Während Klein Georg leidet, beginnen wir dieses Schwatzmaul liebzugewinnen, diesen barocken Schelm, der uns ein X für ein U vormacht und Nebel verbreitet, indem er manches ganz detailliert erzählt: „Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar – und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel -, daß mich eine helle Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein.“ (10) Uns auch. Und es gelingt Jan Faktor tatsächlich den Plauderton, die nebensächlichen Hauptsachen, das Lebensgefühl seiner Zeit, konkret in Prag, im 637 Seiten starken Roman durchzuhalten. Was dieser Roman ist? Nicht gerade Goethes „Wilhelm Meister“ und auch nicht der Kellersche „Grüne Heinrich“ und von Stifters „Nachsommer“ ist auch wenig dabei, aber ein Bildungsroman ist es schon unter Einbezug der l`education sentimentale im Flaubertschen Sinne. Zu den amourösen Tanten- und Cousinengeschichten nachher.
Die Jury hat Jan Faktors Roman mit dem unaussprechlich langen Titel unter die letzten sechs potentiellen Buchpreisträger aufgenommen und dazu eine Begründung verfaßt: „Eine Kindheit und Jugend im sozailistischen Prag von der 50er bis in die 70er Jahre. Jan Faktor erzählt sie als eine Geschichte voller Witz, durch den die Trauer über so viel dumpf vergeudeter Lebenszeit hindurch scheint. Wo sonst träumen kleine Jungen schon davon, Müllmann zu werden? Wenn Faktor die Mülltonnen über das Prager Altstadtpflaster rauschen läßt, tut er dies so anschaulich, daß man den Schmutz, um den es doch geht, fast vergißt. Dieses Buch in seiner eigenwilligen Lebendigkeit und Melancholie ist die Summer eines ganzen Lebens – und der Triumpf darüber.“
Nicht schlecht, wenn man etwas mehr über den Autor weiß, der 1951 in Prag geboren wurde und 1978 zu seiner Frau nach Ostberlin siedelte, nachdem er die Jahre zuvor als Programmierer an einem Prager Rechenzentrum gearbeitet hatte. In Berlin legte er Hand an, wo er gebraucht wurde, bei Menschen als Kindergärtner, bei Sachen als Schlosser und bei Sprachproblemen als Übersetzer. Und darüber hinaus war er Teil der Untergrund- Literaturszene und konnte erstmals 1989 seine experimentellen Texte im Aufbau Verlag veröffentlichen. Ob dieser Georg Jan Faktor selber ist. Natürlich und natürlich nicht. Und außerdem hat er die Figur des Georg als alter ego schon zuvor literarisch eingeführt und verwendet. Auf jeden Fall hat Jan die Zeiten und das politisch aufmüpfig werdende sowie das dann gedeckelte Prag erlebt und das spürt man in jeder Zeile.
Er wächst großbürgerlich auf, wohnt herrlich, noch dazu in einem den Judenmord und die Kz überlebenden jüdischen Frauenhaushalt – „Daß bei uns zu Hause alles Männliche kompromißlos ausgelagert werden mußte, schien mir richtig und konsequent zu sein. Männer hätten unsere Harmonie nur gestört.“ (61) – , wo es unentwegt summt und brummt und sich Klein-Georg symbiotisch wohl behütet fühlt und sein Sorgenorgan: der Penis auch. Denn eine Dame der Familie kümmert sich um diesen und führt in ein in die Wonnen der Fleischeslust, was erst der Anfang dieses Teils des erotischen Entwicklungsromans ist. Welche Funktion sein Glied hat? Welche Funktion im Roman? Das immer wieder lustvoll betonte und weit ausgebreitete Erotisch-Sexuelle – „Alles, was konnte, fuhr aus der schlaffen Vorhaut hinaus und präsentierte sich ungeschützt, glänzend und eichelfest.“ (114) – scheint das nicht kontrollierbare Gegengewicht zu sein zur zunehmenden Einengung des Lebens in Prag, das von politischem Terror, dem Trauma über den militärischen Niederschlag des Prager Frühlings durch die Sowjetpanzer, der Hoffnungslosigkeit und der Verwahrlosung der ganzen Stadt geprägt ist.
Traurig wird man beim Lesen auch, denn da ist soviel Hoffnung gewesen und es geht immer auch um die verlorenen Leben, die Selbstmorde der jungen Mädchen, aber auch das eigene ungenutzte, dem die politischen Verhältnisse die Möglichkeiten nimmt. Ungerecht, daß der Onkel ONKEL bisher nicht vorkam – auf den faden unsympathischen Vater verzichten wir ganz – , dessen Bauernhaus auf Seite 622 renoviert wird, da ist der Bub „etwa zehn Jahre“. Es ist ein Prinzip des Romans, nicht linear, also chronologisch zu erzählen, sondern in vom Pädagogen und Philosophen Johann Amos Comenius aus Ostmähren so genannten ’konzentrischen Kreisen` die Aufzucht und das Werden des Georg immer wieder mitzuerleben. Bis auf einmal Schluß ist. Und man hatte sich an das Weiterlesen, an den mal witzigen, mal elegischen Ton doch so gewöhnt.
Den Buchpreis? Jan Faktor, der schon auf der Frühjahrsliste der Leipziger Buchmesse vertreten war, den Deutschen Buchpreis 2010 geben? Seltsam. Diesmal haben wir zwar einen Favoriten und eine nächste auch, aber es gibt bisher im Jahr 2010 noch keinen Roman, den wir als Preisträger rundherum ablehnen wollten, was sonst jedes Jahr vorkam. Das bleibt spannend diese Auswahl. Bis zum 4. Oktober im Frankfurter Römer bei der Preisverleihung.