Und das sind rasante Bilder, wie „Frauen auf der Straße“ von 1915 oder „Zwei Frauen auf der Straße“ von 1914 oder „Friedrichstraße, Berlin“ von 1914, auch Berliner Straßenszene (1914). Das alles sind tolle Bilder, die ephemer wirken und es ja auch sein sollen, Momente eines flüchtigen Großstadtlebens, Angebote von käuflicher Lust, die sich mit Strenge paart, denn die Damen schreiten durchaus als Dominas vorbei, selbstsicher und ein wenig angsteinflößend. Ob unsere Identifizierung mit dem Weiblichen der Grund dafür ist, daß wir den anderen Strich, den runden wonnigen noch mehr goutieren? In Deutschland malte niemand so volle runde Brüste wie Kirchner und eigentlich muß man das einschränken, denn er hat bei den Damen eine Menge von Lovis Corinth gelernt, dessen „Salome“ noch sinnlicher, aber auch leicht somnambul erscheint, während diese rund geformten Weiblichkeiten von Kirchner, naja nicht so richtig keusch, aber doch ohne jeglichen Hautgout einfach natürlich und schön sind.
Der „Halbakt mit erhobenem Armen“ von 1910, der in Bern zu Hause ist, hat eher kühle Farben im Hintergrund und wirkt dennoch leiblich-lieblich im hellen leicht bläulichen Fleischton. Eine Vorzeigehaltung für Damen jeglichen Alters, um Brüste besonders sinnlich zu präsentieren, diese junge Dame aber ist einfach mit dem Haaraufstecken beschäftigt. Nichts Schwüles haftet dem Bild an. Das ist bei den „Drei Akte auf schwarzem Sofa“ um 1910 gemalt und ebenfalls aus der Schweiz, schon eindeutig anders, also zweideutig. Denn die drei Schönen verteilen sich auf der Lagerstatt, dem schwarzen Sofa, ein wenig eigenartig. Hingebreitet liegt die eine, die ihre Rechte über der Brust so kreuzt, daß nur die linke Brust, diese aber in voller Pracht zu sehen ist. Die mittlere, mit dem starken Rouge auf den Wangen, hat ebenfalls ihre Rechte über die Brüste geführt, aber diese hängen schwer und voll und auseinanderstrebend unter dem Arm durch und ihre weite und weiße Spitzenunterhose steht im Kontrast zu den schwarzen Strümpfen, die mit Gummis weit oberhalb der Knie an den Oberschenkeln gehalten werden und so den Blick nach oben auf die nackten Teile freigeben. Ihr Gesicht aber, das ist eher mißmutig zur Seite gedreht, so daß sie im Profil erscheint. Davon hebt sich die Dritte im Bunde, eindeutig die Jüngste, hervor. Keck blickt sie uns im Siebenachtelporträt an, hat dafür ihren Körper mit den analogen Spitzen ab der Taille zur Seite gedreht, so daß wir nur eine sanft gerundete Brust mit roter Brustwarze erblicken. Da fragen wir nun nicht weiter, was die Damen hier tun. Sich ausruhen, davor oder danach?
Paradebeispiel für die runden Brüste ist auch das Frankfurter Vorzeigebild „Varieté“, das 1909 gemalt wurde und von Kirchner um 1926 noch einmal bearbeitet wurde. Weit schwingt der Rock beim Tanz mit dem Gentleman und läßt die weiße Spitzenunterwäsche blitzen. Der Partner dreht sie zur Pirouette, was später beim rock’n roll beliebte Figur wurde. Die Brüste sind beim Drehen an der hochgereckten Hand aus dem Mieder gerutscht, wenigstens zu mehr als der Hälfte, was zum Schwung des Bildes einfach dazugehört. Sinnbild der in Großstädten in Etablissements zivilisierten Lebenslust. In „Frauen im Bade“ erinnert die Formation der fünf Frauen an die Menschenleiberarchitektur von Cezanne, aber wie rund und lieblich malt Kirchner diese. Wo der französische Meister wuchtig und mit Bedacht nur Formen malt, dies allerdings faszinierend, da bildet Kirchner Frauenleiber ab.
