Der Geschmack der Worte – Eröffnung des Theatertreffens mit „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth

Das Bühnenbild von Bert Neumann zeigt die Rückseite der Achterbahn mit ihrem Gestänge und mehreren übereinanderliegenden Spielebenen. Oben, zwischen des glitzernden Leuchtbuchstaben des Wortes „Enjoy“, streift Karoline mehrfach herum. Dort oben lernt sie auch den Zuschneider Schürzinger kennen.

Karoline will hoch hinaus. Angelika Richter gestaltet sie als naive Träumerin, die dennoch das Beste aus der Realität zu machen versucht und mit wachen Augen Chancen auf vermeintliches Glück ausspäht. Ohne es zu wollen entfernt Karoline sich dabei von Kasimir. Sie will sich den Spaß, den das Oktoberfest bietet, von ihm nicht vermiesen lassen.

Kasimir jedoch ist nicht nach Spaß zumute. Er ist gerade als Chauffeur „abgebaut“ worden. Mit dem Verlust seiner Arbeit glaubt er, seinen Wert verloren zu haben und auch für die Frau, die er liebt, nichts mehr wert zu sein .Eigentlich glaubt er das nicht. Er sagt es, weil er es so gehört hat und weil es überzeugend klingt.

Horváth hat für die ungebildeten Menschen in seinem Volksstück eine artifizielle Kunstsprache kreiert, eine Art Bildungsjargon mit Phrasen, Floskeln, Hintergründigkeiten, Widersprüchen und Weisheiten, eine Sprache, die nicht der Verständigung dient, sondern dem Schlagabtausch. Ödön von Horváth ging dabei von Personen aus, die gewöhnt sind, Dialekt zu reden und sich deshalb mit einem gestelzten Hochdeutsch hervortun, in dem sich Inhalte verändern. Persönliche Aussagen werden zu Gemeinplätzen.

Der niederländische Theaterleiter und Regisseur Johan Simons hat in seiner Inszenierung auf Lokalkolorit verzichtet. Der Jahrmarkt könnte ebenso gut das Oktoberfest wie irgendeine andere Kirmes oder ein Rummel sein, und die Sprache der Schauspielerinnen und Schauspieler ist nicht mundartlich gefärbt. Das Aufgesetzte, Verfremdete macht sich dadurch bemerkbar, dass eigentlich Gemeintes durch das Angesagte, irgendwo Abgelauschte ersetzt wird. Dies ist eines der Mittel, durch die Simons das Stück dem Heute nahe bringt ohne das Gestern zu verleugnen.

Horváths Sprache ist texttreu beibehalten in dieser Inszenierung, und die meisterhafte Komposition dieser Sprache wird in Vollendung erkennbar durch die den gesprochenen Worten folgenden Pausen, die Stille, in der die AkteurInnen mit ihren Körpern etwas ganz Anderes als das zuvor Gesagte ausdrücken.

Besonders eindringlich ist das bei Markus John als Kasimir zu erleben. Ihm kommen treffende Kommentare flink über die Zunge, was er empfindet, kann er jedoch nicht in Worte fassen. Dieser starke, massige Mann windet sich in hilfloser Verzweiflung um das Gerüst der Achterbahn, er setzt an zu entschiedenen Gesten, um dann seine Hände kraftlos herunterfallen zu lassen, und er verdreht und verbiegt sich so, als wolle er in sich selbst hineinkriechen. Er wirkt jedoch auch bedrohlich, und so verwundert es nicht, dass er schließlich gewalttätig wird und Karoline beinahe umbringt.

Kasimirs Aussage über seinen Wertverlust durch Arbeitslosigkeit hält Karoline anfänglich entgegen, dass eine Frau von Wert in einem solchen Fall um so fester zu ihrem Mann halte. Als Kasimir aber provozierend fragt, ob Karoline denn eine Frau von Wert sei, zieht sie sich verletzt zurück.

Er hat das nur so hingesagt weil es gerade passt, und vielleicht war Karoline ohnehin nicht wirklich bereit, Kasimirs Sorgen mit ihm zu teilen. Die Entfremdung zwischen den Beiden jedenfalls wächst unaufhaltsam.

Auch Karoline füllt die Leere nach den zu schnell ausgesprochenen Worten durch Verlegenheitsgesten aus, aber sie kapselt sich nicht ab. Angelika Richters Karoline ist entschlossen, ihre Zeit zu nutzen. Sie scheint immerzu zu schnuppern, um keine Gelegenheit für ein bisschen Glück vorübergehen zu lassen, und sie genießt das Amüsement auf dem Jahrmarkt und freut sich über Begegnungen, über die Gespräche mit dem einfühlsamen Schürzinger und die Spendierfreude des reichen Herrn Rauch (Michael Wittenborn).

