Anklam, Stralsund, Deutschland (Weltexpress). Kurz nach neun Uhr am vergangenen Sonntag: Schiffsführer Ulrich Krüger startet mit zischender Pressluft den 420 PS-SKL-Diesel aus Magdeburger Produktion – „das ist immer noch der erste!“, freut er sich. Sein Kompagnon Norbert Hagemann wirft die Leinen los. Schwerfällig dreht der tief abgeladene Frachter in die Peene. Über Funk meldet sich Krüger bei der Verkehrsleitstelle „Wolgast traffic“ ab, die wie für alle übrigen mecklenburg-vorpommerschen Häfen in Rostock beheimatet ist: „´Dömitz` hat bei zwei Metern Tiefgang von der Koppelstelle Anklam abgelegt mit Ziel Stralsund-Südhafen“. Man kennt sich, wünscht gute Reise und gute Wache.
An beiden Flussflanken verneigen sich die Schilfwälder unter dem steifen Nordwest-Wind vor dem Oldtimer, während er durch die Peene-Kurven wedelt. Nach zehn Kilometern duckt sich MS „Dömitz“ mit gelegten Masten vor der Zecheriner Brücke zwischen Usedom und dem Festland, rauscht unter dem Bauwerk hindurch und steckt die Nase in den Peenestrom. Wolken von Kormoranen, scharf beäugt von zwei hungrigen Seeadlern, begrüßen den Frachter vor Wolgast. Während die Lürssen-Peene-Werft mit ihren Marineschiffen passiert wird, konzentriert sich Ulrich Krüger auf die Ansteuerung der Wolgaster Brücke, wegen ihrer Farbe auch das „Blaue Wunder“ genannt.
Wie maßgeschneidert
Durch die Knaackrücken- und Neptunrinne nördlich von Freest dieselt „Dömitz“ auf das schmale Landtief-Fahrwasser zu. Kurs West mit knapp 10 Kilometern pro Stunde. Die Gangbord neben der Ladeluke, knapp über der Wasserlinie gelegen, wird jetzt geflutet. Inzwischen hat Schiffsführer Norbert Hagemann das Ruder, einen kleinen Joystick-Hebel, übernommen. Kurs West mit nur zehn Kilometern pro Stunde, weil Wind und Wellenhöhe zunehmen. Stralsund traffic warnt vor Windstärken bis sieben, in Böen acht. Die Gangbord neben der Ladeluke, knapp über der Wasserlinie gelegen, wird geflutet. Am Steven explodieren die vierkant von vorn anrennenden Eineinhalb-Meter-Seen und fliegen als meterhoher weiße Gischtwolken nach achtern. „Das erleben nur wenige Binnenschiffer“, ist sich Norbert Hagemann sicher. Die beiden Pommern finden die leichten Bewegungen schön: „Das ist doch Seefahrt pur!“
Während der Fahrt über den Greifswalder Bodden erzählen sie kuriose Geschichten, vor allem aus DDR-Zeiten. Einmal sei hier im Bodden ein Steuermann von einer Welle sogar über Bord gewaschen worden.
Ulrich Krüger schrieb so etwas immer auf. Er hat, verrät er sein Hobby, über die Jahre viele Artikel für die Zeitschrift der Deutschen Binnenreederei verfasst und Fotos geschossen.
Das Motorgüterschiff MS „Dömitz“, 1960 als „Typ Boizenburg“ in der gleichnamigen Elbe-Stadt gebaut, passt wie maßgeschneidert ins Revier: 67 Meter lang, 8,19 Meter breit, beladen maximal 2,36 Meter tief gehend und mit 805 Tonnen vermessen. Letztes seiner Art, das in Mecklenburg-Vorpommern verkehrt. „Zu DDR-Zeiten sind wir sogar“, erklärt Ulrich Krüger nicht ohne Schifferstolz, „mit nautischer Sonderausrüstung bis nach Rostock und Dänemark gefahren“. Und damit über das genau durch Grenzen festgelegte Küstengewässer, die Zone 2, hinaus auf die hohe See.
Vor der Eisenbahnbrücke der Strecke Stralsund-Berlin und dem Peene-Hafen mit seiner Speicherkulisse beginnt die außergewöhnliche sonntägliche Frachterreise zur Hansestadt Stralsund.
Kleine Rechenübung
Mit 604 Tonnen Dünger aus dem 80 Kilometer entfernten polnischen Police, dem früheren Pölitz an der Oder, im Laderaum. Statt 24 LKW bewältigt nur ein Binnenschiff die Ladung und verbraucht statt 630 Liter Diesel nur 370. Allemal eine positive CO2-Bilanz. „Wozu haben wir denn Wasserstraßen?“, fragt Schiffsführer Ulrich Krüger nach dieser kleinen Rechenübung zur Begrüßung in Anklam, der 1264 gegründeten ehemaligen Hansestadt mit Steintor, Pulverturm und Denkmal für den hier geborenen Flugpionier Otto Lilienthal.
