Alle Tage Lieder

Kinderwagen in der Philharmonie in Berlin. © Foto: Katharina Schulze, Ort und Datum der Aufnahme: Berlin, 2014

Gemeinsames Musizieren und Singen muss man lernen. Die meisten Elternhäuser, wo hauptsächlich mit dem Player hantiert oder der Fernseher eingeschaltet wird, sehen die Schulen in der Verantwortung. Die wiederum weisen das beinahe einstimmig zurück. In Zeiten, wo nach der Schwarzen Null gestrebt wird, muss halt gespart werden »bis es quietscht« (Klaus Wowereit. Kultursenator und Regierender Bürgermeister von Berlin). So wird der Rotstift zuerst bei den musischen Fächern angesetzt. Auch Musikschulen und nicht zuletzt die Musiklehrer sind Kostenfaktoren.

Die Deutsche Orchestervereinigung hat bereits 2010 festgestellt, dass im gesamten Bundesgebiet bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts gar nicht oder nur fachfremd erteilt wird. Dirigenten und Intendanten von Berliner Orchestern und Opernhäuser, darunter Sir Simon Rattle, Daniel Barenboim, Lothar Zagrossek und Ingo Metzmacher haben immer wieder protestiert und die Erhaltung eines durchgehend verbindlichen Musikunterrichts mit jeweils 1,5 Stunden in der Woche in allen Klassenstufen gefordert. Durchaus nicht ganz uneigennützig. Denn ist auch die Musik unsterblich, die Opern- und Konzertbesucher sind es nicht. Das Ansinnen stieß auf taube Ohren.

Musiker sind Macher. Sämtliche Berliner Orchester versuchen, mit Kinderkonzerten, Konzerten für die ganze Familie, mit  Operninszenierungen speziell für ein junges Publikum oder mit Bildungs- und Förderprogrammen eine Balance zu halten. Das kann nicht genug gewürdigt werden. Wenngleich klar sein muss, dass mit all diesen Anstrengungen nur ein kleiner Prozentsatz der Kinder erreicht wird und ein kontinuierlicher Musikunterricht für alle Schüler  damit nicht ersetzt werden kann.

Und so soll hier nicht ohne Absicht zitiert werden, was Frau Prof. Monika Grütters – damals Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages –  bereits im Jahre 2009 auf einer Gedenkveranstaltung für Yehudi Menuhin festgestellt hat: »Musik ist eine starke verbindende Kraft, möglicherweise die stärkste überhaupt. Musik ist eine universelle Sprache, sie taugt nicht zur politischen Indoktrination, sie überbrückt sprachliche Barrieren und erreicht die Menschen auf der ganzen Welt und in ihrem Innersten. Eine solche Kultur, in ihrem weitesten Sinne, diese Kultur ist eben keine Ausstattung, die eine Nation sich leistet, sie ist eine Vor-Leistung, die allen zugute kommt. Kultur ist eben nicht nur ein Standortfaktor, sie ist vielmehr Ausdruck von Humanität. Ein Jammer, dass bei Geldgebern und vor allem denen in der Politik diese Einsicht nicht immer zu den notwendigen Förderentscheidungen führt”¦« Die heutige Staatsministerin für Kultur und Medien sollte härtere Töne anschlagen.

Folgt noch ein ermutigendes Beispiel: Die Berliner Philharmoniker – die Deutsche Bank macht’s möglich – riefen im Rahmen ihres langjährig erfolgreichen Educations-Programms   im Herbst 2013 ein Chorprojekt ins Leben und speziell Kinder zwischen 8 und 12 Jahren auf, sich den  »Vokalhelden« anzuschließen. Beabsichtigt war,  sowohl vor Ort Kooperationen und nachbarschaftliches Miteinander als auch die kulturelle Bildung und nicht zuletzt die Chancengleichheit  zu fördern. Fest steht, dass das Projekt – nicht nur, weil es sich auf keine bestimmte Teilnehmerzahl beschränkt,  wie die früheren Tanz-Projekte, zum Beispiel »Carmina Burana« – garantiert »nachhaltiger« ist. Ein hochmotiviertes Team von Musik-Pädagogen organisiert in den Kiezen der Kinder, in Hellersdorf, in Moabit und in Schöneberg wöchentliche Proben, die je nach Altersgruppe eine bis anderthalb Stunden dauern. Rund 150 Kinder machen bereits mit. Höhepunkt und Ziel: die musikalische Begegnung der Orchestermusiker der Philharmoniker mit den »Vokalhelden« in gemeinsamen Programmen.

