Da ist eine große Wiese – gefasst von einem halbkreisförmigen Park – auf die die Zuschauer vom ansteigenden Hügel unterhalb der Temnitzkirche blicken. Über die Weite trägt die menschliche Stimme nicht, jedenfalls nicht die Dialoge »auf dem Theater«. Folglich wird der Text von Schauspielern im Studio gesprochen und bei den Aufführungen über Lautsprecher abgespielt. Die Darsteller verkörpern ihre Figuren im wahren Wortsinn. Das verschafft der Gestik großen Spielraum – bis zur Pantomime und zum Ballett. Phantasievolle Masken unterstreichen die großen Gebärden und Gänge. Für diese Spielweise bieten sich klassische Werke in ihrer gehobenen Sprache geradezu an. Macbeth, Faust und nun Shakespeares »Der Sturm« sind Musterbeispiele solcher szenischen Herausforderung.
Die Idee, den »Sturm« aufzuführen, hatte Matthus seit langem. Zu faszinierend erschien ihm der Gedanke, ein Schiff zwischen Bäumen hervorkommen und über die Wiese dahingleiten zu sehen. Im Film ist jede Imagination möglich. Auf der Bühne jedoch bleiben Sturm, Regen, Blitz und Donner, Schiffbruch und Untergang immer irgendwie Theater. So scheint das Synchrontheater die einzig mögliche realistische Form für die Aufführung dieses Stückes. Und der Zuschauer, der sich durch Fernsehen und Computersimulation über nichts mehr wundert, sieht hier mit Staunen, wie das Schiff des Königs von Neapel tief im Raum auftaucht, Fahrt macht, dann aber im Sturmgebraus kentert. Stilisierung und Verfremdung erlauben es, dass die aus Brettern und Sperrholz zusammengenagelte Attrappe des Seglers und die panischen Gebärden seiner Passagiere völlig von der Dramatik des Augenblicks überzeugen.
Das ist es auch schon, was die Aufführung des Stücks heute noch erklärt. Denn »Der Sturm« ist nicht mehr als ein erschröckliches Märchen von guten und bösen oder lustigen und tragischen Gestalten. Wahrscheinlich waren es zu Shakespeares Zeiten die Anspielungen auf die Verdorbenheit und Willkür des Adels, die die Geschichte für sein Publikum interessant machten. Auch heute sucht der Zuschauer den »Nährwert« einer Story. Beim »Ring des Nibelungen« war es die Unterwerfung der Kleinstaaten unter die imperiale Großmacht, die Parallelen zur europäischen Gegenwart aufdrängte, beim Faust das leidenschaftlich ungeduldige Aufbegehren und das Scheitern des Wutbürgers. Beim »Sturm« erschöpft sich die Aktualität im Rededuell zwischen dem Königsmörder, der sich durch seine »Verantwortung« aus den »Sachzwängen« legitimiert sieht, und dem menschenfreundlichen, aber weltfremden Intellektuellen, dem Landesvater. Darüber kann man nachdenken. Doch es bleibt letztlich nur die Wahl zwischen zwei Übeln, zwei Spielarten der Despotie. Längen sind bei der Klassik noch immer nicht bewältigt. Im Übrigen reizen viele phantasievolle Arrangements, große Regieeinfälle, wunderbare schauspielerische, komödiantische und tänzerische Leistungen, ein sparsam-plastisches Bühnenbild, die meisterhaften Sprecher und die trefflich gewählten musikalischen Zwischenspiele von der Oper bis zum Pop. Die Technik funktioniert perfekt. Es ist kaum zu glauben, dass von den 27 Darstellern nur drei professionelle Schauspieler sind. Bewundernswert Judith Steinhäuser als Ariel, souverän Andreas Klein als Prospero, bezaubernd die Nymphen, Göttinnen und Schnitter. Der dritte Profi ist einer der beiden Rüpel, aber den kann man nicht vom anderen unterscheiden. Matthus erklärt das gewandte Spiel der Laienschauspieler (aus der Umgebung des zweihundertköpfigen Dorfes Netzeband) mit jahrelanger Übung und der Erfahrung treuer Mitarbeit. (Regie Frank Matthus und Hermann Höcker, Kostüme Mareike Porschka, Masken Jana Fahrbach, Choreographie Gritt Maruschke, Bühnenbild Hermann Höcker, Marc Hermann und Frank Matthus, Musikarrangements Frank Matthus,Ton Hermann Höcker und Rüdiger Wölk-Wurow, Technik Jens Telschow).
Abermals ist die Inszenierung eine überzeugende Realisierung des Synchrontheaters. Wer es noch nicht gesehen hat, muss es gesehen haben. Nicht hoch genug ist zu schätzen, wie durch kontinuierliches Bemühen engagierter Künstler bei rigorosen Sparmaßnahmen in Brandenburg eine Kulturinsel bewahrt wird. In Matthus` Shakespeare-Trilogie folgen 2014 »Der Widerspenstigen Zähmung« und 2015 »Richard III«. Netzeband bleibt spannend wie seit 18 Jahren.
Weitere Aufführungen von »Der Sturm« am 3., 9., 10., 16., 17., 23. und 24. August, 20.30 Uhr. Karten 033931 – 34940, im VV 27,50 und 31,50 €, an der Abendkasse 30 und 34 €. www.theatersommer-netzeband.de