Guter Mensch, aufrechter Bürger, exzellenter Wissenschaftler, humaner Arzt, liebevoller Familienvater, Lyriker und Kinderbuchautor – Serie zum Zweihundertsten Geburtstag: der Heinrich Hoffmann Sommer 2009 in Frankfurt am Main (Teil 2/10)

Heinrich Hoffmann fotografiert

Er diskutierte viel und schloß sich verschiedenen Vereinigungen an, legte aber seit der Freimaurerei von vornherein kompromißlos Wert auf religiöse Toleranz und Gleichberechtigung. Das sind übrigens die Einstellungen, die sich im Struwwelpeter als erzieherische Maßnahmen wiederfinden. Im Vormärz war er Gründungsmitglied einer GESELLSCHAFT DER TUTTI FRUTTI. Das waren die Deutsch-Nationalen, die sich auch im Überwachungsstaat tarnen mußten und sich deshalb nach Obst- und Gemüsesorten nannten. Alles Früchte also. Heinrich Hoffmanns Deckname war „Zwiebel“. Schon diese wahre Geschichte klingt wie eine erfundene von Heinrich Hoffmann.

Politisch war er also für die kleindeutsche Lösung und befürwortete dann später 1866 sogar die Annexion der Freien Stadt Frankfurt durch Preußen. Schluchz. Schluchz. Aber er hat wiederholt ausgeführt, weshalb er den Siegesparolen der Republikaner nicht glaubte und sie satirisch begleitet im HANDBUCH FÜR WÜHLER oder KURZGEFASSTE ANLEITUNG, IN WENIGEN TAGEN EIN VOLKSMANN ZU WERDEN. Auch in DER HEULERSPIEGEL redet er Tacheles. Aber das sind nur Worte. Seine Taten lagen woanders und da ist im der Respekt aller gewiß. Er hat die IRREN genannten Kranken und auch die EPILEPTISCHEN aus ihren menschenunwürdigen Löchern herausgeholt, reinen Verwahranstalten, sogenannte Tollhäuser, in denen sie als unheilbar dahinvegetierten. Heinrich Hoffmann hat von 1851 bis zu seiner Pensionierung 1888 als Direktor der städtischen Nervenanstalt diese psychisch und psychiatrisch Kranken auch ideologisch aus den gesellschaftlichen Löchern herausgeholt und ihnen als Kranke einen neuen Status verschafft.

Mit Hilfe vieler Stifter, die es paradigmatisch für den Bürgersinn dieser Stadt bis heute gibt, konnte er ab 1859 auf dem Affenstein einen gewaltigen neugotischen und repräsentativen Bau, die erste echte psychiatrische Klinik Deutschlands bauen, die 1864 mit den 101 Insassen des aufgelösten Tollhauses, der „Anstalt für Irre und Epileptische“ eingeweiht wurde – in Frankfurt nur IRRENSCHLOSS genannt – und in der er vor allem die Jugendpsychiatrie als Disziplin überhaupt begründete. Sein Bemühen die geistig Kranken als Menschen zu betrachten und Zwangsmaßnahmen fernzuhalten, führten seine Nachfolger weiter und gleich 1888 trat Alois Alzheimer in Hoffmanns Klinik ein, der nicht nur die Demenz in der Alzheimerschen Form diagnostizierte, sondern die Bettbehandlung der Kranken einführte sowie ihr Aufenthalt im Freien, im Garten oder sogar wandernd und von Zwangsjacken, Zwangsfütterung und anderen Zwangsmitteln Abstand hielt.

