„September Fata Morgana“ von Thomas Lehr im Hanser Verlag – Serie: Rezensionen der Sechserliste des Deutschen Buchpreises vor der Prämierung des Preisträgers am 4. September 2010 (Teil 3/6)

Die Auswahl dieses Buches auf die kurze Liste des Deutschen Buchpreises, bewertet die Jury damit: „Thomas Lehr wagt ein riskantes Unterfangen. Er beschreibt ein hochbrisantes politisches Thema, den 11. September und die kriegerischen Folgen, als 470-Seiten-Poem; als west-östlichen Dialog. Vier Stimmen erzählen, zwei Väter, zwei Töchter, in den USA und im Irak, in New York, wo die Twin Towers stürzen und in Bagdad, wo ’die Luft blutet` und Menschen gefoltert werden. Gedichte von Goethe und Hafis, von Friedrich Rückert und Adonis und vielen anderen verweben die Schauplätze und machen den Roman zum westöstlichen Diwan unserer Tage.“

Bleiben wir bei Herodot. Ihm ist zu verdanken, daß Thomas Lehr auch den Irak als Gegengewicht im Roman aufnimmt und mit dem Vater Tarik, Arzt, und seiner Tochter Muna zwei Protagonisten hat, aus deren Mund die andere Seite persönliche Stimmen erhält. In welchem Umfang dazu Recherchearbeiten nötig waren, um Bagdad, die politische Stimmung, die einzelnen Wege und regionalen Gegebenheiten korrekt wiederzugeben, kann man nur ahnen. Auf jeden Fall sagen Kenner dieser Region – wir sind es nicht -, dies sei ihm außerordentlich gelungen. Der Roman beginnt mit Muna, die in einer Art innerem Monolog vor sich hindenkt:

„Unsere Geschichte

hängt in der Luft in der Nacht

Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet

braucht es nicht gewusst zu haben

immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und”¦“

Man muß diese Zeilen gesehen haben und selbst lesen, um Zweierlei zu erfahren: Thomas Lehr schreibt ohne Punkt und Komma, er verzichtet auf alles, was die Schriftsprache zur Analyse des Inhalts an Satzzeichen mitsamt dem Großanfang nach dem Punkt bereithält. Das zwingt einen zur Vorsicht und einem langsamen Lesen, uns hat es zum inneren lauten Lesen gebracht, denn dann – und das ist die zweite Erfahrung – dann erhält man beim Lesen den Rhythmus, mit dem wir auch sprechen, denn auch dort gibt es keine Satzzeichen, wohl aber Pausen und eine automatisierte Stimmführung, mal nach oben, mal nach unten, die uns halbbewußt mitteilt, wo wir uns im Satz befinden und um einen welchen es sich handelt.

Beim Weiterlesen verinnerlicht sich das dann und man hat den Sprechrhythmus zum Leserhythmus gemacht. Das Beispielzitat zeigt aber auch die innere Ebene der Erzählung, die sich nicht auf die Fakten stützt – doch, das tut sie auch, denn der Ablauf wird korrekt und historisch genau dargestellt- aber nicht Fakten sind die Haltepunkte des Romans, sondern das Eingewebtsein der Protagonisten in ihre Kultur und ihre Zeit, das durch traumhafte oder immer wieder assoziativ aufscheinende Motive, gesättigt durch literarische Erfahrung, ihre Erlebnisse in einem Erklärungsmuster deutet. Wir wüßten so gerne, wie ein nicht exilierter Iraker, wie eine Irakerin diesen Roman empfände und auch, was ein Amerikaner, möglichst ein New Yorker, der dabei war, dazu sagt. Aber letzten Endes ist das irrelevant. Darum geht es überhaupt nicht, um einen politischen oder moralischen Schlagabtausch, und historische Wahrheit und regionale Genauigkeit wären doch gar nicht die Elemente, die in einem Roman wirklich aussagekräftig wären darüber, ob er gut ist und wie gut er ist.