Das in der Frankfurter Ausstellung erstmals vereinte Triptychon „Badende Frauen“ aus dem Jahr 1915/1925 – der linke Teil zeigt eine Nackte von vorne, ist sonst in Bern, das mittlere Bild hängt im Kirchner-Museum in Davos und der rechte Flügel kommt aus Washington – zeigt zu den runden Formen der weiblichen Brüste und Hintern auch noch ein neues Inkarnat. War dieses sonst hell, oft leicht bläulich, sogar grünlich, ist nun die Fleischfarbe sonnengebräunt leuchtend. Drei Nackte entsteigen im Mittelteil dem Bottich, alle mit rötlichen Haaren, die erste hat schon das Handtuch griffbereit und den Fuß auf dem Boden, die beiden anderen sind in der Wanne schon aufgestanden. Die Nackte im linken Seitenteil hat auf interessante Weise ihren linken Arm hinter dem Rücken zum rechten Arm geführt und diesen umklammert. So sehen gymnastische Übungen aus.
Noch ungewöhnlicher ist allerdings die rechte Tafel. Denn da sieht man eine Frau von hinten, man sieht die überkreuzten Beine mit den Hacken, man sieht die prallen Pobacken, die aus kräftigen Schenkeln erwachsen und in die Rückenfront und das Rückgrat übergehen, aber dann? Da stimmt doch etwas nicht? Dann greifen die Arme wie von vorne nach einem weißen Kleidungsteil, so als ob man es über den Kopf stülpen möchte; der Kopf selbst ist seitlich gedreht und sieht aus, wie von vorne gemalt. Nur, da ist kein weibliches Oberteil, da sind keine Brüste, da ist eindeutig der Rücken mit den beiden Illiosakralgelenken und einer auffälligen Betonung der Wirbelsäule mit roter Linie, als ob dort eine Operationsnarbe verliefe. Ein rätselhaftes Bild, zu dem einem keiner eine Erklärung gibt, weshalb man sich selbst eine zusammenreimt und vermutet, da habe der Maler seinen Überarbeitungsprozeß von 1925 nicht zuende geführt und aus einer Vorderseite (jetzt noch Kopf und Arme) eine Rückseite gemacht. Unvollendet eben. Auf jeden Fall gehören die fünf Nackten des Triptychons zusammen, das ergeben die Farben und Farbflächen im Hintergrund.
Damit sind die runden Brüste noch lange nicht am Ende. Aber wir. Was wir hier beispielhaft zeigen wollten, ist, wie allein dieses eine Thema schon Seiten füllt, dabei geht es in der Ausstellung um so sehr viel mehr. Denn sie führt tatsächlich alle Lebens- und Werkphasen an geeigneten Beispielen vor, so daß man nach dem Besuch sich ein ganzes Leben eines bedeutenden Malers – mit Max Beckmann und dem frühen Otto Dix sicher der bedeutendste des 20. Jahrhunderts – einverleibt hat, was ein gutes Wort für einen Vorgang des Sehens ist, bei dem es vorwiegend um Leiber geht. Vorwiegend, aber nicht ausschließlich. Denn das, was uns Kurator Felix Krämer zeigen will, ist eine Versöhnung mit der späten Phase, mit den Bergwelten in Lila und Grün und Gelb dazu und insbesondere dem „neuen Stil“. Der allerdings ist in seiner Abstraktion und Form- und Farbgebung wirklich das ganz Neue. Zum einen erinnert er an die Ausschneidearbeiten des Matisse – übrigens auch ein begnadeter Frauenkörpermaler -, aber auch an das triadische Ballett des Oskar Schlemmer. Das alles ist uns so neu, daß wir uns damit ein andermal beschäftigen wollen. Diesen Kirchner sollte man nicht versäumen.
