In Jette Steckels Inszenierung des 1902 uraufgeführten Dramas „Kleinbürger“ von Maxim Gorki sucht das Schauspielensemble Wege zum Verständnis kleinbürgerlicher Verhältnisse vor mehr als hundert Jahren und springt aus dem Russland von damals ins heutige Berlin.
Zu Beginn ist im Dunkeln eine schöne warme Frauenstimme zu hören, die aus Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ liest, der Abschiedsrede einer Männerphantasie an die Männer. Wenn das Licht angeht, sitzen Tatjana (Natali Seelig) und Polja (Olivia Gräser) an der Rampe. Tatjana hält ein Buch in den Händen und liest noch ein paar Sätze. Polja verdreht verträumt die Augen und seufzt „schön“, obwohl sie offenbar nicht zugehört hat, denn sie fragt, ob die Beiden sich wohl kriegen, und für Polja ist es ganz selbstverständlich, dass der gelesene Text von einem Mann geschrieben sein muss.
Polja kann gar nicht zuhören, weil sie völlig versunken ist in ihre Liebesgefühle für Nil. Tatjana, die sich ebenfalls Hoffnungen auf Nil macht, ist ganz in ihre Lektüre über das Leiden an der Liebe versunken. Dann aber gibt Tatjana erst einmal gemeinsam mit ihrem Bruder Pjotr (Ole Lagerpusch), der gerade wegen der Teilnahme an Studentenunruhen der Universität verwiesen wurde, ein aufmüpfiges intellektuelles Duo.
Die Geschwister sitzen eng beieinander, bewegen sich synchron und machen sich mit gestelzter Sprechweise über ihren spießigen Vater und, ganz besonders, über den betrunkenen Kirchensänger Teterew lustig. Diese brillante kleine Szene ist ein Täuschungsmanöver, denn so überlegen, wie sie hier erscheinen, sind Tatjana und Pjotr ganz und gar nicht. Beide sind unsichere Menschen. Während aber Pjotr durch seine Liebe zu Jelena (Katrin Wichmann) eine, vielleicht nur vorübergehende, Befreiung erlebt, bleibt Tatjana hoffnungslos in der Enge ihres Elternhauses zurück.
Die Inszenierung ist grandioses SchauspielerInnentheater. Es geht nicht nur darum, aktuelle Bezüge zu Gorkis Drama aufzuspüren, sondern vor allem um das Ausloten der vorgegebenen Rollen, durch das sich die Bühnenfiguren in vielschichtige lebendige Menschen verwandeln.
Einige der Personen bewegen sich in engen Grenzen. So das Familienoberhaupt Bessemjonow, rechtschaffener Handwerker, überkommenen Werten verpflichtet, einer, der jeder Art Neuerung ablehnend gegenübersteht. Helmut Mooshammer gestaltet ihn als autoritären Haustyrannen, Geizhals und verschlossenen Menschen. Gefühle leistet dieser Starrkopf sich nicht. Und doch macht Mooshammer auch die Angst spürbar, die Bessemjonow befällt, als er die Brüchigkeit der ihm vertrauten Ordnung erkennen muss.
Hinter der Fassade rechtschaffener Bodenständigkeit versteckt sich ein hilfloser, Mitleid erregender Mensch.
Helmut Mooshammer gibt einen Kommentar zu dieser Figur ab, als er, in einer Videoeinspielung, vor seiner Waschmaschine hockend von seinem Vater erzählt, der seinen Sohn gern als Schuldirektor gesehen hätte, und dem es unheimlich ist, dass dieser Sohn ein für den Vater nicht vorstellbares Leben als Schauspieler in Berlin führt.
Ganz und gar dem Familienkreis verhaftet ist Bessemjonows Ehefrau Akulina. Pflichtbewusst steht sie ihrem Mann zu Seite und versucht, zwischen ihm und seinen Kindern zu vermitteln. Für ein Eigenleben bietet diese Rolle keinen Raum. Barbara Schnitzler darf aber ganz privat einmal aussteigen, Akulinas demütige Anpassungshaltung abschütteln und ist auf einem Video als Powerfrau beim Gesangsvortrag im Mauerpark zu erleben.
Kostümbildnerin Pauline Hüners hat die DarstellerInnen mit teils altertümlicher , teils moderner Kleidung ausgestattet, je nachdem, inwieweit sie den Traditionen des hierarchischen Kleinbürgertums verpflichtet sind oder sich davon entfernen.
