Exterritoriales Gebiet Wohnungsgenossenschaft – Der Wohnungsbau-Verein Neukölln will Wohnhäuser abreißen, während Flüchtlinge in Notquartieren hausen

Die Realität ist völlig anders, und das ganz legal. In Artikel 27 des Genossenschaftsgesetzes heißt es: »Der Vorstand hat die Genossenschaft unter eigener Verantwortung zu leiten«. Er allein entscheidet über Planungen, Geschäfte, den Bau von Wohnungen und über die Nutzungsentgelte (die Mieten). Dabei ist er völlig unabhängig. Weder der Aufsichtsrat noch die Vertreterversammlung dürfen ihm Vorschriften machen. Die Basis hat nichts zu sagen. Früher stand im Genossenschaftsgesetz, der Vorstand habe geschäftspolitische Weisungen der Generalversammlung auszuführen. Das wurde 1973 in einer »Reform« gestrichen. Zu welchen politischen und sozialen Folgen die Entscheidung der Vorstände führen kann, beweist der Wohnungsbau-Verein Neukölln eG (WBV).
Der Vorstand des WBV plant, in der Heidelberger Straße 15-18 Wohnhäuser mit 76 Wohnungen abzureißen und an ihrer Stelle neue Häuser mit 90 Wohnungen zu bauen. Die bestehenden Häuser wurden 1960 mit Fördermitteln des Senats erbaut. Die Kaltmiete beträgt jetzt 4,23 Euro/qm. In den neuen Häusern wird sie mindestens bei 8,50 Euro/qm liegen. Zu diesem Plan wurden weder die Mieter der Heidelberger Straße noch die Vertreterversammlung gefragt. Im Gegenteil: im September 2014 zeigte das Titelblatt des Mitgliederjournals schöne neue Häuser in der Heidelberger Straße. In der vorausgegangenen Vertreterversammlung im Juni stand das Projekt nicht auf der Tagesordnung. Im Juli 2014 bequemten sich die Vorstände Günter Jagdmann und Falko Rügler endlich zu einer Informationsveranstaltung mit den Baugenossen der Heidelberger Straße. Dort wurden ihnen Listen für einen »Wohnungswunsch« vorgelegt, um sie zum Ausziehen zu bewegen. Wohnungen in den neuen Häusern wurden ihnen nicht angeboten, denn »die können Sie sowieso nicht bezahlen«, wie der Vorstand meinte. Unter den Mietern erhob sich Widerspruch, aber mit Versprechungen und psychischem Druck gelang es dem Vorstand und dem Verwalter Martin Jansen, die meisten Mieter herauszugraulen. Mittlerweile stehen nach Auskunft des Neuköllner Bezirksstadtrats für Bauwesen, Thomas Blesing (SPD), 66 Wohnungen leer. Ihren Widerstand artikulieren die Baugenossen in Protestaktionen und Beschwerden beim Vorstand. Der bleibt hart und sitzt den Konflikt aus. Die noch verbleibenden Mieter lehnen es ab auszuziehen. Sie bestehen auf ihrem in der Satzung verbrieften Dauerwohnrecht. Ihre Häuser sind solide gebaut und sanierungsfähig. Die Vernachlässigung der Wohnungen habe der Vorstand zu verantworten. Wer 18 Millionen für einen Neubau habe, habe auch Geld für die Sanierung. Juristische Auseinandersetzungen sind zu erwarten, wenn Kündigungen ausgesprochen werden sollten.

So weit ging alles seinen in Wohnungsgenossenschaften »gewohnten« Gang. Gleichzeitig verschärfte sich die »Flüchtlingskrise«. Allein in Berlin kamen 85 000 Flüchtlinge an. 8000 hausen in Turnhallen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. In den Hangars und im Vorfeld des Flughafens Tempelhof sollen 7000 Menschen untergebracht werden. Unter ihnen sind Hunderte junge Familien mit kleinen Kindern, die Wärme, ein Bad und warmes Wasser brauchen. Und in der Heidelberger Straße stehen Wohnungen leer, die mit Heizung, Strom, Gas und Wasser versorgt sind.  Beistand und Solidarität tun not. Jede freie Wohnung wird gebraucht. 

