Wie TT-Jurorin Ulrike Kahle-Steinweh mitgeteilt hatte, waren bei der diesjährigen Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen die schauspielerischen Leistungen besonders berücksichtigt worden, und es waren vor allem die Frauen, die auf der Bühne triumphierten: Constanze Becker, Lina Beckmann, Julia Häusermann, Sandra Hüller, Annette Paulmann, Wiebke Puls oder Julia Wieninger.
Bemängelt wurde das angebliche Fehlen von bemerkenswerten Regiekonzepten. Das Jubiläumsprogramm des TT war bestimmt von Klassikern und Klassikern der Moderne, die jedoch nicht aktualisiert und auf gegenwärtige Probleme abgeklopft waren. Im Zentrum der meisten Inszenierungen standen nicht Themen, sondern lebendige Menschen mit ihren vielfältigen, widersprüchlichen Beziehungen zueinander.
In Michael Thalheimers Inszenierung erscheint Medea befreit von konstruierten Rechtfertigungsversuchen. Sie ist eine Einsame, gefangen in ihrem Hass und der mörderischen Logik ihres Tuns, unerreichbar sowohl für Mitleid als auch für vorschnelle Verurteilung.
Die Gestalt der Frau John in Gerhart Hauptmanns 1911 uraufgeführter Tragikomödie „Die Ratten“ ist durch unzählige Interpretationen und Missgestaltungen inzwischen so unter Klischees und Volkstümeleien begraben, dass ihre Präsentation nur noch ironisch verfremdet möglich zu sein scheint. Lina Beckmann mit ihrer wahrhaftigen Darstellung erschafft diese Figur ganz neu. Die grandiose Schauspielerin verleiht jedem Wort und jeder Geste unvergleichbare Einzigartigkeit. Lina Beckmanns Frau John ist warmherzig und pragmatisch, hilfsbereit und zupackend, aber auch getrieben von ihrer Sehnsucht und eingeschlossen in ihre Einsamkeit.
Die Figur entsteht vor den Augen des Publikums, das zu Beginn durch den Bühneneingang geführt wird, lange Gänge entlang zu einer Tribüne auf der Bühne. Bei seinem Eintreffen sind die Vorbereitungen für die Vorstellung noch im Gange. SchauspielerInnen fahren Garderobenständer herum oder kostümieren sich. Lina Beckmann gibt das Zeichen zum Anfang und ist dann, ganz unspektakulär, Frau John, die kinderlose Mutter.
Die ZuschauerInnen werden nicht zum Mitspielen aufgefordert, sie sind gewissermaßen stille BeobachterInnen hinter den Kulissen, und sie sehen das Stück aus der Perspektive von Frau John, die überdeutlich im Mittelpunkt des Stücks steht.
Anfänglich zieht Lina Beckmann, auf halbdunkler Bühne, mit beiden Händen eine an einer Schnur herunterhängende Lampe über ihren Kopf. Später steht Frau John fast immer im Licht, zeitweilig trägt sie eine Krone aus Pappe. Mehrfach ist sie ganz allein, während das Ensemble in großem Abstand um sie herum wuselt, dann wieder wird sie bedrängt .Alle fordern Aufmerksamkeit und Hilfe von ihr und begreifen nicht, dass die starke Frau John selbst auf Hilfe angewiesen wäre, weil sie den Tod ihres Kindes nicht verkraftet hat.
Die unterschiedlichen Darstellungsstile des Ensembles demonstrieren die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen der Frau John. Ihre Bezugspersonen sind ihr Mann, ihr Bruder und die kleine Selma Knobbe. Die Gesellschaft um den verkrachten Theaterdirektor Hassenreuter ist eine fremde, künstliche Welt für Frau John. Den irrealen Kunstfiguren ordnet sie auch die Piperkarcka zu, denn deren Kind, mit dem Frau John ihr verstorbenes Baby ersetzt, muss ihr eigenes sein und darf keine andere, real existierende Mutter haben.