Tatjana, wie ihre Mutter im langen Rock mit weißer Bluse und Strickjacke, lebt wie eine Gefangene in ihrer Familie. Für ihre schlecht bezahlte Arbeit als Lehrerin erfährt Tatjana keine Wertschätzung. Bessomjonow sieht in Ehe und Familie den einzigen Aufgabenbereich für Frauen, und wirft seiner Tochter beständig vor, dass sie nicht verheiratet ist. Allerdings erwartet er, dass sein Pflegesohn Nil sein Schwiegersohn wird und übt mit seinen Vorwürfen Druck aus, damit die Heirat zwischen Nil und Tatjana endlich zustande kommt.
Tatjana will gewiss nicht dem Vorbild ihrer Mutter nacheifern und eine angepasste Ehefrau werden. Sie sehnt sich nach einem Menschen, dem sie vertrauen und mit dem an ihrer Seite sie sich aus ihrem beengten Dasein befreien kann. So einen Menschen glaubt sie in Nil gefunden zu haben.
Natali Seelig gestaltet ein beeindruckendes Psychogramm einer Frau, die sich aus mangelnder Selbstachtung von Anfang an dem Leiden verschrieben hat und nur an einem kleinen Funken Hoffnung festhält, an den sie selbst nicht zu glauben wagt. Durch Natali Seeligs Gestaltungskraft wird Tatjana zur zentralen Figur des Stücks. Die frustrierte Lehrerin ist viel mehr als ein Typus aus dem Kleinbürgermilieu vergangener Zeiten. Diese Tatjana ist wirklich ergreifend in ihrer Sehnsucht nach einem sinnvollen Dasein und in ihrer romantisch übersteigerten Liebe.
Nil erscheint zu Beginn als Maxim Gorki verkleidet, stülpt dann seine Perücke Tatjana über und gibt ihr auch seinen angeklebten Schnurrbart. Tatjana wendet sich ein wenig ab , öffnet heimlich zwei Knöpfe ihrer Bluse und birgt den Schnurrbart an ihrer Brust. Später, als Nil und Polja in leidenschaftlicher Umarmung auf dem Boden liegen, öffnet Tatjana wiederum ihre Bluse, legt sich hinter Nil und presst ein bisschen von ihrer nackten Haut an Nils nackten Rücken, woraufhin Nil empört aufsteht und Tatjana angewidert wegschiebt. Und dann, bei ihrem Selbstmordversuch, steht Tatjana sehr pathetisch, Blut spuckend, an der Rampe.
Diese Auftritte sind allesamt eigentlich peinlich und könnten sehr leicht unfreiwillig komisch geraten. Natali Seelig gelingt es aber, Tatjana als eine zutiefst anrührende Gestalt lebendig werden zu lassen.
Für die Komik zuständig ist Peter Jordan als Teterew. Anfänglich ist er nur der verkommene Säufer, den niemand ernst nimmt, aber je mehr die Anderen sich in ihre Liebesgeschichten verstricken und je mehr Bessemjonow an Autorität verliert, desto mehr gewinnt der Kirchensänger an Boden. Er ist ein trauriger Narr, der Allen die Wahrheit sagt und ein lebensüberdrüssiger Zyniker, der jede Hoffnung aufgegeben hat. Peter Jordan bietet viel Stoff zum Lachen mit den Ungeschicklichkeiten und grotesken Einfällen des betrunkenen Teterew, und verlockt dabei immer auch zum Weinen über diesen grenzenlos einsamen Menschen.
Während Teterew schon alles hinter sich hat, ist Ole Lagerpuschs Pjotr noch gar nicht bei sich selbst angekommen. Er ist bei den Studentenunruhen mitgelaufen und dafür bestraft worden. Er sucht Halt bei seiner Schwester, und nun hat er sich in die Witwe Jelena verliebt, die im Haus der Bessomjonows wohnt und dort Gesellschaften gibt. Wenn Ole Lagerpusch schließlich Katrin Wichmann als Jelena gegenübersteht und von ihr wissen will, ob sie ihn liebt, sieht er aus wie ein verängstigter kleiner Junge, der sich gerade in die Hose gemacht hat.
Für das Ehepaar Bessemjonow ist Jelena eine Person mit höchst zweifelhafter Moral. Katrin Wichmann gestaltet die Witwe jedoch als eine tatkräftige Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat. Allerdings erscheint sie wie ein Fremdkörper, sie passt nicht in die Gesellschaft auf der Bühne. Nicht nur durch ihr leuchtend rotes kurzes Kleid und die kniehohen grauen Wildlederstiefel fällt sie auf, sondern auch durch ihre Präsentation und ihre Art zu sprechen unterscheidet sie sich von den Anderen. Diese Jelena ist eine unkonventionelle Vertreterin unser Zeit.