Eine weitere Ironie der Geschichte ist es auch, daß dieses Gelände später von den IG Farben aufgekauft wurde, der mächtigsten Wirtschaftsgruppe in der Weimarer Republik, die dort etwas südlicher 1928 ihr Wirtschaftsschloß errichten ließen, das IG Farben Haus, von Hans Poelzig im Stil der neuen Sachlichkeit erbaut. Das ist ein wunderschönes langgestrecktes und sanft gebogenes Gebäude nebst Casino, ebenfalls sehr repräsentativ und auch monumental, aber nicht massiv oder bedrückend, worauf die Amerikaner schon vor ihrem Kriegseintritt ein Auge als ihr zukünftiges Hauptquartier geworden hatten, weshalb es in der ansonsten völlig zerbombten Stadt von Angriffen verschont blieb. Vorausschauend und so kam es auch. Erst in den Neunzigern zogen die Amerikaner aus Frankfurt ab und die Stadt Frankfurt und das Land Hessen entschlossen sich, die gesamte Anlage als Universität zu nutzen und bauten und bauen sie aus. Auch weit hinaus über den Affenstein. Ist das eine Geschichte? Wie hätte Heinrich Hoffmann die in Worte gekleidet? Vom Irrenhaus über die Zyklon B Verbrecher zur Universität?

Kommen wir zurück zu den Worten, seinem einen Zipfel. Er selber klagte nämlich schon 1849: „Mich Unglücklichen hat es an drei Zipfeln gefaßt, und zerrt mich bald dahin, bald dorthin, da ist die Praxis, da pathologische Anatomie, und das bißchen geheimer Musendienst.“ Denn Heinrich Hoffmann war neben Reimerich Kinderlieb auch Heulalius von Heulenburg, Peter Struwwel und auch Polycarpus Gastfenger. Und seine Gedichte waren nicht nur satirischer Art. Übrigens ist die Ausgabe des uns allen bekannten Struwwelpeters nicht der Erstausgabe nachempfunden. Schon 1858 änderte er seine Originalfassung – die übrigens im Deutschen Nationalmuseum in Nürnberg verwahrt wird -;, er dichtete drei Erzählungen dazu und vor allem die einzige Mädchengeschichte bei den vorhandenen neun bösen Buben, das Paulinchen mit ihren Katzen, so daß es zehn Geschichten sind, die aber viele Familien in ihrer Familiensprache mit weiteren Geschichten auffüllen. Auch die Bilder wurden völlig neu gezeichnet und genau diese Fassung wurde dann bis heute beibehalten, mit dem Titelbild des Struwwelpeters, fest verankert in unserem kulturellen Gedächtnis der Deutschen.

Aber er schrieb weiter, für Kinder und für Erwachsene. 1851 veröffentlichte Hoffmann KÖNIG NUSSKNACKER UND DER ARME REINHOLD, wieder mal zu Weihnachten, wo ihm der Erzählbedarf für Kinder wohl besonders auffiel. Einen Nussknacker als Rolle hatte es noch nie gegeben. Und dieses Buch machte gestalterisch Karriere und gab einer ganzen, sehr armen Region ein Produkt an die Hand, das sie bis heute in der ganzen Welt vermarktet. Das ist der gedrechselte Nußknacker aus dem Erzgebirge, der einfach zu jeder Weihnachtseinrichtung gehört. Er sei aus Seiffen, sagen einige Quellen. Mein Vater, der eine ganze Batterie davon hatte, betonte dagegen, der Nussknacker sei in Eibenstock im Erzgebirge zu Hause, seinem Heimatort.

Wir können weder ihn noch Heinrich Hoffmann mehr fragen. Aber ist das nicht unglaublich, wie ein einziger Mann so viel in Bewegung setzte wie dieser Urfrankfurter mit der aufrechten Gesinnung, dem Herz auf dem rechten Fleck, dem Wissenschaft und das Wissen um den Menschen und die Anwendung des Wissens zur Heilung der Menschen gleich viel wert waren, der seinen Geist anspitzen konnte wie einen Bleistift und dann auch noch zeichnen und malen konnte. Und ein angenehmer Gatte, Vater, Mitbürger und Chef.

„Chapeau!“, Herr Heinrich Hoffmann.

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Gängige Struwwelpeterausgaben:

Der Struwwelpeter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt, Reclam, Stuttgart 2009

Der Struwwelpeter, Schreiber, Esslingen 1992

Bis zu seinem Todestag am 20. September werden in Frankfurt viele Ausstellungen diesen Heinrich Hoffmann Sommer begleiten, auf die wir noch eingehen.

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