Stralsund, Deutschland (Weltexpress). Sein Daumen ist nach oben gereckt: Der Pilot gibt das Klarzeichen. „Denn man los!“, kommt über Funk die Startfreigabe vom Flugleiter. Auf dem fliegerischen Programm steht heute ein Rundflug über Land und See.
Der Motor dröhnt zunehmend lauter. Erstaunlich, wie sanft wenig später die Cessna-172 der „Ostsee-Flug-Rügen“ (OFR) von der 900 Meter langen Startbahn in der Nähe des Dörfchens Güttin abhebt. Dort, wo bis zur Wende ein holpriger Agrarflugplatz lag, dehnt sich heute eine befestigte Piste aus. Im Sommer herrscht hier reger Flugbetrieb. Manchmal startet oder landet dann alle zwei Minuten eine Maschine in der maximalen Größenordnung bis zur Dornier Do 228. Aber auch die Lufthansa-Ju 52 hat dem einzigen Flugplatz auf Deutschlands größter Insel schon einen Besuch abgestattet. Überwiegend sind es jedoch Geschäfts- und Rundflüge, die hier abrollen.
Stadtplan in Reliefgestalt
Unter uns schrumpft die Landschaft übersichtlich zusammen. Im Westen glitzert das blaue Band des Strelasunds mit seiner markanten Kirchturmkulisse. Das Gewässer wirkt aus 300 Metern Höhe wie ein breiter Graben, den wir mit flottem Luftsprung nehmen. Segelboote schweben wie Federn darauf. In Grün- und Braunmustern zeichnen sich die tückischen Flachwasserstellen scharf ab.
Wir zwei Passagiere an Bord der Maschine mit der Kennung D-EVEL recken unsere Hälse von einer Fensterseite zur anderen und können uns an der amphibischen Miniaturwelt unter uns nicht satt sehen. Gleißende Sonne, ein kühler Nordwind und aufquellende Haufenwolken sorgen für eine geradezu atemberaubende Fernsicht: bis hin zu den dänischen Inseln Mön und Bornholm! „Das gibt’s ganz selten“, freut sich auch der Pilot.
Frachter ziehen als weiße Striche, Kondensstreifen nicht unähnlich, ihre einsamen Schaumbahnen durch die Ostsee. Im IC-Tempo schweben wir unaufhaltsam weiter. Die Inselhauptstadt Bergen, ein Stadtplan in Reliefgestalt. Vorm Schloss von Ralswiek glaubt man schon den Seeräuber Störtebeker und seine Mannen kämpfen zu sehen. Kaum ist der flache Jasmunder Bodden „gekommen“, beeindruckt die Schaabe-Nehrung mit ihrem kilometerlangen weißen „Südsee-Strand“. Eine elegante Kurve und Kap Arkona, das deutsche Nordkap, ist umrundet. Die beiden historischen Leuchttürme, bekannte Wahrzeichen auf der Steilküste – weg und vorbei. Unser Pilot meint dazu nur: „Über Rügen navigiert man nicht mehr, da genießt man nur noch!“
Nachmittägliches Licht-Schatten-Spiel
Die Maschine scheint das Wasser der Tromper Wiek nur so in sich hineinzusaugen – bis Minuten später die Kreideküste der Stubbenkammer zwischen Buchenstämmen aufleuchtet. Wie Insekten krabbeln die Klippen- und Strandwanderer darauf herum. Für Sekunden halten sie anscheinend inne, um der Maschine nachzublicken. Im Fährhafen Sassnitz sehen wir gerade noch PKW auf den neuen Katamaran SCANE JET rollen. Daneben die schier endlos erscheinende inzwischen luxuriös renovierte Betonschlange von Prora. Erst aus luftiger Höhe werden die wahnwitzigen Dimensionen dieser früheren „Kraft-durch-Freude“-Ferienanlage und späteren Kaserne der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR erkennbar.
Kontrastprogramm: freundlich-verspielt hingegen das Seebad Binz. Aus dem Wald ragt der rosafarbene Turm des Jagdschlosses Granitz, ein rügensches Architektur-Juwel. Hügelaufwärts windet sich im Schneckentempo der schmalspurige „Rasende Roland“. Mini-Dampfwölkchen verraten seine Strecke durch den Wald. Schon wenig später präsentiert sich das eiszeitlich-hügelige Relief der Boddenlandschaft im nachmittäglichen Licht-Schatten-Spiel mit seinen prallen erdigen Rundungen. Über der EX-SED-Prominenteninsel Vilm, heute Naturschutzgebiet, nehmen wir Erich Honeckers Reetdachhaus ins Visier. Ehe uns die Inselschönheit recht bewusst wird, brummen wir auch schon über den Greifswalder Bodden mit seinem schiffsengen Fahrwasser. Die roten und grünen Tonnen wirken wie in Seenot geratene Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren. Wie sich hier stattliche 300 Meter lange und 32 Meter breite 55.000-Tonnen-Frachter-Neubauten der früheren Volkswerft hindurchfädelten, erscheint zumindest aus unserer jetzigen Flug-Perspektive ein Rätsel.
Atemberaubender Blick
An Steuerbord grüßen jetzt die altehrwürdigen Türme von Greifswald, an Backbord die bedrohlich wirkende Betonkulisse des ehemaligen Kernkraftwerks Lubmin. Dann nur noch Agrarlandschaft ein bunter Flickenteppich der Natur aus grünen, gelben und braunen Feldern. Hier wird einem die geringe Bevölkerungsdichte Mecklenburg-Vorpommerns anschaulich vor Augen geführt.
Der Pilot fliegt jetzt nicht mehr nur nach Sicht, sondern auch nach Karte und folgt der Bahnlinie Stralsund-Neubrandenburg. Die Bundesstraße 96 ist mal wieder hoffnungslos überfüllt. Uns schert‘s nicht: Wir haben frei Bahn.
Im Zeitraffertempo schlängeln sich die Flüsse Peene und Tollense zusammen. Rechts hinten der Kummerower See – ein blau-glänzender Spiegel. Wie ein norwegischer Fjord streckt sich der waldeingefasste 15 Kilometer lange Tollense-See in die Moränen-Landschaft. Dann ein kurzer Blick in die fast kreisrunde mauerbewehrte Altstadt von Neubrandenburg mit ihren vier herausragenden Toren.
Kursänderung wieder nach Norden. Schon 50 Kilometer vor Stralsund sind die Türme und Kräne samt knapp 80 Meter hoher Schiffbauhalle klar auszumachen. Unser Pilot zieht die Cessna behutsam hoch. „Schließlich wollen wir unnötigen Lärm über der Stadt vermeiden“, ist seine Erklärung. Völlig neue Fotoperspektiven lassen uns aus dem Häuschen geraten. Aus 3.000 Metern Höhewirkt die Hansestadt schließlich nur noch wie ein luftiger Merian-Kupferstich, von gleißender Sonne schier vergoldet. Atemberaubend der Blick in unser Wohnquartier, das Heilgeistkloster am Altstadtrand.
In greifbarer Nähe die langgestreckte Insel Hiddensee, geschwungen wie ein graziles Riesen-Seepferdchen. Garniert von hellen Sänden die Insel Bock, über der sich Wolkentürme recken. Schließlich wieder die Landung in Güttin: Ende eines zweistündigen Traumfluges über eine Traumlandschaft!