Nur ein kleiner Kreis aus Insidern, Radsport-Organisatoren und Anhängern sowie aus den Medien hatte sich am Abend in der Landesvertretung des Freistaates Thüringen eingefunden. Anlaß war ein Podiumsgespräch zum Thema: „Botschafter des Sportlandes Thüringen. Hier haben Herz und Leidenschaft Tradition.“
Beteiligt neben den Radstars als Gastgeber Jürgen Gnauck, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Chef der Thüringer Staatskanzlei, Jörg Werner, Manager des Thüringer Energie-Radsportteams, sowie als Moderator Marc Bator, Ex-Nachrichtensprecher bei der ARD, nun Sat 1/Pro7. Zuerst führte der Hamburger Radsport-Fachmann Bator Regie im Frage-Antwort-Spiel. Danach waren „Fragen aller Art“ aus dem Publikum zugelassen und erwünscht…
Eingangs begründete Minister Gnauck, der sich übrigens als Tischtennis-Funktionär outete, die Veranstaltung mit dem Hinweis, dass man so mal aufmerksam machen könne, Thüringen sei nicht nur wegen des Wintersports ein Sport-Land. Vor allem der Radsport sei eine Erfolgsgeschichte: Durch 13 Radwege über 1500 km. Durch die Burgen-Rundfahrt (40. Auflage 2013) mit mehr als 245 000 Teilnehmern. Oder durch frühere Radsport-Größen wie Olaf Ludwig, Mario Kummer oder Jens Heppner…
Zwei der heutigen Erfolgsgaranten waren anwesend und sind über das Erfurter Sportgymnasium ihren Weg bis in die Weltspitze gegangen. Wie auch John Degenkolb, Spezialist für Eintages-Klassiker, 5-facher Etappengewinner 2012 bei der Spanien-Rundfahrt. Beim Übergang von den Junioren zu den Senioren half das Föderprojekt Thüringer Energie Team für U 23 Fahrer. Daraus wurde die heutige Team-Spirit GmbH unter Werner. Und erfüllen in unterschiedlichen Rennställen ihre nunmehrigen Profiverträge: Team Argos-Shimano (Kittel, Degenkolb), Omega Pharma – Quick Step (Martin). Selbstbewusst, locker und smart präsentierte sich das Erfolgsduo.
Das Neueste vom 28-jährigen Martin, in Cottbus gebürtig, dann nach Mauerfall mit den Eltern in Hessen Radsport-Anfänger und auf die Talentschmiede nach Erfurt gewechselt: Hand-OP gut überstanden, wobei ein Stück Knochen aus dem Becken als Hand-Kahnbeim verpflanzt wurde. Rund 35 000 Trainingskilometer im Jahr. Wahnsinns-Übersetzung von 58:11 (der Brite Froom/Tourgewinner vorn drei Kränze weniger). Nein, wird seine herausragende Qualitäten im Zeitfahren nicht dadurch aufgeben, dass er Gewicht und Kraft zugunsten von Rundfahrt-Siegchancen reduziert. Will aber „natürlich“ die Chancen bei Rundfahrten und Bergetappen ausbauen. Eine Lieblings-Mehretappen-Fahrt bleibt die Peking-Rundfahrt. Beim dritten WM-Triumph in Serie in Florenz im Schnitt 440 bis 450 Watt auf die Pedalen gebracht, was einen Durchschnitt von rund 53 km/h auf einer flachen Strecke ergab! Ziele 2014: Titelverterteidigung Zeitfahren und Tour de France (bislang 2 Zeitfahr-Siege). Martin wünschte als Thüringens Sportler des Jahres 2012, „dass diesmal Marc Kittel die Ehrung bekommt. Vier Etappen siege bei der Tour, erster Thüringer dort in Gelb und weitere großartige Leistung – er hat diese Auszeichnung verdient“.