Zeit für einen kurzen historischen Rückblick: In Anklam am Peene-Ufer dümpelt noch die kleine „Valeria“. „Solche lütten 90-Tonner“, weiß Krüger, „luden hier vor und nach dem Krieg Torf, Kartoffeln, Raps, Zuckerrüben und Getreide oder brachten Kohle und Kalkstein zu den früheren Zuckerfabriken in Jarmen und Demmin“. Heute fristet sie ihr Dasein als Wohnschiff.
Überall in der Region gab es bis zur Wende Lade- und Löschstellen, von denen der kostengünstige Transport per Binnenschiff profitierte. „Das ist alles Vergangenheit“, bedauern Krüger und sein Kollege Norbert Hagemann, „weil dem LKW Vorrang eingeräumt wird, obwohl er Straßen und Umwelt stark belastet. Verstehe das, wer will!“ Pro Tonne bekommen sie gerade mal knapp über fünf Euro. „Manchmal“, gibt Krüger die Ertragssituation zu bedenken, „reicht es noch nicht mal für die Krankenkasse“. Drei solche Reisen wie diese müssten es schon pro Monat sein, um wirtschaftlich gegen die Straßen-Konkurrenz zu überleben. Obwohl die Frachtkosten zwischen Binnenschiff und Laster im äußerst günstigen Verhältnis von 1 : 7 stehen. Dennoch hat MS „Dömitz“ in seinem langen Schiffsleben rund eine Millionen Tonnen transportiert und hat dabei zwei Mal die Erde umrundet. „Mächtig gewaltig!“, hätte Egon Olsen jetzt erstaunt dazu gesagt.
Investitionen lohnen nicht mehr
Nach der Rundung von Palmer Ort, Rügens Südwest-Kap, wird es ruhiger. Hinter der Glewitzer Fähre, die zwischen Rügen und dem Festland pendelt, zeichnet sich voraus ein Klotz ab: die Schiffbauhalle der Volkswerft Stralsund. Die Wolken kontrastieren zum rotgoldenen Abendhimmel, den die zarten Spitzen die Kirchtürme der Hansestadt anpieksen.
Nach rund 100 Kilometern und elfeinhalb Stunden Fahrtzeit können die beiden Binnenschiffer ihre altgediente „Dömitz“ im Stralsunder Nordhafen festmachen und sich ein Feierabend-Bier gönnen. In neun Stunden soll am nächsten Tag, wenn es nicht regnet, die Ladung gelöscht sein, bis es wieder Kurs Heimat an die Peene geht. „Dann ist aus vorbei!“, freut sich Norbert Hagemann auf seine Zeit an Land.
Beide wundern sich über den infernalischen Lärm im Hafen. Den verursachen zwei Bagger, die Schrott aus einem Güterzug entladen und das Metall jedes Mal laut polternd auf einen Haufen packen. „Da kommen wir hier wie die Anwohner vor 22 Uhr nicht zur Ruhe“, schüttelt Krüger den Kopf, der nach einem langen Arbeitstag müde ist, „warum machen die das nicht im Frankenhafen oder Südhafen, da ist genügend Platz und niemand wird gestört“.
Zu Schrott allerdings soll die „Dömitz“ noch nicht werden. Hoffentlich, möchte man meinen, bleibt der geschichtsträchtige Oldtimer erhalten. Seine Hauptuntersuchung 2018 hat er noch überstanden. Ulrich Krüger und Norbert Hagemann, beide schon über 40 Jahre auf der Brücke, Eigner und Schiffsführer, sehen die nächste eher skeptisch: „Investitionen lohnen nicht mehr, und Reparaturen sind teuer. Wir sind froh, dass wir hier noch was verdient haben und bis zur baldigen Rente über die Runden kommen“. Darum haben sich beide entschlossen, die „Dömitz“ zu verkaufen. Die Stadt Anklam würde das Schiff gern an Land holen. „Aus dem Laderaum könnte ein Schwimmbecken werden“, sinniert Krüger, „und das Heck als Museum erhalten bleiben. So hätten alle was davon“.
Infos über die MS DÖMITZ
Auftraggeber: VEB Deutsche Binnenreederei, Berlin;Bauwerft: VEB Elbe-Werft, Boizenburg, Baujahr: 1960; Typ „Motorgüterschiff Boizenburg – I“; insgesamt gebaut (1960-1964 auch auf den Werften Oderberg und Roßlau) 90 Schiffe (später vielfach auf 80 m verlängert mit Tragfähigkeit 1.046 t); Länge über alles: 67 m ; Breite: 8,19 m, Seitenhöhe: 2,50 m / Gesamthöhe: 3,95 m; Tiefgang leer: 1,17 m, beladen: 2,35 m; Tragfähigkeit max. nach letzter Eichung: 845 t; Maschinenanlage: 8-Zyl.-Hauptmaschine Typ 8 NVD 36 A, Leistung: 420 PS / Drehzahl 375 U/min, VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“, Magdeburg; Ruderanlage: 60 Grad schwenkbar; Geschwindigkeit: 14 km/h (max.); Laderaumabdeckung : Stahl – Rolldeck; Einsatzgebiet: DDR-Wasserstraßen, Küstenfahrt, später auch westdeutsches/europäisches Wasserstraßennetz; die Schiffe waren z.T. eisverstärkt, konnten als Schub- und Schleppverband fahren; typisch: die abgeschrägten Steuerhausfenster.