Sind Landstraßen ohne Mittellinie sicherer? – Eine Felduntersuchung ergab, dass sich Autofahrer in ihrer Fahrweise an der Straßengestaltung orientieren – Fehlt die Mittellinie, wird aufmerksamer, rücksichtsvoller und langsamer gefahren

Wenn es auf einer Landstraße kracht, dann häufig wegen zu hoher Geschwindigkeit, waghalsiger Überholmanöver oder Fehleinschätzungen der Distanzen. Daher arbeiten Experten „intensiv daran, Landstraßen sicherer zu gestalten: zum Beispiel mit speziellen Fahrbahnmarkierungen, Schutzplanken oder Tempolimits“, sagt der DVR. Oder mit einer ganz anderen, für deutsche Auto- und Motorradfahrer ganz und gar ungewohnten Maßnahme: durch die Entfernung der Mittellinie.

Es wird davon ausgegangen, dass mit erhöhter Aufmerksamkeit gefahren wird, „wenn sich die Autofahrer den Raum zwischen den seitlichen Leitlinien mit den entgegenkommenden Fahrzeugen teilen müssen“, schreiben in der Zeitschrift für Verkehrssicherheit (ZVS) die Straßenbauingenieure Thomas Richter, Professor an der TU Berlin, und Benedikt Zierke von der Dorsch-Gruppe.

Landstraßen ohne Mittellinie kennt man eigentlich nur aus anderen Ländern, aber nicht in Deutschland. Hier wie etwa auch in der Schweiz sind optische Leitlinien ein Herzstück der „selbsterklärenden Straße“. Damit ist gemeint, dass Autofahrer aufgrund von Gestaltung und Markierungen den Straßenverlauf, Kreuzungen, Abzweigungen und Kurven schon von weitem erkennen und sich deshalb rechtzeitig darauf einstellen können. Und nun soll auf einmal ebendiese Mittellinie, welche die Fahrtrichtungen voneinander trennt und an die sich Generationen von Auto- und Motorradfahrern als Orientierung gewöhnt haben, schlecht für die Verkehrssicherheit sein? Man glaubt es kaum.

Doch die Realität sieht auf bestimmten Landstraßen offenbar anders aus. Nach dem Vorbild von Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Schweden sieht der Entwurf einer neuen Fassung der „Richtlinien für die Anlage von Landstraßen“ (RAL) vor, auch hierzulande bei „Nahbereichsstraßen“ mit relativ wenig Verkehr auf den Mittelstreifen zu verzichten, schreiben Richter und Zierke. Schmale Landstraßen sollen eindeutig als solche kenntlich gemacht werden, um „das Fahrverhalten zu harmonisieren und somit die Verkehrssicherheit zu erhöhen“. Anders als in den vier genannten Ländern gibt es aber in Deutschland keinerlei Erfahrungen mit den „einstreifigen“ (also ohne Mittellinie) Straßen.

Positive Erfahrung in Skandinavien und den Niederlanden

Die Erkenntnisse aus den Nordländern sind positiv. Dort hätten die Autofahrer ein Verhalten im Sinne der Verkehrssicherheit gezeigt: Kommt ein Fahrzeug auf einer solchen einstreifigen Strecke entgegen, wird gleich nach rechts ausgewichen, um dem Entgegenkommenden Platz zu machen. Bei Bedarf wird auch die Randmarkierung überfahren. In Norwegen wurde sogar in mehreren Studien nachgewiesen, dass auf Straßen mit Mittellinie schneller gefahren wird als ohne. Fehlt die Mittellinie, erweisen sich die Verkehrsteilnehmer als vorsichtiger, langsamer, spurtreuer und konzentrierter.

Um herauszufinden, ob Landstraßen „ohne“ auch hierzulande eine positiven Effekt haben, führten Richter und Zierke Vorher-Nachher-Untersuchungen an einer ummarkierten Landstraße bei Hameln durch. Auch bei dem deutschen Experiment veränderten die Autofahrer nach dem Wegfall des weißen Mittelstreifens ihre Fahrweise: Sie fuhren langsamer, spurtreuer und wichen bei Gegenverkehr auf den Randstreifen aus.

Drei Monate nach der Ummarkierung stellten sie fest, dass das Durchschnittstempo zwischen 6,4 und 7,5 km/h und damit um 2,3 bis 3,3 Prozent gesunken war. Allerdings gab es nach rund einem Jahr einen Gewöhnungseffekt, dann waren die Autofahrer fast wieder so schnell wie zur Zeit der Mittellinie. Trotzdem waren sie auf kurvigen Abschnitten etwa 10 km/h langsamer unterwegs. „Es kann geschlußfolgert werden, dass die neue (Nicht-)Markierung insbesondere bei den Schnellfahrern eine Geschwindigkeitsreduktion bewirkt und somit das Ziel einer Absenkung der Höchstgeschwindigkeit unterstützt“, so die Leiter des Projektes.

Und noch etwas fiel auf: Die Autofahrer richteten ihre Fahrverhalten auf der gesamten Test ¬strecke nach der Sichtweite aus. War sie gering, wurde das Auto am seitlichen Straßenrand entlang gelenkt; konnte man die Straße weiter einsehen, wurde die von beiden Fahrtrichtungen genutzte „Kernfahrbahn“ befahren.

Die neue, sich von allen anderen Straßen unterscheidende Gestaltung des „einbahnigen Quer-schnitts“, resümieren Richter und Zierke in ihrem Aufsatz weiter, bewirke beim Autofahrer ein „angemessenes Fahrverhalten“. Bei den parallel zum Praxisversuch durchgeführten Tests im Fahrsimulator kam zudem heraus, dass auf den „Nachher-Straßen“ deutlich weniger überholt wurde. Die beiden Ingenieure weisen darauf hin, dass die „erzielten Erkenntnisse nur als erste Hinweise zum erwarteten Fahrverhalten verstanden“ werden können, weitere Langzeitbeobachtungen seien für ein abschließendes Urteil nötig.

kb

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