Das Neueste vom blonden Charming Boy Kittel (25, 1,88 m, 85 kg), unterhaltsam, witzig: Ja, noch immer bekomme er Gänsehaut, wenn er sich seine Zielsprints bei der Tour anschaue. Ja, er sei als Junior zweimal Weltmeister im Zeitfahren gewesen. Die Ausdauer-Grundlage scheint sein Plus am Ende langer Tour-Abschnitte. Aber als Junior zugleich sehr erfolgreich bei Kriterien und Sprints. Vater war Radsportler, Mutter Leichtathletin. Mit 13 entschied sich Filius gegen die „langweilige“ Leichtathletik. Erreicht im Sprint Geschwindigkeiten bis um die 70 km/h. Das übe eine magische Faszination aus. Lebe nach der Saison vier bis fünf Wochen „ganz normal“: Auch mal mit einem Bierchen oder Glas Wein, und leckerer Nachspeise. Ziele 2014: Mindestens eine Etappe bei der Tour gewinnen und das Zeile in Paris erreichen!
Unvermeidlich das Dauerthema Doping im Radsport: Minister Gnauck meint, dass die Verträge mit Rückzahlklauseln und die Sanktionen eine wichtige Grundlage dafür seien, dass nicht zu verbotenen Mitteln gegriffen werde. Er vertraue dem öffentlichen Schwur, der drei Erfurter für sauberen Radsport.
Kittel sagt, das Dopingproblem sei ein Erbe vorheriger Sportler-Generationen. Als die Skandale 2006/2008 bekannt wurden, habe er gedacht, diesen Sport nicht weiter zu betreiben. Aber Eltern und Bekannte hätten ihn bestärkt weiter zu machen.
Martin auf die Bators Frage, wie sauber heute der Radsport oder das Tourfeld seien: Für die anderen möge er die Hand nicht ins Feuer legen. Aber Degenkolb, Kittel und er hätten sich verpflichtet, sauber um Erfolge und Siege zu fahren. „Ich denke, der Großteil des Feldes greift nicht zu verbotenen Mitteln. Bei manchen Bergetappen allerdings kommen schon paar Zweifel.“ Das Ausdauer-Dopingmittel epo solle bis zu 20 Prozent Leistungszuwachs bringen: „Wir versuchen Reserven anderer Art zu erschließen – Topmaterial, Räder, Helme, intensive Vorbereitung.“
Und der Macher Jörg Werner, Manager, Trainer, Betreuer, verweist darauf, dass die Ergebnisse seiner Schützlinge ein Indiz wären, dass Doping im Radsport insgesamt stark rückgängig sei: „Denn sonst wären unsere Erfolge so wohl nicht möglich gewesen.“ Den Aufstieg seiner Gruppe erklärt er mit systematischer Nachwuchsarbeit, dem optimalen Umfeld am Sportgymasium, der Verbindung von Sport und Schule, dem Modell U 23 zum Anschluss an den Profistatus und der dualen Ausbildung. Martin hat nebenher den Abschluss als Polizeimeister gemacht, während Kittel sein Studium („leider“, sagt er) nicht beendet hat. Werner: „Wir legen Wert auf Berufsabschlüsse, denn auch das ist Präventation gegen Doping. Sie wissen, dass sie für das Leben nach der Karriere eine Basis haben.“
Was sie alle momentan als bedauerlich empfinden, ist der Verlust der öffentlichen Anerkennung wegen der Dopingfälle. Dass die öffentlich-rechtlichen ARD/ZDF mit der Tour von einem der größten Sportereignisse nicht berichten. Und dafür drittklassiges Boxen oder Fußball der dritten Liga dem Gebührenzahler vorsetzen, sei „nicht nachvollziehbar“. Bator deutete an, denkbar wäre demnächst ein Einsteigen von Privatsendern…
Kittel und Martin konkurrieren übrigens nicht nur bei der Wahl Thüringens zum Sportler des Jahres. Der Deutsche Sportjournalisten-Verband (VDS) hat sie auf seine Kandidatenliste für das Deutschland-Votum der besten Sportler gesetzt.