlen. Die folgenden Jahrzehnte der heutige Saat. Ihre Kinder nahm man Frau Schreyer, die lange bis nach Kriegsende in der Anstalt eingesperrt blieb, weg. In den 60er und 70er Jahren widerfuhr ihrem Sohn als Heimkind ähnliches Leid. Oft wurden „Die Unwertigen“ aus den Anstalten nach Kriegsende nicht entlassen. Die ideologisch motivierte Fehldiagnose wurde übernommen. Bis heute würde sie in der Anstalt leben, wäre sie nicht einer jungen Psychologin aufgefallen, welche die Entlassung Elfriede Schreyers durchsetzte.

Das nationalsozialistische Gedankengut bestand in vielen Institutionen, so auch den Heimen, fort. So wie das Leiden der Kinder unter dem SS-Staat bewegt, empört es, wie treu dessen inhumane Grundsätze weitergelebt und weitergegeben wurden. Eine „braune“ Pädagogik, noch finsterer und inhumaner als die Schwarze Pädagogik. Richard Sucker hat seine Erlebnisse in einem Buch verarbeitet. Als uneheliches Kind wurde er der Mutter weggenommen und in einem Heim weggeschlossen. Für die Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe – Bezeichnungen, welche sich wie grotesker Spott ausnehmen – war Sucker ein „Asozialer“. In drei verschiedenen Heimen setzte sich das Martyrium von Zwangsarbeit und Misshandlung über Jahre fort. Heute kämpft Sucker mit andern Betroffenen im Petitionsausschuss Heimkinder um eine Wiedergutmachung. Ein Schuldeingeständnis der Heime, in denen über Jahrzehnte die vorgeblich beseitigte braune Ideologie fortgesetzt wurde, kann die verlorenen Leben nicht zurückbringen. „Die Unwertigen“, welche Regisseurin Günther-Greene während ihrer Recherche aufsuchte, sind Überlebende. Tausende wurden ermordet, durch Vernachlässigung, Zwangsarbeit oder die Giftspritze. Einen Massengrabstein sucht Renate Günther-Greene in „Die Unwertigen“ auf, der an die Opfer unbekannter Zahl erinnert. Mehr bleibt nicht. Sie habe nichts anderes, darum bewahrt Waltraut Richard die Konfirmationsurkunde. Besser ein schmerzvolles Erinnern als Vergessen.

Fast ist man wütend auf Renate Günther-Greene über den Zorn, die Trauer und Empörung, welche die darin dokumentierten Verbrechen hervorrufen. Mehr noch ist man dankbar: für ihr Werk gegen Verdrängen und Verleugnen des Unrechts gegen „Die Unwertigen“. Ihre Dokumentation lenkt auch den Blick auf das heutige Erziehungssystem. Hat sich soviel geändert? Unsere Gesellschaft hat anderer Worte gefunden, um die störenden Kinder auszugrenzen und auszusortieren. Milieugeschädigt, schwer erziehbar, Borderline-Persönlichkeit. „Die Unwertigen“ kommen heute aus dem Prekariat, den bildungsfernen Schichten und wie Unterschicht sonst gerne euphemistisch umschrieben wird. „Es geht mir um die Sicht auf die Jugend.“, sagt Renate Günther-Greene über „Die Unwertigen“. Kluge Worte zu einem wichtigen Film.

Am 19. November soll der Film anlaufen. Noch hat der Verleih nur wenige Spielstätten gefunden. Kontaktadressen für interessiert Kinobetreiber:

Agentur Kulturprojektor, Daniel Karg, Tel.: 05132 857 99 07, Fax: 0179 541 73 32, E-Mail: daniel.karg@kulturprojektor.de

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Titel: Die Unwertigen

Kinostart: 19. November 2009

Regie und Buch: Renate Günther-Greene

Mit: Richard Sucker, Waltraut Richard, Günter Discher, Elfriede Schreyer

Verleih: Agentur Kulturprojektor

Internet: www.kulturprojektor.de, www.die-unwertigen.de

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