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Ausstellung: Kirchner im Städel bis 25. Juli 2010
Katalog: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive, Hatje Cantz 2010. Museumsleiter Max Hollein hat das Vorwort geschrieben und Kurator Felix Krämer schreibt den Zwiespalt so mancher auf, in „Im Widerspruch. Ernst Ludwig Kirchner“, und liefert damit eine an der Biographie orientierte Werkbeschreibung gleich mit. Es folgen die ganzseitigen Abbildungen im Tafelteil, die mit verbalen Einführungen unterteilt sind in die Werkphasen: Die frühen Jahre, Der Expressionismus in Dresden, der in Berlin, Krieg und Zusammenbruch sowie ’Bergwelten. Kirchners erste Jahre in Davos`. Thomas Röske zeichnet die Frankfurter Jahre von Kirchner nach und zwei weitere Essays beschäftigen sich mit den Paaren in Kirchners Bildwelt und den Arbeiten auf Papier.
Kunst zum Hören: Kirchner, Hatje Cantz 2010
Diese gute Idee, anhand einer CD zu hören und dabei die Bilder abgedruckt vor sich zu sehen, haben wir schon oft von der Wirkungsweise her besprochen. Deshalb hier nur das Spezifische zu Kirchner. Die CD lehnt sich an die Katalogeinteilung an, die sich wiederum an der Ausstellung orientiert. Das heißt, auch hier beginnt es mit „Kirchner im Blick“ und drei ausgewählten Werken: „Selbstbildnis mit Mädchen (Doppelbildnis mit Erna)“ von 1914/15, „Kopf des Kranken von 1918“ und „Vor Sonnenaufgang“ 1927“. Die frühen Jahre werden von drei Bildern repräsentiert, von 1905 bis 1909 und es ist ein nachvollziehbares Konzept, daß die Werkphasen je nach Bedeutung durch die Anzahl der besprochenen Gemälde berücksichtigt werden, d.h. daß dem Expressionismus in Dresden und Berlin die meisten Besprechungen zustehen. Nur dort findet sich neben den Gemälden auch die Skulptur „Traurige Frau“ von 1921 und „Sitzendes nacktes Mädchen“, als Pinsel in schwarzer Tusche auf Karton. Eine weitere Skulptur findet sich später in „Bergwelten“, nämlich „Mutter und Kind“ von 1924. Diesmal haben wir die Erfahrung gemacht, daß man die Texte sehr gut wiederholt hören kann, denn es ergeben sich Passagen, von denen man geschworen hätte, man kennte sie nicht, muß sie aber gehört, besser ’überhört` haben.
Der Verlag Hatje Cantz hat zudem ein vom Städel und der Ausstellung unabhängiges Buch „Ernst Ludwig Kirchner. Ein Künstlerleben in Selbstzeugnissen“ herausgebracht, das von Andreas Gabelmann verfaßt wurde und von Margarethe Hausstätter gestaltet wurde. Das Motto: „Ich muß zeichnen bis zur Raserei“ zeigt den überempfindlichen Künstler. In Briefen, Tagebuchnotizen und Schriften Kirchners zeigt dieser, wie er selbst wahrgenommen werden will. Die meisten Kunstkritiken haben ihn bis aufs Blut gereizt und er scheute sich nicht, eigene zu schreiben, natürlich unter anderem Namen. Das Buch ist eine hilfreiche Ergänzung zur gegenwärtigen Kirchner-Retrospektive, aber auch sonst gut für die eigene Bibliothek. Besonders anrührend die Schwarzweiß-Fotografien aus dem Atelier, also auch mit seinen Modellen, oder dem Haus und den Schweizer Bergen.
Internet: www.phaenomen-expressionismus.de, www.kulturfonds-frm.de, www.staedelmuseum.de