„Es gibt zwei Arten von Ratten / Die hungrigen und die satten. / Die satten bleiben vergnügt zu Haus / Die hungrigen aber wandern aus.“
Eine „Berliner Tragikkomödie“ nannte Hauptmann „Die Ratten“. Deren Naturalismus verdrängte 1911 die aufkeimende Moderne. Der realitätsnahe Ansatz, dass „eine Putzfrau aus der Uhlandstraße“, wie es im Stück heißt, genauso Dramenfigur sein kann, wie Lady Macbeth, war halb von dem Avantgardismus eines Alfred Jarry überholt, halb vom Konservativismus erstickt. Letzten verkörpert Horst Lebinsky als Harro Hassenreuther. Ehemaliger Theaterdirektor, vertritt Hassenreuther ein verklemmtes Bildungsbürgertum geprägt von Dünkel und finsterster Reaktion. Die sprachlichen Schnitzer seines Umfelds korrigiert er genüsslich. Gelegenheit dazu bietet sich reichlich. Es wird Jargon geredet, dass selbst Urberliner angestrengt zuhören müssen, um die umgangssprachlichen Dialoge zu verstehen. Zu lachen gibt es in Hauptmanns „Tragikkomödie“ genanntem Proletarierdrama wenig. Dabei könnte man es als Komödie auf die Bühne bringen, als Groteske sogar. Doch Michael Thalheimer wählt einen anderen Weg.
In der Bürgersfamilie vollzieht sich die pathetische Nebenhandlung, das Gegenteil des menschlichen Leids der Arbeiter. Hier begreift man Hauptmanns Wortwahl „Tragikkomödie“. Tragödie und Lustspiel spielen nebeneinander auf zwei Ebenen, die auch soziale Stufen sind, dem Dachboden und in der Wohnung. Das von der Fachzeitschrift „Theater heute“ preisgekrönte Bühnenbild des Jahres 2008 von Olaf Altmann gleicht einer Mauerritze. Hier spielt sich die Handlung doppelt doppelbödig ab. Nicht einmal aufrecht stehen lassen die niedrigen Holzplatten die Darsteller. Ihren Figuren ist das Eingekeiltsein zur Gewohnheit geworden. „Da tut schon vom Hinsehen der Rücken weh!“, kommentiert eine Besucherin. So geht es einem im praktischen Sinne auch auf den Seitenplätzen des zweiten Rangs, wo man sich ähnlich verrenken muss. Doch das erste Szenebild lässt alles andere vergessen. Ein Feuerzeug glimmt auf im abgedunkelten Saal. Den symbolischen Hoffnungsschimmer lässt Regisseur Thalheimer mehrmals aufleuchten. Am Ende wird er ausgelöscht. Das grausam-komische Schicksalsspiel lässt keinen Platz für Romantik.
An den Bühnenrand gekauert wimmert und wütet das hochschwangere polnische Zimmermädchen Pauline Piperkarcka (Regine Zimmermann) auf dem Dachboden, wo die Ratten kriechen. Sie will sich in den Landwehrkanal werfen, das Neugeborene erwürgen, dem untreuen Vater das Gesicht mit Vitriol verätzen. Überspitz gespielt könnten das alberne Tiraden eines überspannten jungen Dings sein. Dabei war der Kanal berüchtigt für Selbstmörderinnen, getötete Neugeborene sind in den Medien bis heute traurig geläufig und Vitriolanschläge waren damals so häufig, dass in den Nachbarländern die Begriffe „vitrioleur“ und “vitriolize“ entstanden. Umgestimmt wird Pauline von der Putzkraft Mutter John (Constanze Becker), die keine Mutter mehr ist. Ihr Söhnchen starb einst. Um ihre Ehe zu retten und irgendwie sich selbst, will Mutter John um jeden Preis ein „Kindekin“, das Paulines nämlich. Vater John (Sven Lehmann) befindet sich im Glauben, ein zweites Mal Vater geworden zu sein, auf dem Heimweg von der Dienstfahrt. Von der ersten Szene an überwältig die schauspielerische Wucht von Thalheims Inszenierung. Constanze Becker wurde für ihre Rolle zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Pauline schreit vor Verzweiflung und Wehenschmerz und schließlich hält Mutter John, ein stummer Verweis auf den Vergleich zwischen Putzfrau und Lady Macbeth, dem Publikum ihre blutigen Hände entgegen. Besudelt sind sie, nachdem sie dem Kind in die Welt geholfen hat, wenn sie später zum Mord an dessen Mutter anstiftet, bleiben die Hände rein. Das Tauschgeschäft Geld gegen ungewolltes Kind ist vollzogen.
