Blühende Landschaften – „Der Hals der Giraffe“, hervorragend in der Box des Deutschen Theaters

"Der Hals der Giraffe" nach dem Roman von Judith Schalansky in der Box am Deutschen Theater in Berlin. © Copyright Arno Declair

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Einen so handlungsarmen Roman wie „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky auf die Bühne zu bringen, ist ein Wagnis. Das Buch lebt von einer präzisen, klangvollen Sprache. Es enthält ausführliche Beschreibungen der Landschaft in einer verlassenen Gegend und sehr viel Entwicklungsgeschichte von Pflanzen, Tieren und Menschen.

Im Zentrum steht eine 55jährige Lehrerin. Ihr Denken, ihr umfangreiches Wissen, ihre Lebensumstände, ihre eingefrorenen Emotionen und ihre zweifelhaften Unterrichtsmethoden hat Judith Schalansky sorgfältig ausgeleuchtet, während sie über das Äußere von Inge Lohmark nichts mitgeteilt hat. Beim Lesen entsteht das Bild einer nicht sehr ansehnlichen Person in langweiliger Garderobe.

Umso überraschender ist es, Judith Hofmann als Inge Lohmark in einem langen schwarzen Kleid mit weißer Halskrause und weißer Lockenperücke zu sehen. Ein Renaissancekostüm, passend zum humanistischen Gymnasium, an dem Inge Lohmark seit mehr als 30 Jahren Biologie und Sport unterrichtet. Auch Bernd Moss ist ganz in schwarz, wenn auch etwas moderner, im Frack, und Linn Reusse trägt eine Art Schuluniform mit braunem Trägerrock und weißer Bluse. (Kostüme Julia Dietrich).

Das Gymnasium in einer Kleinstadt in Vorpommern hat Tradition, ist aber nun im Niedergang begriffen und soll in vier Jahren geschlossen werden. Nach der Wende gab es kaum noch Arbeitsmöglichkeiten in der Gegend, die Menschen zogen weg, ihre verlassenen Häuser verfielen, und für die Bildungsanstalt gibt es nicht mehr genug Schüler*innen.

Den Verfall zeigt das Bühnenbild von Viktor Reim: Eine schmutzige Bretterwand über die ganze Breite der Bühne. Später wird sie beiseite geschoben, öffnet sich zu einem Gang, an dessen beiden Seiten Abteile mit ebensolchen Bretterwänden zu sehen sind, vielleicht Klassenräume oder Ställe für Strauße.

Inge Lohmarks Mann hat, als einziger in der Gegend, ein florierendes Unternehmen gegründet, eine Straußenfarm. Er lebt nur noch für seine Tiere.

Der junge Regisseur Philipp Arnold hat eine exzellente Textcollage erstellt, ein Konzentrat  das, bis auf ein paar Einwürfe, ausschließlich Passagen aus dem Roman von Judith Schalansky enthält. Obwohl es keine Dialoge gibt, kommunizieren die drei Akteur*innen häufig miteinander. Alle drei sind Inge Lohmark, was Linn Reusse und Bernd Moss demonstrieren, indem sie sich ebenfalls weiße Halskrausen umlegen.

Wenn das Publikum hereinkommt, sitzt Judith Hofmann mit einem Gewehr vor der Bretterwand. Inge Lohmark ist eine Kämpferin, eine Frau, die sich Respekt zu verschaffen weiß, eine Lehrerin mit Autorität. In ihrem Vortrag über „Fressen und Gefressenwerden“ offenbart sie ihre Weltanschauung.

Lohmark ist Darwinistin, überzeugt, dass nur die stärksten und anpassungsfähigsten Exemplare sich im Überlebenskampf durchsetzen können. Das gilt, ihrer Meinung nach, für Pflanzen und Tiere ebenso wie für Menschen.