In dieser Situation forderte die Initiative »Genossenschaft von unten«, bestehend aus Mitgliedern Berliner Wohnungsgenossenschaften, den Vorstand des WBV in einem Offenen Brief auf, auf den Abriss der Häuser zu verzichten und in die leeren Wohnungen Flüchtlinge aufzunehmen. Der Vorstand antwortete nicht. Vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), vom Senator für Gesundheit und Soziales, Mario Czaja (CDU), und von der Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) verlangten die Aktivisten einzugreifen: keine Abriss- und keine Baugenehmigung zu erteilen und auf den Genossenschaftsvorstand einzuwirken, seinen Plan aufzugeben und Flüchtlinge aufzunehmen. In der Bürgerversammlung im Flughafen Tempelhof am 21. Januar fand das breite Zustimmung.

Doch die Behörden urteilen ganz anders. Auf die Anfrage der Bezirksverordneten Marlis Fuhrmann (Die Linke) antwortete der Neuköllner Baustadtrat Blesing (SPD): »Der private Eigentümer entscheidet immer selbständig über die Nutzung seiner Flächen und Objekte. Das Bezirksamt hat keinerlei Eingriffsmöglichkeiten. Das Bezirksamt führt keinerlei Verhandlungen mit der Wohnungsbaugenossenschaft über die Unterbringung von Flüchtlingen.«

Das Ersuchen an den Regierenden Bürgermeister beantwortete der Staatssekretär für Flüchtlingsfragen, Günter Glietsch (CDU): »Zum Sachstand der Planungen habe ich vom Bezirksamt Neukölln erfahren, dass dort ein Neubau mit mehr Wohnfläche als im bestehenden Gebäude geplant ist und dass sowohl der Abrissantrag als auch die Baugenehmigung bereits genehmigt worden sind. Weder den Bezirken noch dem Senat ist es möglich, dem Verfügungsberechtigten einer Immobilie deren Nutzung als Flüchtlingsunterkunft vorzuschreiben.«
Der Vorstand braucht gar nichts mehr zu tun. Das Bezirksamt hat ganze Arbeit geleistet. Die Bürger können reden, was sie wollen.

Aufmerken lässt die Bemerkung, dass ein Neubau mit mehr Wohnfläche entsteht. Dem Senat geht es nicht um die Erhaltung preisgünstigen Wohnraums, sondern um mehr Wohnfläche, egal, was sie kostet. Neue Wohnungen schmücken die Statistik. Doch der Mietspiegel steigt. Und warum kann der Senat nichts machen? Weil die Häuser »Privateigentum« sind. Was die Baugenossen als kollektives Eigentum zusammengespart haben, ist nach bürgerlichem Recht privates Eigentum und soll im Falle des WBV jeder solidarischen Verpflichtung entzogen werden. Wer verfügt darüber? Der Vorstand, der die Genossenschaft »unter eigener Verantwortung« leitet. Die Baugenossen hingegen werden aus ihren Wohnungen gedrängt, wenn der Vorstand ein Prestigeobjekt »in Zentrumsnähe« und nicht in Zehlendorf braucht. Vorstände der Genossenschaften tun sich etwas darauf zugute, dass sie sich an den Mietenbündnissen der Bezirke beteiligen, freilich unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit vom Staat. Wenn es ernst wird mit Bündnissen wie zur Hilfe für Flüchtlinge, bleibt die Genossenschaft eine geschlossene Gesellschaft.

Vor dem Privateigentum kapituliert auch der Sozialstadtrat von Neukölln, Bernd Szczepanski (Grüne). Er würde es sich ja wünschen, Flüchtlinge unterbringen zu können, aber die Entscheidung sei nach geltendem Recht gefallen, erklärte er der Initiative »Genossenschaft von unten«. Wir lebten in einem Rechtsstaat und es sei Pflicht des Stadtrats, nach dem geltenden Recht zu handeln.

