Zwischen den Zeiten – Katie Mitchell durchleuchtet „Die gelbe Tapete“ in der Schaubühne

Als die 1860 in Connecticut geborene Feministin Charlotte Perkins Gilman ihre Erzählung „Die gelbe Tapete“ nach vielen vergeblichen Versuchen 1892 endlich veröffentlichen konnte, ging es ihr um sehr viel mehr als die Darstellung einer Krankheit. Mit dem Bild der am Boden kriechenden Frauen protestierte Perkins Gilman gegen die untergeordnete Stellung der Ehefrauen ihrer Zeit und gegen frauenverachtende Psychiater, von denen Patientinnen nicht geheilt, sondern in den Wahnsinn getrieben wurden.

Katie Mitchell hat die Geschichte ins heutige Berlin versetzt. Auf der Leinwand oberhalb der Bühne erscheinen Videoaufnahmen einer anscheinend glücklichen kleinen Familie. Christoph hat Anna und Baby Max aus dem Krankenhaus abgeholt und zu Hause, in einer stilvollen Altbauwohnung, eine Glückwunschgirlande angebracht.

Auf der Bühne ist ein Zimmer zu sehen, das dem von Charlotte Perkins Gilman beschriebenen sehr ähnelt. Es wirkt etwas heruntergekommen, und auffällig ist die gelbe Tapete mit Pflanzenornamenten. Zu Beginn stellt Christoph Blumen auf den Nachttisch neben dem breiten Messingbett und trifft eilig letzte Vorbereitungen vor Annas Eintreffen. Erschrocken bemerkt er ein eisernes Kinderbett zwischen den beiden mit Gittern versehenen Fenstern. Er ruft das Kindermädchen zu Hilfe, weil er das Bett nicht allein wegtragen kann, und rückt es wieder an seinen Platz, als er Annas Schritte auf der Treppe hört.

Christoph ist kein autoritärer Patriarch wie John in Charlotte Perkins Gilmans Erzählung. Tilman Strauß verkörpert ihn fürsorglich und zurückhaltend. Auf den ersten Blick erscheint er als liebevoller Ehemann. Wie John ist auch Christoph Arzt. Er versorgt seine Frau mit Medikamenten und hat die Villa außerhalb der Stadt gemietet, damit Anna sich dort erholen und ausruhen kann. Da Anna sich weigert, sich um ihr Kind zu kümmern und es nicht einmal sehen will, hat Christoph ein osteuropäisches Kindermädchen engagiert, Tanja, die sich auch im Haushalt betätigt, Anna überwacht und ihr appetitlich angerichtete Speisen serviert. Gleich nach Annas Eintreffen legt Tanja mit bedeutungsvollem Blick ein Babyphon auf den Nachttisch.

Wie alle bisherigen Inszenierungen von Katie Mitchell ist auch diese Produktion eine Mischung aus Theater und Film. Kameras werden zwischen den agierenden SchauspielerInnen herum gefahren, und das Endprodukt der Aufnahmen ist auf einer Leinwand oberhalb der Bühne zu sehen.

Bühnenbildner Giles Cadle hat die gesamte Bühnenbreite für vier verschiedene Schauplätze genutzt. In der Mitte ist das Wohnschlafzimmer, in dem Anna sich immer mehr in eine irreale Welt zurückzieht. Links davon, in einer Art Kiosk, produziert Cathleen Gawlich mit etlichen Requisiten die Geräusche, lässt Wasser laufen, reibt Stoff aufeinander, wenn Anna aus dem Bett aufsteht oder sorgt mit festem oder leichtem Auftreten in unterschiedlichen Tempi für den Klang von Schritten auf der Treppe.

Rechts neben der Hauptbühne steht Ursina Lardi in einem schmalen Raum, der wie eine Telefonzelle aussieht. Sie spricht Annas Gedanken. Ganz rechts ist das Wohnschlafzimmer ein zweites Mal zu sehen, in veränderter Form, mit abgerissener Tapete, zeitweilig leer, dann mit Möbeln, die aus dem Raum in der Mitte entfernt wurden. Hier spukt auch Luise Wolfram als die Frau hinter der Tapete.

Charlotte Perkins Gilmans Erzählung war zeitweilig als Gespenstergeschichte populär. In Katie Mitchells klarer Inszenierung geht es nicht ums Gruseln, sie ist ganz auf den Leidensweg der Heldin konzentriert.