Rauch und der norddeutsche Fabrikant Speer (Felix Vörtler) nutzen den Platz hinter der Achterbahn, um dort zu pinkeln. Während Speer sich in Windeseile zusäuft, gebärdet sich Kommerzienrat Rauch wie der Herr des Jahrmarkts und packt die Gelegenheit beim Schopf, eine junge Frau abzuschleppen, wobei er sich auch deshalb als Sieger fühlen kann, weil einer seiner Angestellten in diese Frau verliebt ist.

Das Auto auf der Bühne steht sowohl für den Wagen, den Kasimir nun nicht mehr fahren darf, als auch für Rauchs Luxuslimousine. Das erotische Abenteuer des Herrn Rauch kann jedoch nicht stattfinden, da dieser erfreulicherweise mit einem Herzinfarkt bestraft wird, sodass nun Eugen Schürzinger wieder freie Bahn bei Karoline hat.

Der Zuschneider Schürzinger, häufig als Opportunist interpretiert, ist in Simons’ Inszenierung, verkörpert durch Jan-Peter Kampwirth, eine liebenswerte Erscheinung. Wenn er Rauch, seinen Chef, übereifrig winkend grüßt, zeigt er damit weniger devote Anbiederung und mehr Stolz auf seine Arbeit und die irrtümliche Überzeugung, dass in der Führungsetage jeder Fabrikarbeiter bekannt und geschätzt sein müsse.

Kampwirths Schürzinger ist ein schüchterner Mensch, aber kein Feigling. Er greift entschlossen ein und beschützt Karoline in einer bedrohlichen Situation. Er ist außerdem ein Mann, der in die ansonsten heile Macho-Welt des Stücks nicht hineinpasst. Er hindert Rauch nicht daran, mit Karoline wegzufahren, denn für Schürzinger ist eine Frau nicht ein Besitz, um den Männer kämpfen, sondern eine Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen muss.

Ein ganz anderes Kaliber ist der Merkl Franz (Carlo Ljubek), ein hübscher, smarter Bursche und ein Krimineller, der rücksichtslos seine eigenen Interessen verfolgt und seiner Freundin Erna aufs Maul haut, wenn sie nicht pariert. Eigentlich ist der Franz ein armer Kerl, auf der Schattenseite des Lebens geboren, einer, dem niemand geholfen hat, der nun seinen eigenen Weg geht, der ihn schließlich ins Gefängnis führt.

In Simons’ Inszenierung bleiben alle agierenden Personen auf Distanz, aber alle entwickeln sich von seltsam fremden Erscheinungen zu Menschen, deren Lebensweisen und Denkstrukturen verständlich werden.

Lina Beckmann als Erna wirkt anfänglich dümmlich und plump mit angedeutetem Sprachfehler. Erna hat es auf Kasimir abgesehen und schmiert sich allzu offensichtlich an ihn heran. Aber dann gewinnt diese scheinbar unattraktive Frau an Ausstrahlung, offenbart eine empfindsame Seele und eigenständiges Denken. Sie träumt von einer besseren Welt, ist eine Revolutionärin, auch wenn sie das nur in ungeschickten Formulierungen äußern kann, und Erna ist auch eine Kämpferin, wie sie handgreiflich beweist, als Karoline versucht, Kasimir zurückzuerobern. Lina Beckmann gelingt eine großartige schauspielerische Leistung mit ihrer subtilen, vielschichtigen Verkörperung dieser Bühnenfigur.

Am Ende singen Erna und Kasimir: „Jedes Jahr kommt der Frühling/ Ist der Winter vorbei/ Nur der Mensch hat alleinig/ Einen einzigen Mai.“

Dieses Lied ist einer der wenigen Musikbeiträge, die nach Horváths Vorgaben in die Inszenierung eingeflossen sind. Paul Koek hat eine eigene Musik komponiert im Stil des Pop und Rock der 80er Jahre.

Die Musiker sitzen auf der Bühne in schwarzen Anzügen, schwarz maskiert und mit weißen Perücken, die wie Zuckerwatte aussehen. Sie begleiten das Stück musikalisch, setzen manchmal auch lautstarke Akzente, aber nicht die Musik, sondern die Schauspielerinnen und Schauspieler bestimmen das Tempo und den Rhythmus der Vorstellung.

„Kasimir und Karoline“ vom Schauspiel Köln in Koproduktion mit dem NT Gent und De Veenfabrik war eine würdevolle Eröffnung des Theatertreffens, Kunst die nicht leicht zu konsumieren ist, sondern auch vom Publikum höchste Konzentration fordert.

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