Köln, Deutschland (Weltexpress). Die Eröffnung der Kölner Philharmonie vor dreißig Jahren war zweifellos ein Eckdatum der neueren Kölner Musikgeschichte. Für das Gürzenich-Orchester Köln bedeutete der Umzug vom alt-ehrwürdigen Gürzenich-Saal in die moderne Konzert-Arena am Dom in der Tat einen räumlichen Quantensprung, der den renommierten Klangkörper seither musikalisch beflügelt. Und doch führen viele Spuren seiner Erfolgsgeschichte zurück zur einstigen Wirkungsstätte.
Denn schon dort erwies sich das Gürzenich-Orchester stets als „ein lebendiger, für Neues aufgeschlossener Apparat“. So der neue Dirigent des Orchesters Francois-Xavier Roth, zugleich Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte des Traditionsorchesters musikalisch neu zu erzählen. Das Festkonzert in der Philharmonie anlässlich der diesjährigen Saisoneröffnung bietet ihm dazu eine besondere Gelegenheit.
Erstaufführung und Uraufführung
So stellt das Festprogramm mit Bela Bartoks „Konzert für Violne und Orchester Nr.2“ und Gustav Mahlers „Sinfonie Nr. 5“ zwei Werke nebeneinander, „die verschiedene Sichtweisen von Musik“ zum Ausdruck bringen sollen, für die das Orchester stets aufgeschlossen war. Hinzu kommt, dass das Violinkonzert von Bela Bartok mit dem Gürzenich-Orchester im Jahr 1947 seine deutsche Erstaufführung erlebte. Und die Mahler-Sinfonie unter der Leitung des Komponisten mit demselben Orchester im Jahr 1904 ihre Uraufführung feierte. Auf die Neuerzählung beider Werke in der ausverkauften Kölner Philharmonie durfte man demnach gespannt sein.
Im dreisätzigen Violinkonzert, so verfestigt sich der Eindruck, kommt es dem Dirigenten besonders darauf an, stets neu die Aura aufblitzen zu lassen, die das Werk jenseits aller technischen Herausforderungen bereit hält. Und dabei stets die Balance herzustellen zwischen dem Soloinstrument und dem mit starken Blechbläsern ausgestatteten Orchester. Eine Aufgabe, der sich auch Michael Barenboim als Solist des Abends bravourös stellt. Einfühlsam und zupackend zugleich zeigt er Präsenz in den virtuos konzipierten Ecksätzen. Und überzeugt zugleich, besonders im dramatisch bis lyrisch gehaltenen Mittelsatz, durch einen zauberhaft anrührenden Dialog mit der Harfe.
Wucht der Klänge
Mit dem langsamen Satz aus der Solosonate von Bela Bartok bedankt sich der Solist für den frenetischen Beifall des Publikums. Und gibt damit ein Musterbeispiel für die Feinnervigkeit seines Spiels. Dabei entfaltet er das in der Lautstärke vorherrschende Piano zu einem Flüstern an den Grenzen der Hörbarkeit. Ein Klangerlebnis der achtsamen Art, das ein weiteres Mal die Seele berührt.
So bedarf es des Abstands einer Pause, um sich auf die Wucht der Klänge einzustellen, die die Sinfonie Gustav Mahlers mit sich bringt. Militärisch geht es zu im einleitenden Trauermarsch, der sich vom Trompetensolo bis zum vollen Orchesterklang steigert. Eine Verherrlichung des Militärischen, wie Mahler es aus der Habsburger-Monarchie der Vorkriegszeit kannte?
Dämonischer Unterton
Doch das scheint es nicht zu sein. Denn der Komponist verwandelt den Wohlklang des Marsches unter der Hand in ein unheimliches Grummeln mit dämonischem Unterton. Den stellt der Dirigent in seiner Neuerzählung deutlich heraus und verweist damit auf die düstere Vorahnung des Ersten Weltkrieges, die Mahler bereits Jahre vor Kriegsausbruch in sich trug. Und deutet das mehrfache Einfügen von beschwingter Volksmusik nicht auf die verbreitete Ahnungslosigkeit hin, die in der Verführbarkeit der Massen gipfelte? Eine Anfälligkeit, die am Ende des 2. Satz beim lautstarken Einsatz der Blechbläser im Chaos versinkt und sich am Ende des 3. Satzes gar in eine Totentanz-Stimmung verwandelt. Eine wahrhaft prophetische Vision am Vorabend der Katastrophe!
Bevor im Schlusssatz noch einmal das Tektonische im Untergrund in seiner bedrohlichen Stimmung mit wuchtiger Intensität heraufbeschworen wird, besinnt sich Mahler einer lebenswerteren Dimension des menschlichen Daseins. Und fügt mit seinem Adagietto für Streicher und Harfe eine Liebesbotschaft an seine Frau Alma ein. Ein Stück, das nicht so recht in den vorgegebenen Rahmen zu passen scheint, das aber gerade dadurch, so versucht es die Neuerzählung Francois-Xavier Roths zu deuten, seine Besonderheit erfährt. Ein eindrucksvolles Konzerterlebnis zur Saisoneröffnung, das beim Schlussapplaus niemand auf seinem Sitz hält.