Infolge des verzweifelten Versuchs, das Unglück auszulöschen, das sie nicht akzeptieren kann, zerstört Frau John die Bindungen, die ihr Leben ausmachen. Sie wendet sich von der vernachlässigten Selma ab, wird mitschuldig daran, dass ihr Bruder zum Mörder wird und, was das Schlimmste für sie ist, sie belügt ihren Mann.
Pauline Piperkarcka, die unglückliche Polin, von Gerhart Hauptmann mit Ausrufen wie „Trefft, wem trefft!“ ausgestattet, die, ernst genommen, unfreiwillig komisch wirken, ist in Karin Henkels Inszenierung eine schrille, chaotische Person. Lena Schwarz spielt sie, wie auch Hassenreuters aufmüpfige, lustvoll verliebte, Tochter Walburga.
Es ist alles Theater, und York Dippe als Harro Hassenreuter, Patriarch mit Doppelmoral, spielt sich als dominanter Regisseur auf, der Pauline Piperkarcka in korrekter Ausdrucksweise zu unterrichten versucht und am Schluss die tot am Boden liegende Frau John dekorativ mit Blut übergießt.
Theaterprobleme werden auf die Schippe genommen. Der Dialog zwischen Jan-Peter Kampwirth als lispelndem Schauspieldilettanten Spitta und Hassenreuter könnte so in den 1970er Jahren stattgefunden haben. Jan-Peter Kampwirth gestaltet auch Frau Johns kriminellen Bruder Bruno als armseligen, tückischen Kleinkriminellen.
Gleich drei Frauen mit fragwürdigem Lebenswandel (Alice Rütterbusch, Sidonie Knobbe und Frau Hassenreuter) verkörpert Kate Strong. Nach der Pause eröffnet sie den zweiten Teil des Stücks mit einem furiosen Solo in englischer Sprache, in dem sie fluchend und mit vielen Kraftausdrücken den Abstieg einer Drogensüchtigen anschaulich macht.
Eine sehr anrührende Gestalt ist Jennifer Franks verdruckste, tieftraurige Selma Knobbe. Außerdem im Einsatz ist Jennifer Frank als munter bellender Hund sowie als eine der drei Amtspersonen des Stücks, Frau Kielbacke, die nur leicht irritiert ist, als auf ihrem Arm das Kind der Frau Knobbe stirbt.
Die beiden anderen Amtspersonen gestaltet Michael Weber. Er trägt einen Ballettrock, den er als spionierender Hausmeister Quaquaro mit einem grauen Kittel, und als begriffsstutzig autoritärer Schutzmann mit Uniformjacke und Pickelhaube, ergänzt.
Bernd Grawert ist ein erschütternder Paul John, ein rechtschaffener Mann, fleißiger Mann, der seine Frau aufrichtig liebt und ihr auch Verständnis entgegenbringt. Sein Horizont ist jedoch zu begrenzt, als dass er begreifen könnte, wie krank seine Frau ist.
Die wunderschönen, historischen Kostüme und Kostümteile, mit denen Klaus Bruns das Theatervolk ausgestattet hat, leuchten auf Jens Kilians schwarzer, leerer Bühne, dem Dachboden, auf dem heimlich geliebt und heimlich geboren wird. Klappen in den Wänden öffnen sich zu Schlupflöchern, in denen die armen Leute hausen. Einmal wird ein schmaler Turm herein gefahren. Unten ist die enge Küche von Frau John mit einem Kreuz an der Wand, von oben, über die Treppe zum Boden, purzeln die Theaterleute herunter.
Alle in dieser Inszenierung sind immerzu beschäftigt. Wenn sie nicht agieren, finden sie sich zu begleitender musikalischer Darbietung zusammen. Alle haben schwerwiegende Probleme oder große Pläne, und so geschieht der Untergang der starken Frau John für alle Anderen ganz plötzlich und unerwartet.
Karin Henkel hat mit einem wundervollen Ensemble einen großartigen, sinnlichen Theaterabend geschaffen, der unter die Haut geht.
