Der Himmel, den die kleine Hexe durchkreuzt, ist nicht voller rosa Wolken. Schon während ihres Anflugs auf den Ort ihrer Hexenprobezeit überfällt Kiki eine Gewitterfront. Der raue Wind der Erwachsenenwelt weht ihr symbolisch entgegen. Das Air ist kühl in dem malerischen Küstenstädtchen eines fiktionalen Frankreichs zwischen Tradition und nouvelle vague. Kiki bezieht die staubige Dachkammer der Bäckerin Osono (Keiko Toda), in deren Geschäft sie aushilft. Mit ihrem Flatterkleid und der überdimensionalen Schleife im Haar erinnert die Altersgenossen gegenüber misstrauische Kiki an ein Kind in Erwachsenenkleidung. Osono gesteht sie, dass sie sich für ihr schwarzes Kleid geniert. Doch bunt gestattet der Hexenbrauch nicht. Doch eine Hexe will sie um jeden Preis werden, damit „Kikis kleiner Lieferservice“ weiter Päckchen per Besenluftpost transportieren kann. Ihr Kleid ist auch Arbeitskittel, den Kiki nicht ablegen kann, weil die finanzielle Not sie dazu zwingt. Armut und materielle Beschränkung sind in vielen Filmen der Ghibli Studios präsent. In „Die letzten Glühwürmchen“ führen sie sogar zum Tod der Protagonisten.
Versteckte Details und unscheinbare Momente erzählen den ernsthaften Subplot. Im Supermarkt zeigt Jiji auf eine bedruckte Tasse. An der Kasse steht sie zwischen Kikis Einkäufen. An im Schaufenster ausgestellten Schuhen geht ihr Blick jedoch sehnsüchtig vorbei, sie ernährt sich von Billigessen und überlässt ihren Proviant Jiji. Statt auf die Party ihres Freundes Tombo (Kappei Yamaguchi) fliegt sie arbeiten. Sie arbeitet trotz Einbruch der Dunkelheit, arbeitet trotz Sturmwetter, arbeitet ohne Bezahlung. Bis zum Umfallen, im wörtlichen Sinne. Oft ist Kiki innerlich zerrissen zwischen Sehnsucht und Pflichtgefühl, Wunsch und Wirklichkeit. Ein Engel ist sie in ihrer aufopferungsvollen Hilfsbereitschaft fast selbst. Statt eines Teufelchens sitzt dafür der schwarze Kater Jiji auf ihrer Schulter. Jiji verkörpert Kikis Es, dass Bedürfnisse artikuliert: Furcht, Müdigkeit, Erschöpfung, Hunger, Frustration und Sehnsüchte.
Wie stark die kleine Hexe ihre natürlichen Bedürfnisse unterdrückt, symbolisiert der trotz seines fantastischen Sujets emotional authentische Film darin, dass Kiki Jiji schließlich nicht mehr verstehen kann. Ihre Hexenkraft verrinnt mit ihrer Lebenslust, die Last der Erwachsenensorgen drückt ihren Besen auf die Erde. „Kikis kleiner Lieferserviec“ ist das Gegenstück zu den meist die Wichtigkeit von Fleiß und Hilfsbereitschaft betonenden westlichen Kinderfilmen, deren Figuren im als wirtschaftliche Norm dargestellten Überfluss leben. „Der Lieferservice der kleinen Hexe“, so der mit dem Buchtitel identische japanische Originaltitel, lehrt die lebhaftesten von Miyazakis zahlreichen Heldinnen nicht Benehmen und Verantwortung, sondern Selbst-Bewusstsein – für ihre eigenen Wünsche. Nur der Zauber der Kindheit kann eine kleine Hexe fliegen lassen und beschwingt machen wie der magische Studio-Ghibli-Animé.