Die Mitglieder der Initiative wollen sich mit der Entscheidung nicht abfinden. Sie verlangen von Michael Müller und von Franziska Giffey eine politische Entscheidung. In einem Brief an Müller rücken sie das Bild der »privatrechtlichen« Genossenschaft zurecht:

»Wir halten es für untragbar, dass Wohnungsgenossenschaften Inseln der Rücksichtslosigkeit und der Missachtung jeglicher humanitärer und kommunalpolitischer Belange sein dürfen. Darauf dürften Mandatsträger politischer Parteien keine Rücksicht nehmen.« Es könnten Auswege gefunden werden, die freilich den Willen zu politischen Entscheidungen voraussetzen. Die getroffene Entscheidung diene den Interessen der Baulobby, aber nicht den Interessen der Baugenossen, der Wohnungslosen und der Flüchtlinge in dieser Stadt. Die Stadtteilinitiative »Karla Pappel« und die Initiative »Genossenschaft von unten« fordern in einer Presseerklärung von der Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, die Baugenehmigung zurückzunehmen. Der Senat solle die leerstehenden Wohnungen beschlagnahmen und sie im Einvernehmen mit dem Vorstand des WBV an Flüchtlinge, Wohnungslose und andere Bedürftige vermieten. Selbstverständlich sollten verdrängte Baugenossen der Heidelberger Straße in ihre Wohnungen zurückkehren können. Demokratische Formen des Zusammenlebens könnten gepflegt werden.

Der Fall schlägt auch im Parlament Wellen. Die Abgeordnete Katrin Lompscher (Die Linke) hat seine Behandlung im Ausschuss für Bauen, Wohnen und Verkehr des Berliner Abgeordnetenhauses beantragt. Zu einer Anhörung sollen der Vorstand des WBV sowie andere »Pappenheimer« geladen werden, die ebenfalls Wohnungen abreißen wollen (die Degewo und die Deutsche Wohnen). 

Aber sind denn neue Wohnungen nicht gut? Sicherlich. Es gab ja auch eine Alternative, über die nicht mehr gesprochen wird. Unaufgeklärt ist die Frage, wie der Vorstand des WBV mit einem 19 000 Quadratmeter großen Grundstück in Zehlendorf verfuhr, das er im Jahre 2007 von der Gärtnerei Rothe für 5,1 Millionen Euro kaufte. 2009 wurde ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, den das Architekturbüro Blumers gewann. Ohne Erklärung gegenüber den Mitgliedern verkaufte der Vorstand das Grundstück an die Firma Projekt Immobilien. Über den Preis gibt er keine Auskunft. Am Projekt für die Heidelberger Straße verdiente Blumers noch einmal gutes Geld. Wer prüft, wer an dem Grundstücksgeschäft profitiert hat und welche Geschäftsbeziehungen zwischen  den  Beteiligten bestehen? Laut Genossenschaftsgesetz überwacht der Aufsichtsrat den Vorstand. Im WBV aber beschließt er laut Satzung gemeinsam mit dem Vorstand das Wohnungsbauprogramm. Was wird dabei herauskommen, wenn sich der Aufsichtsrat selbst kontrolliert?

Das generelle Problem der Genossenschaften bleibt: Ein Vorstand kann mit seinen Beschlüssen völlig an den Interessen der Mitglieder und der Allgemeinheit vorbei regieren. Eine Lösung für die Überwindung der Abkapselung der Genossenschaften und für die Abschaffung der Willkür der Vorstände sehen die Mitglieder der Initiative »Genossenschaft von unten« nur in der Änderung des Genossenschaftsgesetzes. Das Recht der Generalversammlung muss wiederhergestellt werden, Beschlüsse zu fassen, die für den Vorstand verbindlich sind. Das stärkt die Verantwortung der Mitglieder für die Geschicke ihrer Genossenschaft und kann Irrtümer vermeiden helfen.

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