This is Russia – Notizen eines Eishockey-Torwarts als sportlich-gesellschaftliches Zeitdokument

© Bernd Brückler
Dennoch hat er etwas vollbracht, was ihn heraushebt in der Welt der Eishockey-Profis: Zusammen mit dem finnischen Journalisten Risto Pakarinen hat er ein Buch verfasst, dass über den Eishockey-Horizont hinaus als zeitgeschichtliches Dokument zu sehen ist: This is Russia”¦
Der Halbsatz beschließt Schilderungen von Zuständen oder Erlebnissen, wenn diese aus Sicht eines Mitteleuropäers fremd erscheinen. Brückler findet dabei eine Tonlage, die derzeit im Umgang des Westens mit Russland selten anzutreffen ist: Unvoreingenommen, interessiert und nie geringschätzig!

Vermutlich ein Resultat seines Werdegangs: Bis 20 begeisterter Eishockey-Goalie in Austria. Dann der Sprung über den großen Teich in einen anderen Kontinent, andere Kultur, andere Lebensweise. Doch der Traum von einer NHL-Karriere in Nordamerika erfüllt sich nicht. Es bleibt bei einem Draft für Philadelphia Flyers. Brückler geht zurück nach old europe und heuert in Finnland bei Espoo an.

Dort lernt er seine spätere Frau Veera kennen, macht einen guten Job und erhält lukrative Angebote aus der russisch-dominierten Kontinentalen Hockeyliga (KHL). Die wurde 2008 gegründet und stieg mit enormen finanziellen Möglichkeiten zur zweitstärksten nach der nordamerikanischen NHL auf. Der Eishockey-Globetrotter aus Graz ist insgesamt drei Jahre für Torpedo Nischni Nowgorod und Sibir Nowosibirsk aktiv.

Über seine Motive lässt er keine Zweifel: „Für mich als Österreicher war das Geld der Hauptgrund in der KHL zu spielen.“

Dass ihn aber auch Neugier und Entdeckerlust zu diesem Abenteuer getrieben haben, verrät sein Hinweis: „Wir waren total offen, haben Russisch gelernt, nette Leute kennengelernt und nach Möglichkeit Sehenswürdigkeiten angeschaut.“ Wir bedeutet zusammen mit Veera.

Seine kommunikative Art hat dazu geführt, dass er in einer Zeitung einen regelmäßigen Blog verfasste über das Leben als Ausländer in Russland. Zudem begann er gleich nach Jobantritt mit tagebuchähnlichen Notizen. Daraus wurden am Ende Aufzeichnungen auf rund 300 DIN A 4-Seiten. 

Die hat er dem finnischen Journalisten und Eishockey-Fachmann Risto Pakarinen zur Verfügung gestellt, inklusive mehrtägiger, intensiver Gespräche.

So erklären sich Dichte und Authenzität des Buches. So sind eine Fülle von Fakten, Daten, Zahlen und historischen Bezügen verständlich. So wird klar, warum es nicht nur ein update über KHL und Eishockey, sondern zugleich Zustandsbeschreibung von Land und Leuten geworden ist.

Ein Land, das unter den Zaren lange von der Entwicklung in Europa abgekoppelt war.

Gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich. Dass dann mehr als sieben Jahrzehnte einen völlig anderen Weg der Gesellschafts- und Staatsform als der Rest der Welt gegangen ist. Doch Diktatur des Proletariats, Einparteiensystem, sozialistischer Kommunismus erwiesen sich nach Glasnost, Perestrojka als gescheiterte Utopie.

All das hat Spuren hinterlassen. So vermischen sich nun postsowjetische Überbleibsel und Traditionen mit aktuellem Raubtierkapitalismus. Stichwort Oligarchen und Milliardäre. Der Alltag bietet Strukturen und Gepflogenheiten, die drei Worte verdeutlichen: This is Russia”¦

So können ausländische Arbeitnehmer nicht auf Anhieb – im flächenmäßig größten Land der Welt – ein Bankkonto eröffnen. Das führt bei Brückler dazu, dass ein erstes Monatshonorar von 60 000 Dollar in 100-Rubelscheinen bar ausgezahlt wird. 100 Rubel entsprachen drei Dollar. Wie also schafft man 20 000 Rubelscheine möglichst unauffällig und gefahrlos zur Bank?

Juri, Fahrer, Fremdenführer und Bodyguard, wählt die Under-Cover-Variante: Alles in einen großen Plastik-Müllsack und dann ab zum Bankschalter!

Warum die KHL binnen kurzem Topspieler aus Europa magnetisch angezogen hat, erklärt sich vor allem aus günstigen Steuertarifen. Der Steuersatz beträgt anfänglich 30 Prozent, sinkt dann aber auf 13 – in der NHL sind 38 Prozent abzuführen.

Zwar existiert eine Gehaltsobergrenze, doch die ist für Rückkehrer aus der NHL ausgesetzt. So kassieren Stars schon mal pro Saison 1,5 Millionen Euro und stehen Top-Klubs 25 Millionen-Etats zur Verfügung ”¦ Summen, die nicht an die NHL heranreichen, aber in Europa oder sonstwo nirgends erreicht werden.

Interessant auch der Blick hinter die Kulissen der KHL: Das Geschehen im Trainingscamp „Baza“, wo man in der Saisonvorbereitung nach guter alter Sowjetsport-Tradition von 7.30 Uhr bis 19 Uhr mit einer zweieinhalbstündigen Pause einem knüppelharten Programm unterworfen ist. Und von Ärzten und Betreuern mit Tabletten oder Präparaten gefüttert wurde. Brückler nahm nur das, was ihm gesundheitlich unbedenklich erschien: Aminosäuren und Multivitamine. Infusionen zur schnelleren Regenerierung seien allgemein üblich. 

Der Versuch, den Kapitalismus durch den Kommunismus sowjetischer Prägung abzulösen, misslang. Doch im Eishockey war die spielkulturelle Revolution mit Ausgangspunkt Moskau erfolgreich. Das war der Trainer-Legende Anatoli Tarassow zu verdanken. Ende der 1940-er Jahre erhielt er den Auftrag, Eishockey im Zentralen Armeesportklub ZSKA zu entwickeln. Im sowjetischen Riesenreich praktisch unbekannt. Da bevorzugte man Bandy – quasi Hockey auf Eis. In Nordamerika eine große Attraktion und in Europa auf dem Vormarsch.

Autodidakt Tarassow studierte ausländische Lehrbücher und entwickelte eine „sowjetische Spielidee“ – basierend auf bislang unbekannter athletischer und konditioneller Ausbildung. Und einer bis dato nie gesehener Pass-Vielfalt- und Kunst!

Was ZSKA und der Allunionsauswahl „Sbornaja“ in der Wiege des Eishockeyspiels, Nordamerika, die Anerkennung als magische „Red Machine“ einbrachte. Unter „Red Army“ läuft derzeit ein Dokumentarfilm in deutschen Kinos.

Nicht zuletzt Tarassows Wirken und Ideen haben die Sbornaja/Russland zwischen 1954 und 2014 zum Rekord-Weltmeister gemacht. 

All das und viele andere Details sind in Bernd Brücklers Aufzeichnungen „This is Russia“ zu finden. Bisher in Deutsch, Englisch und Tschechisch erschienen.

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This is Russia – 2013, ISBN 978-1495351105, made in USA, Charleston, SC, Februar 2014, erhältlich über Amazon für 19,25 Euro (kostenloser Versand) bzw. Direktbestellung über bernd_at@hotmail.com
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