Beim Theatertreffen 2012 vermisst wurde Sebastian Nüblings Inszenierung „Three Kingdoms“, die dann als Highlight der Autorentheatertage im DT zu erleben war. Zum Jubiläum präsentierte das TT nun „Orpheus steigt herab“, von Sebastian Nübling an den Münchner Kammerspielen in Szene gesetzt.
Das Stück von Tennessee Williams, 1956 uraufgeführt, seither nur selten gespielt, wurde auch als Film unter dem Titel „Der Mann mit der Schlangenhaut“, mit Anna Magnani und Marlon Brando, kein großer Erfolg.
Sebastian Nübling hat das Stück entstaubt, von Kitsch, damit aber auch von seiner Poesie, befreit und mit einer nostalgischen Sensation versehen: Ein Kettenkarussell hängt kopfüber vom Schnürboden herunter. Zunächst ist es noch unfertig. Während der Vorstellung montieren die Gemischtwarenhändlerin Lady Torrance und der Nachtclubsänger Val Xavier Glühbirnen und Sitze und bringen die Jahrmarktsattraktion leuchtend und blinkend in Fahrt.
Ein weiterer Blickfang ist das Motorrad, das einige Male Kreise auf der riesigen Bühne der Berliner Festspiele fährt. Auch das, aber vor allem das Kettenkarussell begeisterte das Publikum. Durch das Gestänge schwingt sich Risto Kübar wie ein Zirkusartist, und auch Wiebke Puls als Lady Torrance beweist Körperbeherrschung und Eleganz. Zwei Menschen, denen die Bodenhaftung fehlt, so leicht, dass die Luft sie trägt.
Val ist in einer spießigen Kleinstadt gestrandet, herabgestiegen wie Orpheus in die Unterwelt. Die Ungeheuer kann er nicht besänftigen, aber die Außenseiterinnen fühlen sich magisch angezogen von ihm. Zwischen Val und Lady Torrance entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Gefühle offenbaren sich jedoch ausschließlich bei Lady Torrance.
Wiebke Puls gibt sich anfänglich ruppig und abweisend, zeigt dann jedoch mehr und mehr ihre Sehnsucht nach Zuwendung und Zärtlichkeit, die Lady Torrance nach einer schmerzlichen Enttäuschung und in der Ehe mit einem brutalen Mann, der nun im Sterben liegt, tief in sich vergraben hatte.
Risto Kübar wirkt nahezu unbeteiligt. Er sieht hübsch aus, bewegt sich mit tänzerischer Anmut und spricht ausdruckslos in gebrochenem Deutsch, gelegentlich auch englisch oder estnisch. Dieser Val ist eher eine Projektionsfläche als ein Verführer. Seine Songs singt er nicht für Lady Torrance, sondern haucht sie fürs Publikum ins Mikrofon. Vielleicht ist er gar nicht real, sondern nur ein Traum der einsamen Lady.
Im Reich der Schatten sind auch die Bösen nur schwach konturiert. Dicke Männer stehen breitbeinig, unbeholfen da. In der Ferne bellen vereinzelte Hunde, und der artige Dobermann, der an der Leine hereingeführt wird, zeigt seine Zähne zu einem freundlichen Lachen.
Während Sylvana Krappatsch als verzweifelt rebellierende Carol Cutrere vor allem nervtötend kreischt, setzt Annette Paulmann erfreuliche Akzente. Das böse Getratsche von Beulah Binnings wird bei Annette Paulmann zum Kabarett, bei dem sie Pointen aus dem Text zaubert wie die Luftballons aus ihrem Décolleté. Später, als Schwester Porter, beim Schlagabtausch mit Lady Torrance, eine der wenigen hochspannenden Szenen des Stücks, präsentiert sich Annette Paulmann genüsslich mit heimtückischer Überlegenheit und pfeift dabei so melodiös wie dereinst Ilse Werner.
Eine wirklich bemerkenswerte Insznierung, unvergesslich – vor allem wegen des Kettenkarussels.