Fakten, Hypothesen und Rhetorik – Der TV-Film »Mengeles Erben – Menschenexperimente im Kalten Krieg« klagt Verbrechen gegen die Menschlichkeit an

Neben LSD wurde eine ganze Reihe weiterer Substanzen getestet: Panik oder Chaos erzeugende Folterdrogen, Substanzen, die red- oder vertrauensselig machen, und Wahrheitsdrogen.

Der Bogen spannt sich von den Menschenexperimenten der Nazis an Juden, Sinti und Roma, an KZ-Häftlingen, Behinderten und Kriegsgefangenen über die Menschenversuche Japans an chinesischen Gefangenen und Zivilisten bis zur Erprobung von atomaren, chemischen und biologischen Waffen an Menschen in den USA, in der Sowjetunion, in Nordkorea und der Tschechoslowakei. Nicht weniger bedeutend war und ist die Erprobung von Drogen und Psychopharmaka zur Ausschaltung gegnerischer Stäbe und Raketenbedienungen.

Die wichtigsten von Pohlmann eruierten Tatbestände: Im Krieg gegen China organisierte der berüchtigte General Ishii Shiro – der die Versuche in Nazideutschland studiert hat – mit 10 000 Untergebenen Menschenexperimente mit Seuchen, Unterkühlung, Unterdruck und Bomben, bei denen 300 000 Menschen ermordet wurden. Die USA eigneten sich die Ergebnisse an und stellten die Schuldigen straffrei, trotz ihrer Versuche mit amerikanischen Kriegsgefangenen. Shiro durfte in den USA arbeiten, viele Todesärzte machten Karriere in der Wissenschaft und der Pharma- und medizintechnischen Industrie.

Schwere Vorwürfe erhebt der Film gegen die Sowjetunion, Nordkorea und die Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik. In Nordkorea wurden in Gaskammern chemische Waffen an Insassen von Straflagern erprobt. Menschenversuche werden seit den 20er Jahren in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion durchgeführt, dort an »Volksfeinden«, Strafgefangenen und Soldaten. Tschechische Labors forschten nach 1945 schwerpunktmäßig an LSD, begleitet von Veröffentlichungen und Angeboten auf dem Markt. Der Film beschuldigt die CSSR und die UdSSR, Versuche mit US-Soldaten gemacht zu haben, die in Korea und Vietnam gefangen genommen worden waren. Die Vorwürfe stützen sich auf Aussagen des in die USA übergelaufenen tschechischen Generals Jan Sejna, deren Protokolle jedoch in den USA unter Verschluss gehalten werden. Über 10 000 verschwundene Kriegsgefangene schweigen die US-Behörden.

Verschweigen und Vertuschen gehört  zum Arsenal der Mächte in einem »neuen Kalten Krieg«. Mit Billigung der NATO bleiben die tschechischen Archive verschlossen. Ob und für wen jetzt geforscht wird, ist nicht bekannt.

Der Film prangert Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, für die KZ-Ärzte 1948 in Nürnberg gehängt wurden. Bitteres Fazit: »Die Welt« will die Verbrechen nicht wahr haben und wartet darauf, dass die »Realität endlich verschwindet«. Presse und Öffentlichkeit interessieren sich nicht dafür. Seine Anklage konzentriert sich auf »kommunistische Verbrechen« in der Sowjetunion, in Nordkorea und der CSSR. Was sind die gleichen Erscheinungen auf der Gegenseite – imperialistische Verbrechen? Verbrechen an der Menschlichkeit kann man nicht relativieren. Die Verzerrungen der Wahrheit entstehen erst mit ihrer propagandistischen Interpretation.

Pohlmann dokumentiert Menschenversuche. Unerwähnt bleibt, wo er nichts gefunden  oder nicht gesucht hat. Wie verhalten sich »Demokratien« mit hohem Forschungspotential und high-tech-Armeen? Erschreckend die Tatsache, dass amerikanische Ärzte nach Hiroshima gingen, nicht um zu helfen, sondern um die Wirkung der Bombe zu untersuchen. Frage: Wo ist der Einsatz von Agent Orange in Vietnam einzuordnen, der Tausende Zivilisten verstümmelte und tötete? Wie beurteilt man deutsche Firmen und ihre Manager, die das Gift lieferten?

Nach Lesart des Films wurden die Menschenexperimente direkt vom Militär und von Geheimdiensten durchgeführt. Haben allein sie profitiert? Auf Nachfrage verneinte Pohlmann, Verbindungen zwischen Forschung und Industrie erkannt zu haben. Das mutet blauäugig an, denn das Militär pflegt weder Bomben noch Kampfstoffe selbst zu produzieren.

Ein Filmbericht ist keine Gerichtsverhandlung. Dennoch kann er anklagen und  aufrütteln. Unabhängig davon braucht die Wahrheitsfindung Beweise. Da ist zu fragen, was »gerichtsfest« wäre. Daran muss auch eine Dokumentation sich messen lassen. In diesem Konflikt befindet sich auch Pohlmanns Film. Zum Beispiel werden die Aussagen Sejnas von einem US-Geheimdienstmann nacherzählt. Wie viel davon stimmt?

Skandalträchtig ist der Titel des Films: »Mengeles Erben«. Mengele, Ishii Shiro, Kim Il Sung, Stalin, Chrustschow, die tschechischen Führer und die Befehlshaber des Warschauer Paktes stehen so in einer Reihe. Die Mitautorin Eva Gruberova räumt einen Unterschied ein: Die Experimente der Nazis verfolgten das Ziel, Völker aus rassistischen Gründen zu vernichten oder »Erbkranke« zu dezimieren – rassistische und erbbiologische Motive. Rassismus war auch das Motiv der japanischen Oberschicht. Die kommunistischen Führer hingegen mißbrauchten ihre Macht gegen politische »Feinde« und verheizten Soldaten und Gefangene für die erstrebte Überlegenheit ihrer Waffen in einem mit Massenvernichtungswaffen geführten Krieg. Letzteres gilt auch für die Politiker »demokratischer« Staaten. Die »Erbfolge« Faschismus–Kommunismus folgt der Totalitarismusschablone. Der Aufklärung politischen und kriminellen Handelns dient sie nicht. Mengeles deutsche Erben: Otmar Freiherr von Verschuer, Kurt Blome, Karin Magnussen, Robert Neumann und andere durften in der Bundesrepublik ungeschoren weiter praktizieren.

»Mengeles Erben – Menschenexperimente im Kalten Krieg«, Dokumentarfilm von Dirk Pohlmann, Deutschland 2009, 88 Minuten, Erstausstrahlung auf ARTE am 12. Mai, 20.15 Uhr.

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