In einem dunklen Spiegel – Terry Gilliam eröffnet „Das Kabinett des Dr. Parnassus“

Das Kabinett des Dr. Parnassus

Unmerklich ist die Ära von Vaudeville und Side Show zur abgeklärten Moderne geworden. „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ (Christopher Plummer), der mit dem jungen Anton (Andrew Garfield) und seinem Assistenten Percy (Verne Troyer) eine altmodischen Bühnenshow aufführt, wird hier nur noch verlacht. Seine Tochter Valentina (Lily Cole) hat der tausendjährige Zauberer Parnassus für seine Unsterblichkeit dem teuflischen Mr. Nick (Tom Waits) verkauft. Der schätzt als englischer Gentleman eine gute Wette und bietet Parnassus, als der Stichtag naht, eine letzte an: fünf Seelen muss einer von ihnen in drei Tagen auftreiben. Ist Parnassus ein besserer Seelenfänger als der Leibhaftige, ist Valentina frei. Unerwartete Hilfe erhält Dr. Parnassus von dem vermeintlichen Selbstmörder Tony (Heath Ledger), den die Schausteller unter einer Brücke hängend finden. Doch wie der magische Spiegel im „Kabinett des Dr. Parnassus“ enthüllt, hat Tony viele Gesichter (Johnny Depp, Jude Law, Ethan Hawke) und ist als zwielichtiger Verführer selbst an Valentina interessiert.

Ein abgestorbenes Relikt vergangener Zeiten das Kabinett, mit einem noch älteren Relikt als Vorsteher, Dr. Parnassus. Wie grotesken Marionetten stehen grell geschminkte Gestalten auf der Bühne, die eine Darbietung aufführen wollen, die niemand sehen will. Nicht einmal Gilliam scheint an das Unterhaltungskunst der Truppe zu glauben. Immer wird ihre Vorführung verhindert. Als sie schließlich Publikum haben, zeigen sie eine andere Nummer, die Tonys. „Das Kabinett des Dr. Parnassus“, viel besser umschrieben mit dem sich gegen eine Übersetzung sträubenden Begriff „Imaginarium“, die Vorstellungswelt des Dr. Parnassus, liegt hinter der Bühne. Durch einen Spiegel gelangt man in das bedrohlich-verlockende Wunderland, wie Lewis Carrolls Alice. Der in seiner altmodischen Schäbigkeit aus blätterndem Lackgold und Flitter wunderschöne Rahmen ist eine Wanderbühne, auf der Valentina, Anton und Percy auftreten. In der Gegenwart gestrandet wie die Figuren aus Shakespeares „Sturm“ mit Parnassus als halb düsterem, halb wohlwollendem Prospero, seiner Tochter Valentina als Miranda, welche das missratene Ziehkind Anton vergeblich begehrt. Ob der ungelenke Anton oder der schlitzohrige Tony Caliban sind, bleibt vage. Vielleicht ist der eine die jüngere Gestalt seines Namensvetters, der vorführt, wie das frustrierte Verlangen entstand, welches ihn später Valentina verführen lässt. Gilliams größtes Scheitern liegt darin, dass es ihm nicht gelingt, die unheimliche Magie des „Carnival“ – jener besonderen Mischung aus umherziehenden Zeltshows, Fahrgeschäften und Verkaufsständen – zu wecken. „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ wirkt im Kino fehl am Platz, wie in den modernen Londoner Straßen, durch die es holpert.

Mit seiner Geschichte filmischer Fiaskos gleicht Gilliam fast einem Orson Wells. In grandioser Weise scheiterte Gilliam an der Verfilmung seines „The Man who killed Don Quichotte“. Sein Drehbuch zu „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ muss er immer wieder umschreiben. Zuletzt stirbt Gilliam der Hauptdarsteller weg. Nur ist Gilliam eben anders als Wells kein Genie. Das filmische Resultat, in welchem jede Szene für sich interessant und bizarr ist, ohne dass ein schlüssiges Ganzes entsteht, erinnert an ein Panoptikum – dem Regisseur vielleicht nicht unrecht. Das hohe, aber trotz Jude Laws, Johnny Depps und Ethan Hawks Gagenverzicht sichtliche zu knappe – so war es auch bei Orson Wells – Budget lässt die computergenerierten Szenen schal und künstlich wirken. Das Vaudeville-Bühnenbild des Panoptikum besitzt weit mehr Charme. Ledgers tragisch früher Tod 2008 gab dem „Kabinett des Dr. Parnassus“ die Aura des letzten großen Werks. Dabei ist Ledgers Leinwandzeit zu kurz, als dass man ihn überhaupt Hauptdarsteller nennen könnte. Dazu wird Christopher Plummer als Titelcharakter, Lily Cole und der großartige Verne Troyer. Der diabolische Beste ist Tom Waits in seinem tadellosen schwarzen Anzug als mephistofelischer Mr. Nick.

Am ehesten lässt sich „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ als Geschichte über Macht und Gefahren der Fantasie deuten, über das Schaugewerbe als Gratwanderung zwischen Ehrerbietung an und Ausbeutung von Wunschvorstellungen und Träumen. Die illusorische Bühnenwelt dient als Zuflucht und Abgrund, der Reisende verschlingen kann wie die schwarze Schlange, welche in einer Szene ihren Rachen aufreißt. Wenn sie auch zum Papiertheater schrumpft, wie „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ am Ende oder zur hübschen, aber handlungsarmen Phantasmagorie wie Gilliams Film, lässt sich die Fantasiewelt nicht auslöschen: Während „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ anläuft, plant Gilliam erneute Dreharbeiten zu „The Man who killed Don Quichotte“.

* * *

Deutscher Titel: Das Kabinett des Dr. Parnassus

Originaltitel: The Imaginarium of Dr. Parnassus

Land/ Jahr: Frankreich/Kanada 2009

Genre: Fantasyfilm

Kinostart: 7. Januar 2010

Regie und Drehbuch: Terry Gilliam

Darsteller: Christopher Plummer, Lily Cole, Tom Waits, Heath Ledger, Johnny Depp, Jude Law

Laufzeit: 122 Minuten

FSK: ab 6

Verleih: Concorde

Vorheriger ArtikelJe nachdem ist das Glas halbvoll oder halbleer – Von der Wirtschaftspressekonferenz zur „Heimtextil“ – Serie: Die „Heimtextil“ der Frankfurter Messe vom 13. bis 16. Januar 2010 (Teil 1/3)
Nächster ArtikelDas süße Jenseits – Saoirse Ronan ist „In meinem Himmel“ in Peter Jacksons „The Lovely Bones“