Deshalb sind wir beim manchmal bemühten Lesen immer wieder auf die Frage gekommen, weshalb der Untertitel des Romans „Fata Morgana“ heißt, die ja bekanntlich Luftspiegelungen im heißen Wüstensand sind, die etwas als wirklich erscheinen lassen, was nicht gegenständlich ist und nur augentäuschend von unserem Gehirn als Bild suggeriert wird. Aber der Naturwissenschaftler Thomas Lehr weiß es besser. Denn eine Fata Morgana ist eben keine optische Täuschung, eine visuelle Täuschung unserer Wahrnehmung, sondern wird als Bild hervorgerufen durch den optischen Effekt, den das Licht an unterschiedliche warmen Luftschichtenhervorruft, was Ausdruck eines physikalischen Phänomens ist. Aber was bedeutet dies für den Titel?

Ist nicht letzten Endes unser ganzes Leben eine Fata Morgana, wie sehr erst dann ein Ost- West-Konflikt, von dem die meisten nur die eine Seite kennen. Daß man im Buch selber auf viele Rätsel des Lebens und des Lesens stößt, hat mit den Protagonisten und ihren Worten durchaus zu tun. Es handelt sich bei beiden Vätern, dem deutschen Germanistikprofessor Martin und dem irakischen Arzt Tarik, der im Ausland studierte, um Angehörige einer intellektuellen Oberschicht, die auch ihre Töchter für vernunftbegabte Wesen halten und diesen eine kritische Analysefähigkeit vermittelt haben, die diese auch nutzen. Dennoch bleiben die Väter die stärkeren Figuren. Und das nicht allein, weil sie überleben und die Töchter sterben müssen, damit dieses Buch mit einer dramatischen und insistenten Handlung geschrieben werden kann.

Die intellektuelle Weite, aber auch die mögliche Schärfe, zu der die beiden Väter fähig sind, tut dem Buch gut. Denn dadurch entwickelt sich das Geschehen aus den Figuren selbst heraus. Der Autor muß kein über allem stehender Erzähler sein, er muß einfach seine Personen sprechen, beziehungsweise denken und träumen lassen, dem jeweiligen Kapitel ist darum die Person vorangestellt, die hier sprechhandelt. Dann entstehen die Lokalitäten und die gesellschaftlichen Aussagen, die dem Roman das Leben geben und den Leser durch die Jahre nach dem 11. September führen. Uns hätte hier auch interessiert, wie sich der Leser zurechtgefunden hätte, würden die Personen nicht ausdrücklich benannt, um die es hier geht. Denn am Inhalt und der Sprache hätte man sie – nach kurzer Irritation – doch auch erkannt.

Das übrigens hat Lehr dann wieder gemein mit dem Roman von Judith Zander, die auch ihren Kapiteln die sprechenden Figuren voranstellt. Ansonsten fällt Lehr im bestimmten Sinn aus dem Rahmen der diesjährigen Auswahl auf die letzten Sechs. Denn die anderen fünf Bücher basieren auf erlebtem Leben, wenngleich in literarischer Form, sogar in Hochform, die jegliche biedere banale Wiedergabe verweigert. Lehr nun macht seinen Martin und seinen Tarik zu den Helden, die in den anderen fünf Romanen die alter egos der jeweiligen Autoren sind. Und insofern paßt Lehr dann wiederum in diese eigenwillige, auf Identitäten und besondere Lebensschicksale abzielenden Romane der diesjährigen Auswahl zum deutschen Buchpreis. So unter der Hand gilt der nach Irritationen innerhalb des Aufbau Verlags zum Verlag Hanser gewechselte Autor als Favorit für den Preisträger. Dagegen könnte man auch gar nichts sagen. Warum wir uns für einen anderen aussprechen, hat auch hier mit der Überlegung zu tun, daß im Lehrschen Roman manches anders hätte sein können, andere Darstellung, andere Bezüge und es unserer Meinung nach nur einen Roman unter diesen sechsen gibt, in dem nichts anders sein dürfte, als es Wort für Wort geschrieben steht.

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