Nachdem die Vokalhelden bereits beim Sommerfest auf dem Berliner Kulturforum Proben ihres Könnens hatten hören lassen, luden sie unlängst zum ersten Mitsingekonzert. Das hieß »Meine, deine – unsere Lieder. Singen ohne Grenzen«. Im  Kammermusiksaal der Philharmonie begeisterten rund 70 Sängerinnen und Sänger  ein ebenfalls junges Publikum genau so wie die Eltern und die noch Älteren. Ein schönes Selbstbewusstsein war allen anzusehen und manchen Mädchen auch, dass sie möglicherweise ein wenig zu oft Fernsehübertragungen von Castingshows gucken.  Es gelang ihnen, den Spaß , den die Kinder in anderen europäischen Ländern mit ihren Liedern haben, hörbar zu machen und – auch in fremden Sprachen – zum Klingen zu bringen. Wenngleich angemerkt werden soll, dass die Programmauswahl weniger auf Lieder speziell für Kinder ausgelegt war, sondern effektvollen Scherzliedern – zum Beispiel »Alouette«, das in Frankreich bei allen Gelegenheiten von sämtlichen Altersgruppen gesungen wird – bis zu Shanties den Vorzug gab.  Brausender Beifall – besonders auch für Judith Kamphues, die den Chor immer im Takt hielt, Peter Schindler, dem Mann am Klavier, den Philharmonikern auf und hinter der Bühne sowie dem künstlerischen Leiter Simon Halsey.

Als die Konzertbesucher sich auf den Heimweg machten, hatten sie nicht nur viele fröhliche Melodien im Kopf, sie konnten auch eine CD mitsamt Liederbuch nach Hause tragen. Die waren vom Musikverlag Carus und dem Kinderbuchverlag Gabriel in Stuttgart  rechtzeitig zum ersten großen Auftritt der Vokalhelden gemeinsam mit den Kindern und unter der musikalischen Leitung von Peter Schindler  produziert worden. Bebildert wurde das Buch vom Berliner Fotografen Jan von Holleben mit witzigen Fotocollagen, für die ebenfalls die Volkalhelden Modell gestanden, besser: gelegen hatten.

Wenn ein Verlag sich daranmacht, eine Liedersammlung für Kinder herauszugeben, weiß er, dass er damit eine beinahe unendliche Reihe verlängert. Es gibt sie längst, die »schönsten«, »tollsten«, »bekanntesten«, »besten», »ganz neuen« »kunterbunten« Kinderlieder für alle »Gelegenheiten«, »Jahreszeiten«, »Aus der guten alten« und aus der »neuen Zeit«, »Spiel- und Bewegungslieder«, »Wiegen- « und »Schlaflieder«, sogar »Lieder zum Alten und neuen Testament«. Schlag nach bei Ebay oder Amazon.

Das vorliegende Buch hebt sich heraus als erste Leistungsdokumenation eines aufregenden neuen Projekts. Zu erkennen ist jedoch auch seine deutliche Lücke: „Kinderlieder aus Deutschland und Europa“ widmet sich den Liedern, mit denen Kinder in ganz Europa groß werden – ein Lied aus der DDR ist nicht darunter. Herausgeberin Mirjam James, selbst in diesem Land aufgewachsen, sagt, es sei ihr nur eines eingefallen, dass sie noch heute mit ihren Nichten singen würde. Einen Vorschlag habe sie auch gemacht, den aber hätte der Verlag nicht akzeptiert. Ihr und auch Frau Ebinger vom Gabriel-Verlages, die bei der Buchpräsentation deutlich machte, dass aus der Weltecke nichts Bleibendes kam und die zudem kess antwortete, dem Nachfrager sei eine ganz andere Auswahl ja unbenommen, soll You Tube empfohlen sein. Da können jederzeit Mitschnitte betrachtet werden, die beweisen, wie DDR-Künstler speziell auch für und mit Kindern arbeiteten: Reinhard Lakomy mit  seinen »Traumzauberbaumliedern«, Frank Schöbel, mit dem Vorschlag »Komm, wir malen eine Sonne«, Gerhard Schöne , Gerhard Gundermann, um nur einige zu nennen, wurden von den Kleinen verehrt und geliebt mindestens so wie heute Rolf Zuckowski. Das war Volkskultur. Vieles lebt  auch im größeren Deutschland. »Sandmann, lieber Sandmann« halten viele Leute gar für ein originales West-Produkt. Das »Bummi-Lied« singen noch heute die meisten Eltern mit »DDR-Hintergrund« mit ihren Kindern, und auch in den Kitas ist es nicht vergessen. Auf You Tube ist der Hit in mehreren Varianten zu erleben. Am 4. Oktober war das Lied vom kleinen Teddybären exakt 1.656.089 mal angeklickt.

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Das Education-Team der Berliner Philharmoniker – das Fragen  zum Chor-Programm  »Vokalhelden« beantwortet  und gern Anmeldungen zum Mitmachen entgegen nimmt – ist telefonisch erreichbar unter 030 254 88 356 oder unter vokalhelden@berliner-philharmoniker.de

Kinderlieder aus Deutschland und Europa, Herausgegeben von Mirijam James. Mit einer CD zum Mitsingen von Peter Schindler. Carus-Verlag Stuttgart, 19,99 Euro

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