Nun lernt man die braven Bürger kennen. Nachdem man ihn bei einem ungelenken Verführungsversuch auf dem Boden sah, schenkt Harro Hassenreuther der vermeintlichen Mutter einen Milcherhitzer. Vor seiner Ehefrau und Tochter Walburga gibt er mit der paternalistischen Gabe den Wohltäter, damit Frau John „nicht wieder Pech hat“ wie beim Tod des ersten Kindes. Die nicht „desinfizierte“ Muttermilch der Putzfrau stellt er indirekt als krankheitserregend dar, gibt ihr somit die Schuld am Tod des Kindes. Walburga liebt den Möchtegernschauspieler Erich Spitta. Den könnte man als Liberalen zwischen den Ewiggestrigen aufführen. Doch Thalheim fühlt die subtile Ironisierung in Hauptmanns Figur. Spitta ist jämmerlich verklemmt. Rebellischer Individualist wäre er gerne, doch fehlen ihm dazu Mut und Geist. Das Pärchen möchte durchbrennen, kneift aber, und faselt nebenbei von Selbstmord und Elend.
Fast expressionistische Züge gewinnen die bizarr aufeinander abgestimmten Ereignisse. „Die Ratten“ sind die Unterschichtsmenschen der Handlung. „Unter-Menschen“ zieht Hassenreuther in Anspielung auf die Angestellten zwei Worte zusammen. Ungeziefer sind die um ihre Existenz Kämpfenden für ihn. Eine „Ratte“ nennt der ehemalige Theaterdirektor, an dessen Schauspieltechnik der Zahn der Zeit nagt, den jungen Schauspielschüler Erich Spitta. Hassenreuthers pauschales Aburteilen zeugt von seiner Angst, von der folgenden Generation überflüssig gemacht zu werden.
„Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.“
Gesellschaftsschichten, Alte und Junge – auf der Bühne kämpft jeder gegen jeden. Als Pauline zurückkehrt und ihr Kind fordert, schiebt ihr Frau John heimlich das sterbenskranke Baby der morphiumsüchtigen Nachbarin Frau Knobbe unter. Als abgewirtschaftete einstige Aktrice Knobbe hat Kathrin Klein einen herausragenden Kurzauftritt: „Denken Sie nicht, mein besseres Fühlen ist in dem Sumpf erstickt.“, mahnt sie Hassenreuther daran, dass selbst die tief Gesunkenen fühlende Individuen sind. Sie strahlt eine heruntergekommen Würde aus. Ihrer schäbigen Eleganz kann Hassenreuther nichts entgegensetzen. Bruno, der kleinkriminelle Bruder Frau Johns, soll Pauline zum Schweigen bringen. Nachwuchsschauspieler des Jahres Niklas Kohrt wird als Bruno zum psychopathischen Zentrum des Ensembles. Unverschämt, provozierend und mit gespenstischem Humor schlendert er über die Bühne, bis er in einer darstellerischen Tour de Force Frau John gesteht, er habe Pauline umgebracht. Das habe sie nie gewollt, beteuert diese. Doch insgeheim hat sie es vielleicht und deshalb ihren gewalttätigen Bruder beauftragt. In der Charité will Bruno auf „Bammelmann“ machen, wenn sie ihn erwischen. Die ist gleich um die Ecke, da hat er es nicht weit, als er sich davon macht. Seine Schwester umklammert verzweifelt das gefundene Hufeisen, welches er ihr da lässt. Er braucht es nicht mehr und auch für Frau John kommt es zu spät. Auf dem Boden kauert sie in Embryonalhaltung, als wäre sie selbst ein ungeborenes Kind. Unter der groben Sprache, dem rüden Benehmen von Hauptmanns Proletariervolk liegen die Gefühle bloß. Die gespreizten Worte des Theaterdirektors, seiner Gattin und die Überspanntheit seiner Tochter kaschieren notdürftig deren emotionale Kälte. Das Hufeisen als Verkörperung von Hoffnung und Glück hält Vater John am Schluss umfasst, ein gebrochener Mann. „Wir sind die Zukunft.“, tönt es von Walburga und Erich kurz zuvor. Keine hoffnungsvolle Zukunft.
In einer gradlinigen Inszenierung fügt Thalheimer die Ebenen von Hauptmanns Stück zu einem Werk von emotionaler Wucht zusammen. Gefangen in der Komposition aus Bühnenbild, Bert Wredes minimalistischer Klavierbegleitung und der spröden Dynamik des Ensembles vergisst man die Ungewohntheit der Sprache, das leicht Konstruierte der Handlung. Beklemmend wie das Bühnenbild ist die Vorführung, erschreckend authentisch die darin gefangenen Menschen. Dass der Originaltext um fast die Hälfte gekürzt wurde, gleicht Thalheims „Die Ratten“ durch Präzision und Eindringlichkeit aus. Beim Verlassen des Hauses huschen sie noch lange durchs Gedächtnis, „Die Ratten“ des Deutschen Theaters.
Titel: Die Ratten von Gerhart Hauptmann
Regie: Michael Thalheimer
Bühne: Olaf Altmann
Darsteller: Constanze Becker, Regine Zimmermann, Katrin Klein, Horst Lebinsky, Sven Lehmann, Niklas Kohrt
Weitere Termine: noch nicht feststehend