Krisenfest: Der Theatersommer Netzeband spielt „Bluthochzeit“ von Federico Garcia Lorca

Eine Szene aus dem Stück "Bluthochzeit" von Federico Garcia Lorca, aufgeführt im Theatersommer Netzeband 2020. © Foto: Uwe Hauth, BU: Stefan Pribnow

Netzeband, Berlin, Deutschland (Weltexpress). Endlich können sich die Vorzüge des Theatersommers Netzeband in allen ihren Dimensionen bewähren. Seit 25 Jahren wird er als Synchrontheater gestaltet. Die Schauspieler agieren stumm, und ihre Stimmen werden vom Band ins Auditorium übertragen. Das hat zwei Vorzüge: stimmlich nicht geschulte Schauspieler können locker agieren und die Tontechnik kann jeden Winkel im Gutspark erreichen. Zudem werden die Texte von Profis eingesprochen und Regisseur und Tonmeister können die beste Aufnahme auswählen. Nun kommt der Kniff: die von Lautsprechern übertragenen Stimmen befördern das Spiel mit großer Gestik, und sie erlauben das Spiel mit Masken. Das eben ist die Erfindung von Frank Matthus, die in Netzeband gepflegt wird – faktisch das Markenzeichen des Theatersommers. Schon deshalb kommen die Zuschauer aus nah und fern.

Dieses Jahr zwang und zwingt die Pandemie Theater und Orchester zu langen Unterbrechungen und schließlich zum Spiel in ausgedünnten Sälen. Lösungen mussten gefunden werden, die aber immer eine Notlösung bleiben. Genau das war für Netzeband eine leichte Übung. Der Hang unterhalb der Temnitzkirche bildet eine Art Amphitheater. Die »Bühne» ist die Wiese am Fuße des Hügels. Die Netzebander haben das nun »gedreht». Der Hang wurde zur Bühne, mit der Kirche als Kulisse, und der »Zuschauerraum» auf die Wiese verlegt. Die Wiese ist groß genug, um die üblichen 360 Sitzplätze mit den vorgeschriebenen Abständen auf ihr verteilen zu können. Egal, wie weit sie von der Szene entfernt sind, erreicht der Ton jeden. Es können so viele Leute kommen wie immer – wichtig für die Einnahmen. Die Premiere war ausverkauft, auch die weiteren Vorstellungen waren bisher gut ausgelastet.

Wahre Begebenheit erhoben zur lyrischen Tragödie

Gespielt wird heuer die lyrische Tragödie »Bluthochzeit» von Federico Garcia Lorca, uraufgeführt 1933 in Madrid. Anlass für Lorca war ein Mordfall, der sich 1928 in einem andalusischen Dorf zugetragen hatte. Eine Braut war vor der Hochzeit mit ihrem Geliebten geflohen und jener war von einem Maskierten erschossen worden. Der Bräutigam leugnete jede Beteiligung. Beschuldigt wurde, wer sonst? – die junge Frau.

Dies war für Lorca die Vorlage zu einem Stück, in dem die Grausamkeit der jahrhundertealten Sitten gegeißelt wird, in denen Ehre und Blutrache ungeschriebene Gesetze sind. Hier flieht die Braut nach der Trauung mit ihrem Geliebten. Sie werden verfolgt und gefangen, Bräutigam und Geliebter erstechen einander, die Braut »bewahrt» ihre Ehre als Witwe. Um diese Fabel entwickelt der Dichter die Beziehungen der Familien, die in alter Feindschaft befangen sind und wo die Gesittung der Frau ein Teil der Ehre des Mannes ist. Die Figuren des Stücks offenbaren auch die ökonomischen Ursachen der Konflikte – die Unterschiede von arm und reich, die Abhängigkeiten und Unvereinbarkeiten. Mit dem Aufbegehren der Braut bringt Lorca das Recht auf weibliche Selbstbestimmung auf die Bühne – eine Anklage der unerträglichen sozialen Verhältnisse in der spanischen Gesellschaft. Wegen seiner republikanischen Einstellung wurde Lorca von den Francofaschisten verfolgt und im August 1936 ermordet.

Ein neuer Stil, der neugierig macht

Regie führte in Netzeband zum ersten Mal Herbert Olschok, langjähriger Schauspieldirektor in Weimar, Chemnitz und Dessau. Olschok ließ die Schauspieler trocken, beherrscht, aber in ihren Ausbrüchen vehement spielen. Die Andeutungen andalusischer Tänze waren streng stilisiert, ein Schwelgen in Folklore bewusst vermeidend. Wie immer war es ein Vergnügen, Berufs- und Laienschauspieler auf gleichem Niveau spielen zu sehen. Von 21 Darstellern sind sechs Profis. Die Mehrheit sind Jugendliche aus Netzeband und der Ostprignitz, Menschen, die aus Spielfreude zum Theatersommer kommen. Neu war fast durchweg ein Team von Regie, Bühnenbild und Technik. Ein Gewinn ist die Maskenbildnerin Ulrike Alexandra Pommenering. Ihre Masken sind streng, zerfurcht, vergrämt – Gesichter schwer arbeitender Bauern. Sie erinnern an die Masken, die Brecht für den Kaukasischen Kreidekreis fertigen ließ, mit dem Unterschied – dort Halb-, hier Vollmasken. Ein neuer Stil, der neugierig macht. Leider war die Bühne nicht gut genug ausgeleuchtet, um die Schönheit der Masken und Kostüme bewundern zu können. Die Dialoge der Neuübersetzung von Karina Gomez-Montero verflechten poetische Schönheit und Volkstümlichkeit. Berührend ist die Begeisterung der Schauspieler, wenn sie am Schluss ihre Masken ablegen.

Reflexion des eigenen Lebens steht noch aus

Mit »Bluthochzeit» bringt der Künstlerische Leiter Frank Matthus einen modernen Klassiker auf die Bühne, der eine tragische Geschichte in einer fernen Welt erzählt. Wenn es im Programmheft heißt, dass »der Konflikt zwischen individuellem Glücksstreben und gesellschaftlichen Zwängen bis heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat», ist das sehr weit hergeholt. Der Zuschauer wird von der Tragödie gefesselt, aber ihre Bedeutung bleibt sehr abstrakt in einem Umfeld, das von der Härte der kapitalistischen Gesellschaft mit völlig anderen Zwängen – Sorge um Bildung, Arbeit, Gesundheit – belastet ist. Die Reflexion des eigenen Lebens auf dem Theater bleibt in Netzeband noch immer ein weißer Fleck. Das Leben auf dem Lande, mal von hier, wäre doch verlockend. Interessant wären Stücke von Heiner Müller, Erwin Strittmatter, Peter Hacks, Rudi Strahl, Helmut Baierl und anderen, und wie die von den Leuten aus der Gegend heute erlebt würden. Netzeband lebt vom Aha-Effekt. Sein Publikum erlebt gern Überraschungen.

Weitere Vorstellungen am 14., 15., 21., 22., 28. und 29. August, jeweils 20.30 Uhr

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