In der Textfassung von Lindsay Turner, ins Deutsche übersetzt von Gerhild Steinbuch, ist die Erzählung von Perkins Gilman nur wenig verändert. Auch wenn ein paar Mal das Wort Scheiße vorkommt, und das Geschehen durch die Kostüme von Helen Lovett Johnson und Requisiten wie Babyphon oder PC deutlich im Heute angesiedelt ist, verweist die Sprache auf die Vergangenheit. Anna, eine berufstätige Frau unserer Zeit, ist durch ihre krankheitsbedingte Ausnahmesituation ebenso eine hilflose Gefangene wie Perkins Gilmans namenlose Ich-Erzählerin es aufgrund der Rechtlosigkeit von Frauen im 19.Jahrhundert war.

Tilman Strauß als Christoph wirkt altmodisch mit seiner zurückhaltenden Förmlichkeit. Im Verlauf des Stücks erscheint er mehr und mehr als distanzierter Beobachter seiner Frau. Christoph schläft neben Anna in dem Messingbett, aber zwischen den Eheleuten entsteht keine Nähe. Den Mann stört Annas nächtliches Herumlaufen im Zimmer. Er ist müde, hat tagsüber gearbeitet und am Abend Zeit mit seinem Sohn und dem Kindermädchen verbracht.

Tanja (Iris Becher) und Christoph sind ein eingeschworenes Team, zwischen ihnen ist eine Vertrautheit spürbar, die es zwischen dem Mann und seiner Frau nicht gibt. Tanja scheint in das Baby vernarrt zu sein und kann ganz offensichtlich überhaupt nicht verstehen, dass seine Mutter es nicht sehen will. Der Ehemann und das Kindermädchen, eigentlich nur Randfiguren, werden durch die Gestaltung von Iris Becher und Tilman Strauß zu eindrucksvollen, vielschichtigen Charakteren.

Die Bühne liegt meistens im Halbdunkel. Die Aktionen sind nicht immer klar zu erkennen, oft verstellen die Kameramänner den Blick auf die AkteurInnen, und immer wieder fällt der Vorhang, so als ob die ZuschauerInnen von einem geheimnisvollen Geschehen dahinter nichts mitbekommen sollen.

Christoph schaut einmal mit prüfendem Blick durch eine Kamera. Vielleicht hat der Ehemann die Filmaufnahmen in Auftrag gegeben, weil er seine Frau als exemplarisches Beispiel für die Auswirkungen der postnatalen Depression sieht, ein Objekt, hervorragend geeignet für die Dokumentation, die auf der Leinwand zu sehen ist.

Judith Engel als Anna spielt eine vorwiegend stumme Rolle. Am Anfang sagt sie, kaum verständlich, ein paar Worte. Danach fällt sie in ein Schweigen, das dennoch sehr beredt, manchmal fast geschwätzig, ist.

Charlotte Perkins Gilmans Heldin schreibt ihre Gedanken auf. Katie Mitchell verschafft Annas Gedanken Gehör, gibt ihnen eine fremde Stimme, die jedoch, trotz räumlicher Entfernung, aus Annas Kehle zu kommen scheint.

Das Zusammenwirken von Judith Engel als Akteurin und Ursina Lardi als Sprecherin ist grandios. Jede Veränderung in Annas Gestik und Haltung findet ihre Entsprechung im Tonfall und in der Ausdrucksweise ihrer Gedankenstimme.

Judith Engel gestaltet Annas Krankheitsausbruch zunächst durch hochgezogene Schultern und verkrampfte Bewegungen. Danach verändert sich auch Annas Mimik, ihre Gesichtszüge verspannen sich, ihre Augen werden schmal. Sie sieht böse, fast heimtückisch aus, während ihre Gedankenstimme nicht mehr freundlich über den Ehemann spricht, sondern Christoph und Tanja zu Feinden erklärt, von denen Anna sich verraten fühlt.

Den Schluss der Erzählung hat Katie Mitchell in ihrer Inszenierung abgeändert. Anna verfällt nicht endgültig dem Wahnsinn und kriecht am Boden wie die Frauen, die sie durch das Abreißen der Tapete befreit zu haben meint. Anna findet hinter der Tapete eine Geistesverwandte, eine schöne Frau aus der Vergangenheit (Luise Wolfram), durch die Anna ein schwermütiges Gedicht von Emily Dickinson wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Die Frau kriecht nicht. Sie geht aufrecht, hebt Anna vom Boden auf, umarmt sie und führt sie in den Tod. Dieses Ende ist wohl eine Anspielung auf Charlotte Perkins Gilman, die wegen eines unheilbaren Krebsleidens Selbstmord beging.

Katie Mitchell hat „Die gelbe Tapete“ auf faszinierende Weise neu interpretiert und mit einem großartigen Ensemble eine Aktualisierung auf die Bühne gebracht, in der die Vergangenheit immer noch lebendig ist.

„Die gelbe Tapete“ nach Charlotte Perkins Gilman hatte am 15.02. Premiere an der Schaubühne am Lehniner Platz. Nächste Vorstellungen: 09., 10. und 31. März und 01.04.2013.

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