Das Hausmädchen Polja schwebt auf den Flügeln der Liebe dahin. Olivia Gräser zeigt sich hier von ihrer einfach nur zauberhaften Seite, unbeschwert glücklich und dabei fest entschlossen, sich ihr Glück durch nichts, auch nicht durch Tatjanas Drama, zerstören zu lassen. Olivia Gräser spielt diese Rolle auch in einer Videoeinspielung privat weiter, tanzt mit nackten Füßen durch welke Blätter und telefoniert in einer fremden Sprache, wobei es, wie aus der deutschen Übersetzung zu entnehmen, um eine Hochzeit geht. Aber Olivia Gräser erklimmt auch im Halbdunkel das Podest des Lenin-Denkmals und stellt dort ein weißes Papierpüppchen auf, dessen Kleid die Aufschrift trägt: „Save me from what I want.“
Mit viel Radau erscheint einige Male Poljas Vater, der Vogelhändler Pertschichin (Markus Graf), ein großtuerischer Trunkenbold, der nur mit sich selbst beschäftigt ist. Und dann ist da noch Schischkin (Thomas Schumacher), der eigentlich gar keine Rolle hat. Er stürmt ab und zu auf die Bühne, erklärt, er müsse ins Theater und verschwindet kurz darauf wieder. Trotzdem fällt er auf in seinem grellroten Pullover, und er hält sich meistens in der Nähe von Nil auf, dem er, durch Statur und Kahlkopf, ähnelt, so als hoffe er, als Double von Nil, doch noch zu einer Rolle zu kommen.
Die wichtigste Figur in Maxim Gorkis Stück ist Nil, der Revolutionär mit seiner Vision von einer neuen Welt, neben dem die Kleinbürger ziemlich alt und überholt aussehen sollten. So einfach ist das in dieser Inszenierung jedoch nicht.
Nil (Felix Goeser) ist hier vor allem ein Mensch, und, obwohl seine Manieren ungehobelt sind, unterscheidet er sich gar nicht so sehr von den anderen Kleinbürgern. Er gibt sich kraftvoll und lautstark, springt in einem Satz auf das Podest des Denkmals und bestimmt das Geschehen. Im Grunde ist Nil nicht weniger autoritär als Bessemjonow und auch nicht weniger rücksichtslos. Immerhin hat Nil Tatjana geküsst und sie sehr zärtlich umarmt. Dass er später erklärt, er sei völlig unschuldig daran, dass Tatjana sich in ihn verliebt habe, ist wenig einfühlsam. Pjotr wirft Nil vor, dass dieser Bessemjonow ständig provoziere und dass er, Pjotr, dann den Zorn des Vaters abbekomme. Daraufhin wird Pjotr von Nil als Schwächling verhöhnt. – – Nun ja, einer der das Glück der ganzen Menschheit im Auge hat, kann sich wohl um einzelne Menschen nicht kümmern.
Felix Goeser tritt aus seiner Rolle heraus und spielt, nicht per Video sondern live, den Agitator. Er erklärt dem Publikum, was alles schief läuft, Atomkraft und so, und verlangt, dass alle aufstehen und sagen: „Ich werde das alles nicht länger hinnehmen. Die Dinge müssen sich ändern.“
In der Premiere sollen ein paar BesucherInnen dieser Aufforderung gefolgt sein, in der Vorstellung am 28.Mai stand eine Frau auf und präsentierte den Wut-Bürger-Text.
Mehr als ein Spaß ist das nicht, denn die kritische Beleuchtung menschlichen Miteinanders in dieser Inszenierung löst eher Nachdenklichkeit aus.
So hoffnungslos festgefahren, wie Teterew behauptet, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse aber vielleicht doch nicht. Das Lenin-Denkmal ist von hinten zu sehen, schaut also in die gleiche Richtung wie das Publikum, nach vorn, in die Zukunft.
Die Vorstellung ist bis zur Pause sehr temporeich, spannend und geistreich-amüsant. Danach stockt das Tempo und das Bühnengeschehen ufert, vor allem durch die Video-Einblendungen, ein bisschen zu sehr aus. Dafür, dass die Vorstellung trotzdem nicht ihre Form verliert, sorgt in hohem Maße der großartige Musiker Mark Badur, der im Hintergrund der Bühne platziert ist und diesen sehenswerten Theaterabend einfühlsam begleitet.
Eine weitere Inszenierung von Jette Steckel wird in der kommenden Spielzeit am Deutschen Theater zu erleben sein. Steckels Interpretation von Jean-Paul Sartres Schauspiel „Die schmutzigen Hände“ darf mit Spannung erwartet werden.