Für ihre derzeitigen Schüler*innen sieht die Klassenlehrerin wenig Chancen. In vier Jahren sollen diese pubertierenden Jugendlichen Abitur machen. Lohmark hat kein Mitleid mit denen, die vielleicht vorher auf der Strecke bleiben. Auch Ellen, die von ihren Mitschüler*innen gemobbt wird, tut Lohmark nicht leid, denn: „Zum Opfer machte man sich immer nur selbst.“

Ein gewisses Interesse scheint die Lehrerin jedoch an Erika zu haben. Linn Reusse erscheint mit einer Heidekrautpflanze, unter der ihr Kopf versteckt ist. Lohmark bringt die Schülerin mit dem gleichnamigen Gewächs in Verbindung. Das Interesse nimmt zu, und Inge Lohmark fürchtet sich vor dem Verlust ihrer eisernen Selbstdisziplin. Judith Hofmann nimmt die Halskrause ab. Später reißt Linn Reusse ihr die Perücke herunter.

Mehrfach verwandeln sich Bernd Moss und Linn Reusse in von Inge Lohmark beschriebene Wesen und entwickeln ein Eigenleben. Bernd Moss tritt mit den Masken von Steller’scher Seekuh und Fledermaus auf. Sehr charmant versucht er, die Lehrerin zu emotionaler Anteilnahme an der ausgestorbenen Spezies und dem kleinen, menschenähnlich gebauten Tier zu bewegen. Beinahe gelingt das, aber noch hat Lohmark sich im Griff. Ihr Interesse ist naturwissenschaftlich. Sentimental ist sie nicht.

Trotzdem wird Inge Lohmark von Sehnsüchten befallen, für die sie sich schuldig fühlt. Worte findet sie dafür nicht. Die muss Linn Reusse übernehmen, und sie wird auch zur Anklägerin der Lehrerin. Doch nicht für ihre unerlaubten Gefühle wird Lohmark zur Rechenschaft gezogen, sondern für ihren Mangel an Mitgefühl, dafür, dass sie Ellen nicht vor den Quälereien ihrer Mitschüler*innen beschützt hat.

Inge Lohmark, die so häufig verkündet hat, wie wichtig Anpassung zum Überleben sei, hat sich nicht an die veränderten pädagogischen Richtlinien angepasst, gehört zum alten Eisen und wird wohl ausgemustert werden noch bevor das Gymnasium schließt, obwohl sie doch bis zum Ende durchhalten wollte.

Die Ironie in Judith Schalanskys Roman bringen Judith Hofmann und Bernd Moss genüsslich zum Ausdruck, und auch die Sprache artikulieren sie in höchster Vollkommenheit.

Weniger geschliffen, dafür aber jung und voller Energie präsentiert sich Linn Reusse. Sie hat die kritischen Passagen des Romans übernommen, konfrontiert Lohmark auch mit der bitteren Wahrheit, dass ihre in den USA lebende Tochter nicht zu ihr zurückkehren wird, und dass die vorpommersche Kleinstadt nur noch ein Ort zum Weggehen ist.

Die Melancholie, die von dieser, von Menschen aufgegebenen Region ausgeht, ist deutlich spürbar in der Inszenierung und wird illustriert durch die kunstvollen Schattenspiele auf der Bretterwand.

Der Roman endet damit, dass Inge  Lohmark, vom Schulzwang befreit, die Natur und den Anblick der tanzenden Strauße ihres Mannes genießt.

Philipp Arnold hat eine andere Passage des Romans an den Schluss gesetzt und lässt sie von Linn Reusse ins Publikum sprechen: Es ist die Vision der verlassenen Stadt, in der die Pflanzen sich ausbreiten.

„Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Verwilderung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften.“

Also doch, wenn auch anders als nach der Wende versprochen.

„Der Hals der Giraffe“ nach dem Roman von Judith Schalansky hatte am 22.09. Premiere in der Box des Deutschen Theaters. Nächste Vorstellungen: 23. und 31.10. sowie 02.11.2019.

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